Die Stimme des Waldes
Von Baumgeheimnissen und dem Leben mit der Natur
Der Naturmensch, Bergsteiger und Künstler Mauro Corona schildert hier seine Beziehung zum Baum. Aufgewachsen in den Wäldern seines Heimatdorfes Erto im oberen Friaul, erfuhr er ihre Charakteristiken. Ebenso wie die Menschen besitzen Bäume individuelle...
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Produktinformationen zu „Die Stimme des Waldes “
Der Naturmensch, Bergsteiger und Künstler Mauro Corona schildert hier seine Beziehung zum Baum. Aufgewachsen in den Wäldern seines Heimatdorfes Erto im oberen Friaul, erfuhr er ihre Charakteristiken. Ebenso wie die Menschen besitzen Bäume individuelle Persönlichkeiten mit guten und schlechten Eigenschaften. Mit seinem Text und den Zeichnungen nimmt uns Corona mit auf eine Reise zu den Quellen alter Handwerkskunst und zu direkter Naturbeobachtung, die untrennbar verbunden ist mit Selbsterkenntnis.
Klappentext zu „Die Stimme des Waldes “
In Cyberspace-Zeiten neigen wir dazu, die Ursprünge des Lebens zu vergessen, die Stimme der Natur und des Waldes nicht mehr zu hören. Von Gärtnereien und Bauernhöfen sind wir meist weit entfernt. Lebensmittel kennen wir nur vom Supermarkt, Strom kommt aus der Steckdose, und leider ist es kein Witz, dass viele Kinder inzwischen meinen, Kühe seien lila.Mauro Corona hat sein Leben in den Bergen des Friaul, im Wald von Erto zugebracht. Dort ist der fünfzigjährige Bildhauer und Künstler aufgewachsen, dort hat er als Holzfäller gearbeitet, dort hat er die Sprache der Bäume erlernt und ist so zu einem überragenden Kenner seines "Rohmaterials" geworden. Seit seiner Jugend durchstreift Mauro Corona die Wälder seiner Heimat, um mit den Bäumen zu reden. Und sie erzählen ihm von ihrem Leben. Die fünfhundertjährige Weißtanne, die über Wohl und Wehe des Tales wacht, die vom Wind gepeitschte schiefe Lärche auf den alpinen Höhen und in den Ebenen der Olivenbaum, der ihn seinen uralten, geheim en Schmerz erahnen lässt. Sie alle sprechen zu ihm mit dem Wispern ihres Laubes, mit der Biegung ihrer Stämme und Zweige, mit der Farbe und dem Geruch ihres Holzes. Alle haben ihm etwas zu sagen. Er versteht ihre Sprache und verwandelt sie in Figuren, deren Bildhaftigkeit dem Menschen verständlicher ist. So wie Mauro Corona in seiner bildhauerischen Tätigkeit die Gestalt des Holzes für uns vernehmlich macht, greift der Schriftsteller Corona zur Feder, um uns zu zeigen, was das enge Zusammenleben mit dem Wald ihn seit Jahrzehnten lehrt: Dass Menschen und Bäume nicht nur miteinander zu tun haben, sondern sich ähnlicher sind, als wir glauben. Nicht von ungefähr betrachtet die Tiefenpsychologie den Wald als Symbol für unser Unbewusstes. Von daher leuchtet ein, dass jeder Baum seinen eigenen Charakter hat, genauso wie jeder Mensch. Mauro Corona stellt uns hier die Gesellschaft des Waldes vor, wie er sie kennen gelernt hat: die edle Weißtanne, deren Bestreben einzig dem Schutz des Waldesu nd
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seiner Bewohner gilt; den hinterhältigen Holunder, der irgendwann im Laufe seines Lebens auf die schiefe Bahn geraten ist und sich von dieser nun nicht mehr abwenden kann; den starken und festen Goldregen, der sein Holz allem leiht, was widerstandsfähig sein muss; den hochmütigen Nussbaum, der seine besondere Position nur dem Zufall verdankt und diese jetzt ausnützt; die Birke, deren tänzerische Geschmeidigkeit sie zur begehrten Schönheit des Waldes macht; und schließlich die Hainbuche, das Alter Ego des Autors, weil nur aus ihrem marmorharten Holz eines der wichtigsten Werkzeuge für die Holzbearbeitung gemacht werden kann: der Hobel. Vor dem Hintergrund dieser Baum-Persönlichkeiten führt uns Mauro Corona durch das ursprüngliche Leben der Menschen seines Heimatortes Erto. Mit zahlreichen Skizzen zeigt er uns, welchen Dingen des täglichen Gebrauchs die Bäume ihren Körper liehen und welches Holz wozu verwendet wurde.
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Lese-Probe zu „Die Stimme des Waldes “
"Wir sind Bäume, und die Bäume sind Menschen."Den Pyromanen, damit sie nachdenken. Einführung
Die folgenden Seiten sind weder als botanische Abhandlung gedacht noch ist das darin Gesagte als endgültige Wahrheit zu verstehen. Es sind vielmehr meine ganz persönlichen Wahrheiten, Ausdruck meines nunmehr vierzigjährigen Lebens in und mit dem Wald sowie meiner Unterhaltungen mit den Pflanzen. Diese lange Zeit hat mich gelehrt, dass alles in der Natur seinen eigenen Charakter hat, seine Persönlichkeit, seine Sprache, sein Schicksal. Wenn man sich der Schöpfung mit geöffneten Augen und Ohren widmet, wird man schließlich ihre Stimme vernehmen. Ein sanftes Gebirgsrinnsal schwillt nach tagelangem Regen zum reißenden Wildbach an. Das klare Wasser färbt sich lehmbraun und droht uns mit lauter, tosender Stimme. Es richtet sein Wort an uns, mahnt uns zur Achtsamkeit, warnt uns vor allen waghalsigen Versuchen, es überqueren zu wollen. Die Bäume hingegen stehen still, doch sind auch sie ganz eigene Charaktere, was sich auf vielerlei Weise ausdrückt: in der Schönheit ihres Wuchses, dem Rascheln des Laubes oder der Natur ihres Holzes. Und darin, wie sie auf die Berührung verschiedener Menschen reagieren. In den folgenden Geschichten geht es um Bäume und Menschen. Manchmal wird gut von ihnen gesprochen, manchmal schlecht. Wer seine Kindheit im Schatten einer Linde verbracht hat, die im Hof seines Geburtshauses wuchs, wird mir freilich nicht unbedingt zustimmen, wenn ich die Linde rundheraus ablehne. Unsere persönlichen Neigungen und Ansichten (die ich im Übrigen respektiere) sagen nichts über den wirklichen Wert einer Sache aus. Und für mich bleibt die Linde ein Baum, der zwar aller Augen auf sich zieht, im Innersten aber schwach und von geringem Wert ist. Auch ich mag bestimmte Pflanzen besonders, andere weniger, und mit wieder anderen will ich überhaupt nichts zu tun haben. Im Leben verhält sich das ja genauso. Mit Freunden, Arbeitskollegen, Frauen, Menschen überhaupt macht
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man ja ähnliche Erfahrungen. Die Sympathie, die wir einem Baum entgegenbringen, die Bedeutung, die wir ihm beimessen, ist etwas zutiefst Persönliches. Sie entsteht aus einer gewissen Komplizenschaft, einer unbewussten Verwandtschaft der Charaktere.
Daher verspürt ein arglistiger Mensch, fast ohne sich dessen bewusst zu werden, vielleicht eine gewisse Neigung zum Holunder, ein gütiger Mensch fühlt sich womöglich von der Kiefer angezogen, der Schlichte von der Buche und so weiter.
Doch trifft die Bäume keine Schuld. Ihre schlechten Charakterzüge sind fest mit ihrem Standort verbunden, wenn sie nicht gerade von uns brutal entwurzelt werden. Der Mensch hingegen verbreitet seine Niederträchtigkeit aus freien Stücken über die ganze Erde. Mauro Corona
Erto, das steile Dorf
Ich möchte Ihnen heute vom Wald von Erto erzählen. Er sah mich wachsen, so wie ich ihn wachsen sah. Dieser Wald hatte es nie so einfach wie seine glücklichen Brüder, die auf sonnenbeschienenen, sanften Hängen wachsen. Der Wald von Erto steht am Steilhang, an einem "erto" eben. Auf die simpelsten Bequemlichkeiten musste er verzichten, und alles, was ihm zu Eigen ist, hat er sich mühevoll erworben - wie die Ertaner, seine Bewohner.
Die Ertaner sind zäh. Über Jahrhunderte hinweg vom Unglück verfolgt, haben sie doch gelernt, nie aufzugeben. Sie haben ihr Brot immer ehrlich erworben und ihre Tragödien still ertragen - ohne lautes Jammern. Die Ertaner sind besonnene Menschen, denn - wie der Wald - so mussten auch sie sich fest in diesen Steilhängen verwurzeln. Wer sich auf solchem Boden halten will, darf innerlich nicht wanken.
Mir war das Glück beschieden, einen Großvater zu haben, der mit Holz arbeitete. Er machte Brennholz aus den Baumstämmen und tausenderlei Dinge, welche die Großmutter und meine Eltern in den Dörfern der Ebene verkauften. "Wir waren Kinder der Berge und kannten nur wenige Freuden und Spiele", schreibt die ligurische Schriftstellerin Renata Viganò. Wie alle armen Kinder hielten wir uns häufig bei den Großeltern auf. Auch ich wurde als Kind meinem Großvater anvertraut: einem 1879 geborenen, schweigsamen Mann von hoher Statur. Sein Name war Felice Corona.
Von Beruf war er Holzschnitzer. Er stellte Kochlöffel her, Schalen, Esslöffel, Gabeln und Siebe fürs Mehl. Den Bäckern lieferte er die Schaufeln aus Ahornholz, mit denen sie ihre Brotlaibe aus dem Ofen holten - ungeheuer lange, gut eine Spanne breite Stangen, glatt und weiß, von jener hellen, schlichten Schönheit, die so unschuldig wirkt. Weiß gibt uns immer das Gefühl von Reinheit, darum eignet sich für den Umgang mit Brot kein Holz so sehr wie das des Ahorns.
Das Gesicht meines Großvaters erinnerte an Kaiser Franz Josef.
Ich lief ihm nach, weil ich von ihm lernen wollte. Ich bemühte mich, den Wald und die Sprache der Bäume kennen zu lernen.
Auf diese Weise entdeckte ich, dass die großen Wälder Städten gleichen, während die kleinen Dörfer und Weiler Bühnen des Lebens sind, auf denen die Menschen ihre Tragödien, ihre Freude und ihren Schmerz ausleben. Die Bäume sind wie wir, und wir sind wie die Bäume. Jeder hat seinen eigenen Charakter, seinen Körperbau, sein Wohl und Wehe. Wenn wir die Pflanzen beobachten, werden wir schließlich eine entdecken, in der wir uns wiedererkennen. Denn auch die Pflanzen besitzen eine Persönlichkeit, ihre eigene Art zu leben, sie haben - wie wir - Bildung und Kultur. So erkennt der gütige, großzügige Mensch sich in der Zirbelkiefer wieder, der dickköpfige in der Hainbuche, der hochmütige im Walnussbaum, der elegante in der Birke und so fort. Doch wenn uns nach solchen Einsichten verlangt, müssen wir zuerst die Sprache des Waldes lernen, um in seinem Buch lesen zu können. Ich kann Ihnen versichern, dass dieses Studium so manche überraschende Entdeckung bereithält.
Während unserer Streifzüge durch den Wald stellte mein Großvater mir eines Tages die Lärche vor. In glatte Dauben geschnitten, diente sie zur Herstellung des baríl, des kleinen ovalen Fasses, in dem man den Schnittern auf den Bergweiden Wasser brachte.
Er betrachtete aufmerksam den Stamm und sagte zu mir: "Der scheint gerade zu sein." Woraufhin ich, das Kind, den Stamm für gerade ansah. Doch dann half er mir, meine Beobachtungsgabe zu schärfen. Weiter oben, schon fast am Wipfel, verdrehte die Lärche sich nämlich zu einer Spirale. "Weißt du, warum das so ist?", fragte er mich. "Sie wurde misshandelt, solange sie noch klein war. Der Wind hat sie verdreht, als sie noch ein Sprössling war, und jetzt verlaufen ihre Fasern von der Wurzel bis zum Wipfel nicht mehr gerade. Wir können sie also nicht fällen: Für ein baríl brauchen wir vollkommen gerade Bretter."
In diesem Moment sprach die Lärche zu ihm: "Schlag mich nicht, alter Mann. Ich wurde als Kind misshandelt und kann deinen Zwecken nicht mehr dienen. Lass mich leben! Wenn du mich schlägst, bin ich nur noch für das Feuer gut."
Auf diese Weise lernte ich die Sprache der Bäume, Sommer um Sommer, Jahr um Jahr. Ich lief hinter meinem Großvater her und sah zuerst nur mit seinen Augen. Stück für Stück aber wurde mir klar, wie ich die meinen gebrauchen musste. All dies geschah ganz selbstverständlich und natürlich. Die Besuche bei Lärche, Hainbuche, Ahorn, Goldregen und den vielen anderen Bäumen waren eine Hauptbeschäftigung meiner Kindheit.
Denn jeder Baum hat eine Stimme, einen Charakter und eine Verwendung, zu der er am besten taugt.
Auch meine Großmutter Maria - damals waren die Namen noch einfach und geradlinig (Maria, Giuseppe, Pietro) wie die der Bäume (Lärche, Tanne, Kiefer) - war eine Waldfrau. Doch ihre Beziehung zu den Bäumen war praktischer Natur und beschränkte sich auf das Wesentliche. Ein Stück grünes Holz, das sich nicht zum Verfeuern eignete, erkannte sie sogar im Dunkeln, indem sie es in der Hand wog.
Sie wusste, dass man das Laub des Walnussbaumes den Kühen nicht als Streu aufschütten durfte, da ihnen sonst sofort die Milch ausblieb.
Ihr Wissen war praktischer Art. Es ging dabei vor allem darum, Schäden zu vermeiden. Wie alle Frauen hatte sie ein Gespür für den Kern der Dinge.
Während ihres irdischen Lebens als Ehefrau und Mutter hatte das Schicksal sie schwer geprüft. Von ihren sechs Söhnen waren vier bereits in jungen Jahren am Spanischen Fieber gestorben.
Es war nicht einfach für sie, an der Seite meines Großvaters zu leben, dessen schweigsame Güte häufig mit forderndem Starrsinn einherging.
Einmal, und nur dieses eine Mal, brachte er ihr (ich weiß nicht warum, vielleicht aus Eifersucht) eine Narbe bei, indem er ihr einen glühenden Span übers Gesicht zog. Dieses Brandmal unter dem linken Auge trug sie noch, als sie mit neunzig Jahren starb.
Sie ging selten in den Wald, war aber durchaus fähig, in ihrer Kiepe schwere Lasten zu tragen. Von der Hainbuche lud sie nur wenige Stücke auf, von Erle und Linde aber, den leichteren Hölzern, nahm sie mehr mit nach Hause.
Aus der wilden Linde dagegen schnitzte man die Polentateller, da sie leicht wie Papier ist.
Eine Kiepe ist ein konisch geformter Korb von etwa einem Meter Höhe. Der obere Durchmesser beträgt ungefähr 50 Zentimeter.
Die Stäbe, den Boden und den oberen Ring macht man aus Ahornholz, die Flechtstreifen hingegen aus Haselnuss und die Trageriemen aus dem Holz des Schneeballs. Wie einen Rucksack trägt man sie auf dem Rücken. In unserem Dorf sind die Letzten, die die alte Kunst des Kiepenmachens noch verstehen, Rico Dorizzi und der "Künstler" unter den Holzfällern, Carle De Furlan.
Doch wollen wir ein anderes Holzgenie nicht vergessen, das in Erto die Ära des Plastiks überlebt hat. Er heißt Cice Mela und ist Spezialist für Koch- und Esslöffel aus Buchenholz. Er schnitzt sie in den raffiniertesten Formen, und die Löffelwölbung wird bei ihm nie dicker als einige Millimeter, was an ein Wunder grenzt. Ihm gebührt daher der höchste Preis, denn er ist wahrhaft eingedrungen in die Seele der Buche.
Mein Großvater sprach mit den Bäumen. Er achtete sie wegen der Dinge, die sie ihm aus ihrem Holz zu schnitzen erlaubten.
Er bat mich, die Hände um den Baum zu legen, wenn er die Rinde einschnitt, um neue Reiser zu pfropfen. Er war davon überzeugt, wie ich es im Übrigen heute noch bin, dass der Baum in diesem Augenblick Angst bekam, zu zittern begann und ein fiebriger Schauer ihn überlief. Daher benutzte er meine Hände, um den Baum zu beruhigen und zu schützen. Ich sollte ihm helfen, den Schmerz zu ertragen, den der Schnitt ihm verursachte.
Bis vor wenigen Jahren war die Beziehung der Waldbewohner zu den Bäumen noch von gegenseitigem Respekt geprägt.
Natürlich waren nicht alle Holzfäller so sensibel wie mein Großvater. Einige sprachen mit den Bäumen nur das Nötigste, andere dagegen erzählten ihnen so viel wie möglich.
Sehr viel habe ich von dem alten Jäger Ottavio gelernt, von Checco De Costantina, der bei der Tragödie am Vajont gestorben ist, und von Carle De Furlan.
Checco war ein Geschöpf des Waldes. Er sah aus wie ein Gespenst - winzig klein, mit breiten Schultern und einem ellenlangen Bart. Checco war ein erfahrener Jäger, Bergsteiger und Waldgänger, daher liebte er die Natur wie keiner sonst. Während seines langen Lebens hat er vermutlich öfter im Wald und in Höhlen geschlafen, als sich unter einem Dach zur Ruhe zu legen. In dieser Zeit hatte er einen feinen Instinkt entwickelt. Er witterte die Gefahr, und wenn er ging, bewegte er sich ruckartig und gleichzeitig behutsam wie eine Gämse.
Das letzte Jahr seines Lebens verbrachte er in vollkommenem Schweigen. Die Welt durchstreifte er nur noch nachts.
Die Details der Natur, die vielen winzigen Einzelheiten, interessierten ihn nicht mehr. Er wollte nur noch die Silhouetten sehen. "Die Umrisse von Bergen und Bäumen in der Nacht sind so schön und geheimnisvoll", hatte er mir einmal anvertraut.
Checco hatte oft zu mir gesagt: "Du kannst jetzt nicht hinaufgehen. Der Berg will dich nicht."
Und das war die Wahrheit. Der Berg zeigte uns das zynisch blaugraue Gesicht des unmittelbar bevorstehenden Gewitters. Und seine Flanken legten beredtes Zeugnis ab von seiner derzeitigen schlechten Laune.
"Er schaut finster! Jetzt will er dich nicht." So sprach Checco De Costantina.
Wie oft hat er mich auf eine Gefahr, auf eine bevorstehende Schwierigkeit hingewiesen. Er wollte mir helfen, meinen Selbsterhaltungstrieb auszubilden, indem er mir beibrachte, wie ich den Berg zu betrachten hatte. Er lehrte mich, seine Stimme zu hören.
Ich erinnere mich auch noch gut an Sepp De Paol, ein anderes Opfer, das in den Wassern des Vajont den Tod fand. Bevor er ein Stück Holz auf der Drechselbank einspannte, um daraus einen Suppenteller oder einen Mörser zu machen, nahm er es in die Hand, betrachtete es, drehte und wendete es, um es dann wieder hinzulegen. Er zündete sich eine Zigarre an, griff wieder nach dem Holzstück und strich zärtlich mit der Hand darüber. Nicht dass er damit nichts anzufangen gewusst hätte! Was daraus werden sollte und wie er es anstellen würde, war ihm lange vorher klar. Er wollte nur mehr über sein Werkstück wissen, es besser verstehen. Zwischen ihm und dem Holz fand ein stiller Dialog statt. Der schreckliche Baummensch aus Val Bozzía
Sepp De Paol arbeitete nicht einfach drauflos. Er versuchte, die Vorzüge des Werkstücks zu verstehen, seine guten Seiten zu erkennen. Genauso müsste man es auch mit den Menschen machen. Denn tatsächlich gab ihm das Holz seine Aufmerksamkeit zurück, indem es sich so gut wie möglich seinem Vorhaben fügte.
Sepp schnitzte alle möglichen Dinge, doch seine Geschicklichkeit zeigte sich vor allem bei einem: Er wusste exzellente Rechen zu fertigen. Seine Rechen waren die leichtesten, die widerstandsfähigsten und die schönsten. Hin und wieder lud er enorme Bündel von Rechen auf das Dach des Autobusses, um sie in Alpago zu verkaufen. Er war ein gutmütiger Riese mit dem Herz eines Kindes. Wenige Tage, bevor die Wasser des Staudammes ihn mit sich rissen, hatte er den Angelschein gemacht, um im See Fische fangen zu dürfen. Eines Morgens holte er tatsächlich eine Forelle heraus. Er machte sie vom Haken los, brachte es aber nicht übers Herz, sie zu töten und in den Korb zu legen. Ganz zart und vorsichtig hielt er sie zwischen seinen großen Händen und legte sie mit den Worten ins Wasser zurück: "Verschwinde, du Unglückswurm. Schwimm dahin zurück, wo du hergekommen bist."
Auch der große Holzbildhauermeister unserer Wälder, Augusto Murer, mein unvergessener Lehrer, verfügte über eine eigene, geheime Sprache, wenn er mit dem Holz Kontakt aufnahm. Bevor er an Skulpturen einer gewissen Größe arbeitete, brachte er einen ganzen Tag damit zu, rauchend den vor ihm liegenden Stamm zu studieren. Er ging mehrmals darum herum, betrachtete ihn genau, schnupperte daran und tätschelte ihn.
Die beiden unterhielten sich und gaben sich gegenseitig Ratschläge, um sich das gemeinsame Leben nicht allzu schwer zu machen.
Daher habe ich von Murer nicht nur die Technik gelernt. Er brachte mir auch bei, mich vor der Kraft des Baumes nicht zu fürchten. "Du musst mit ihm sprechen", sagte er mir immer wieder. "Mach ihn zu deinem Freund. Du kannst nicht einfach so über ihn herfallen. Du musst sein Vertrauen gewinnen, und das dauert manchmal tagelang." Diese Lehren habe ich später auch beim Klettern in den Bergen angewandt. Während schwieriger Aufstiege habe ich mit den Felsen gesprochen, und sofort lief alles besser. Augusto Murer kannte sich mit Bäumen aus, vielleicht besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Er ist viel zu früh von uns gegangen, und mit ihm seine unvergleichliche Schöpferkraft.
Auch heute noch, nach fünfzig Jahren Arbeit als Holzfäller, bittet mein Freund Carle De Furlan, ein Fuchs in allem, was den Wald betrifft, jeden Baum, den er schlägt, um Verzeihung: "Entschuldige, mein Mädchen, aber leider muss ich dich fällen." Er betrachtet die Bäume als Frauen, denn wie alle Ertaner hält er alles, was groß, mächtig und geheimnisvoll ist, für weiblich.
In der abgeschlossenen, frauenfeindlichen Kultur des Dorfes wird alles Heilige, Erhabene, aber auch Untreue, Verrat und Unbezähmbarkeit unweigerlich zu etwas Weiblichem erklärt.
Ich kann mich noch gut an all die Füchse und Marder erinnern, welche die Jäger an der Nase herumführten. Wenn sie - endlich erlegt - sich als Männchen herausstellten, fluchte mein Vater trotzdem weiter, als handelte es sich um Weibchen, und belegte sie mit endlosen Tiraden.
Mit Carle verbindet mich bis heute eine tiefe Freundschaft. Früher haben wir alles Mögliche zusammen angestellt und im Val da Diach auch als Holzfäller zusammen gearbeitet.
Copyright © in der Verlagsgruppe Random House
Daher verspürt ein arglistiger Mensch, fast ohne sich dessen bewusst zu werden, vielleicht eine gewisse Neigung zum Holunder, ein gütiger Mensch fühlt sich womöglich von der Kiefer angezogen, der Schlichte von der Buche und so weiter.
Doch trifft die Bäume keine Schuld. Ihre schlechten Charakterzüge sind fest mit ihrem Standort verbunden, wenn sie nicht gerade von uns brutal entwurzelt werden. Der Mensch hingegen verbreitet seine Niederträchtigkeit aus freien Stücken über die ganze Erde. Mauro Corona
Erto, das steile Dorf
Ich möchte Ihnen heute vom Wald von Erto erzählen. Er sah mich wachsen, so wie ich ihn wachsen sah. Dieser Wald hatte es nie so einfach wie seine glücklichen Brüder, die auf sonnenbeschienenen, sanften Hängen wachsen. Der Wald von Erto steht am Steilhang, an einem "erto" eben. Auf die simpelsten Bequemlichkeiten musste er verzichten, und alles, was ihm zu Eigen ist, hat er sich mühevoll erworben - wie die Ertaner, seine Bewohner.
Die Ertaner sind zäh. Über Jahrhunderte hinweg vom Unglück verfolgt, haben sie doch gelernt, nie aufzugeben. Sie haben ihr Brot immer ehrlich erworben und ihre Tragödien still ertragen - ohne lautes Jammern. Die Ertaner sind besonnene Menschen, denn - wie der Wald - so mussten auch sie sich fest in diesen Steilhängen verwurzeln. Wer sich auf solchem Boden halten will, darf innerlich nicht wanken.
Mir war das Glück beschieden, einen Großvater zu haben, der mit Holz arbeitete. Er machte Brennholz aus den Baumstämmen und tausenderlei Dinge, welche die Großmutter und meine Eltern in den Dörfern der Ebene verkauften. "Wir waren Kinder der Berge und kannten nur wenige Freuden und Spiele", schreibt die ligurische Schriftstellerin Renata Viganò. Wie alle armen Kinder hielten wir uns häufig bei den Großeltern auf. Auch ich wurde als Kind meinem Großvater anvertraut: einem 1879 geborenen, schweigsamen Mann von hoher Statur. Sein Name war Felice Corona.
Von Beruf war er Holzschnitzer. Er stellte Kochlöffel her, Schalen, Esslöffel, Gabeln und Siebe fürs Mehl. Den Bäckern lieferte er die Schaufeln aus Ahornholz, mit denen sie ihre Brotlaibe aus dem Ofen holten - ungeheuer lange, gut eine Spanne breite Stangen, glatt und weiß, von jener hellen, schlichten Schönheit, die so unschuldig wirkt. Weiß gibt uns immer das Gefühl von Reinheit, darum eignet sich für den Umgang mit Brot kein Holz so sehr wie das des Ahorns.
Das Gesicht meines Großvaters erinnerte an Kaiser Franz Josef.
Ich lief ihm nach, weil ich von ihm lernen wollte. Ich bemühte mich, den Wald und die Sprache der Bäume kennen zu lernen.
Auf diese Weise entdeckte ich, dass die großen Wälder Städten gleichen, während die kleinen Dörfer und Weiler Bühnen des Lebens sind, auf denen die Menschen ihre Tragödien, ihre Freude und ihren Schmerz ausleben. Die Bäume sind wie wir, und wir sind wie die Bäume. Jeder hat seinen eigenen Charakter, seinen Körperbau, sein Wohl und Wehe. Wenn wir die Pflanzen beobachten, werden wir schließlich eine entdecken, in der wir uns wiedererkennen. Denn auch die Pflanzen besitzen eine Persönlichkeit, ihre eigene Art zu leben, sie haben - wie wir - Bildung und Kultur. So erkennt der gütige, großzügige Mensch sich in der Zirbelkiefer wieder, der dickköpfige in der Hainbuche, der hochmütige im Walnussbaum, der elegante in der Birke und so fort. Doch wenn uns nach solchen Einsichten verlangt, müssen wir zuerst die Sprache des Waldes lernen, um in seinem Buch lesen zu können. Ich kann Ihnen versichern, dass dieses Studium so manche überraschende Entdeckung bereithält.
Während unserer Streifzüge durch den Wald stellte mein Großvater mir eines Tages die Lärche vor. In glatte Dauben geschnitten, diente sie zur Herstellung des baríl, des kleinen ovalen Fasses, in dem man den Schnittern auf den Bergweiden Wasser brachte.
Er betrachtete aufmerksam den Stamm und sagte zu mir: "Der scheint gerade zu sein." Woraufhin ich, das Kind, den Stamm für gerade ansah. Doch dann half er mir, meine Beobachtungsgabe zu schärfen. Weiter oben, schon fast am Wipfel, verdrehte die Lärche sich nämlich zu einer Spirale. "Weißt du, warum das so ist?", fragte er mich. "Sie wurde misshandelt, solange sie noch klein war. Der Wind hat sie verdreht, als sie noch ein Sprössling war, und jetzt verlaufen ihre Fasern von der Wurzel bis zum Wipfel nicht mehr gerade. Wir können sie also nicht fällen: Für ein baríl brauchen wir vollkommen gerade Bretter."
In diesem Moment sprach die Lärche zu ihm: "Schlag mich nicht, alter Mann. Ich wurde als Kind misshandelt und kann deinen Zwecken nicht mehr dienen. Lass mich leben! Wenn du mich schlägst, bin ich nur noch für das Feuer gut."
Auf diese Weise lernte ich die Sprache der Bäume, Sommer um Sommer, Jahr um Jahr. Ich lief hinter meinem Großvater her und sah zuerst nur mit seinen Augen. Stück für Stück aber wurde mir klar, wie ich die meinen gebrauchen musste. All dies geschah ganz selbstverständlich und natürlich. Die Besuche bei Lärche, Hainbuche, Ahorn, Goldregen und den vielen anderen Bäumen waren eine Hauptbeschäftigung meiner Kindheit.
Denn jeder Baum hat eine Stimme, einen Charakter und eine Verwendung, zu der er am besten taugt.
Auch meine Großmutter Maria - damals waren die Namen noch einfach und geradlinig (Maria, Giuseppe, Pietro) wie die der Bäume (Lärche, Tanne, Kiefer) - war eine Waldfrau. Doch ihre Beziehung zu den Bäumen war praktischer Natur und beschränkte sich auf das Wesentliche. Ein Stück grünes Holz, das sich nicht zum Verfeuern eignete, erkannte sie sogar im Dunkeln, indem sie es in der Hand wog.
Sie wusste, dass man das Laub des Walnussbaumes den Kühen nicht als Streu aufschütten durfte, da ihnen sonst sofort die Milch ausblieb.
Ihr Wissen war praktischer Art. Es ging dabei vor allem darum, Schäden zu vermeiden. Wie alle Frauen hatte sie ein Gespür für den Kern der Dinge.
Während ihres irdischen Lebens als Ehefrau und Mutter hatte das Schicksal sie schwer geprüft. Von ihren sechs Söhnen waren vier bereits in jungen Jahren am Spanischen Fieber gestorben.
Es war nicht einfach für sie, an der Seite meines Großvaters zu leben, dessen schweigsame Güte häufig mit forderndem Starrsinn einherging.
Einmal, und nur dieses eine Mal, brachte er ihr (ich weiß nicht warum, vielleicht aus Eifersucht) eine Narbe bei, indem er ihr einen glühenden Span übers Gesicht zog. Dieses Brandmal unter dem linken Auge trug sie noch, als sie mit neunzig Jahren starb.
Sie ging selten in den Wald, war aber durchaus fähig, in ihrer Kiepe schwere Lasten zu tragen. Von der Hainbuche lud sie nur wenige Stücke auf, von Erle und Linde aber, den leichteren Hölzern, nahm sie mehr mit nach Hause.
Aus der wilden Linde dagegen schnitzte man die Polentateller, da sie leicht wie Papier ist.
Eine Kiepe ist ein konisch geformter Korb von etwa einem Meter Höhe. Der obere Durchmesser beträgt ungefähr 50 Zentimeter.
Die Stäbe, den Boden und den oberen Ring macht man aus Ahornholz, die Flechtstreifen hingegen aus Haselnuss und die Trageriemen aus dem Holz des Schneeballs. Wie einen Rucksack trägt man sie auf dem Rücken. In unserem Dorf sind die Letzten, die die alte Kunst des Kiepenmachens noch verstehen, Rico Dorizzi und der "Künstler" unter den Holzfällern, Carle De Furlan.
Doch wollen wir ein anderes Holzgenie nicht vergessen, das in Erto die Ära des Plastiks überlebt hat. Er heißt Cice Mela und ist Spezialist für Koch- und Esslöffel aus Buchenholz. Er schnitzt sie in den raffiniertesten Formen, und die Löffelwölbung wird bei ihm nie dicker als einige Millimeter, was an ein Wunder grenzt. Ihm gebührt daher der höchste Preis, denn er ist wahrhaft eingedrungen in die Seele der Buche.
Mein Großvater sprach mit den Bäumen. Er achtete sie wegen der Dinge, die sie ihm aus ihrem Holz zu schnitzen erlaubten.
Er bat mich, die Hände um den Baum zu legen, wenn er die Rinde einschnitt, um neue Reiser zu pfropfen. Er war davon überzeugt, wie ich es im Übrigen heute noch bin, dass der Baum in diesem Augenblick Angst bekam, zu zittern begann und ein fiebriger Schauer ihn überlief. Daher benutzte er meine Hände, um den Baum zu beruhigen und zu schützen. Ich sollte ihm helfen, den Schmerz zu ertragen, den der Schnitt ihm verursachte.
Bis vor wenigen Jahren war die Beziehung der Waldbewohner zu den Bäumen noch von gegenseitigem Respekt geprägt.
Natürlich waren nicht alle Holzfäller so sensibel wie mein Großvater. Einige sprachen mit den Bäumen nur das Nötigste, andere dagegen erzählten ihnen so viel wie möglich.
Sehr viel habe ich von dem alten Jäger Ottavio gelernt, von Checco De Costantina, der bei der Tragödie am Vajont gestorben ist, und von Carle De Furlan.
Checco war ein Geschöpf des Waldes. Er sah aus wie ein Gespenst - winzig klein, mit breiten Schultern und einem ellenlangen Bart. Checco war ein erfahrener Jäger, Bergsteiger und Waldgänger, daher liebte er die Natur wie keiner sonst. Während seines langen Lebens hat er vermutlich öfter im Wald und in Höhlen geschlafen, als sich unter einem Dach zur Ruhe zu legen. In dieser Zeit hatte er einen feinen Instinkt entwickelt. Er witterte die Gefahr, und wenn er ging, bewegte er sich ruckartig und gleichzeitig behutsam wie eine Gämse.
Das letzte Jahr seines Lebens verbrachte er in vollkommenem Schweigen. Die Welt durchstreifte er nur noch nachts.
Die Details der Natur, die vielen winzigen Einzelheiten, interessierten ihn nicht mehr. Er wollte nur noch die Silhouetten sehen. "Die Umrisse von Bergen und Bäumen in der Nacht sind so schön und geheimnisvoll", hatte er mir einmal anvertraut.
Checco hatte oft zu mir gesagt: "Du kannst jetzt nicht hinaufgehen. Der Berg will dich nicht."
Und das war die Wahrheit. Der Berg zeigte uns das zynisch blaugraue Gesicht des unmittelbar bevorstehenden Gewitters. Und seine Flanken legten beredtes Zeugnis ab von seiner derzeitigen schlechten Laune.
"Er schaut finster! Jetzt will er dich nicht." So sprach Checco De Costantina.
Wie oft hat er mich auf eine Gefahr, auf eine bevorstehende Schwierigkeit hingewiesen. Er wollte mir helfen, meinen Selbsterhaltungstrieb auszubilden, indem er mir beibrachte, wie ich den Berg zu betrachten hatte. Er lehrte mich, seine Stimme zu hören.
Ich erinnere mich auch noch gut an Sepp De Paol, ein anderes Opfer, das in den Wassern des Vajont den Tod fand. Bevor er ein Stück Holz auf der Drechselbank einspannte, um daraus einen Suppenteller oder einen Mörser zu machen, nahm er es in die Hand, betrachtete es, drehte und wendete es, um es dann wieder hinzulegen. Er zündete sich eine Zigarre an, griff wieder nach dem Holzstück und strich zärtlich mit der Hand darüber. Nicht dass er damit nichts anzufangen gewusst hätte! Was daraus werden sollte und wie er es anstellen würde, war ihm lange vorher klar. Er wollte nur mehr über sein Werkstück wissen, es besser verstehen. Zwischen ihm und dem Holz fand ein stiller Dialog statt. Der schreckliche Baummensch aus Val Bozzía
Sepp De Paol arbeitete nicht einfach drauflos. Er versuchte, die Vorzüge des Werkstücks zu verstehen, seine guten Seiten zu erkennen. Genauso müsste man es auch mit den Menschen machen. Denn tatsächlich gab ihm das Holz seine Aufmerksamkeit zurück, indem es sich so gut wie möglich seinem Vorhaben fügte.
Sepp schnitzte alle möglichen Dinge, doch seine Geschicklichkeit zeigte sich vor allem bei einem: Er wusste exzellente Rechen zu fertigen. Seine Rechen waren die leichtesten, die widerstandsfähigsten und die schönsten. Hin und wieder lud er enorme Bündel von Rechen auf das Dach des Autobusses, um sie in Alpago zu verkaufen. Er war ein gutmütiger Riese mit dem Herz eines Kindes. Wenige Tage, bevor die Wasser des Staudammes ihn mit sich rissen, hatte er den Angelschein gemacht, um im See Fische fangen zu dürfen. Eines Morgens holte er tatsächlich eine Forelle heraus. Er machte sie vom Haken los, brachte es aber nicht übers Herz, sie zu töten und in den Korb zu legen. Ganz zart und vorsichtig hielt er sie zwischen seinen großen Händen und legte sie mit den Worten ins Wasser zurück: "Verschwinde, du Unglückswurm. Schwimm dahin zurück, wo du hergekommen bist."
Auch der große Holzbildhauermeister unserer Wälder, Augusto Murer, mein unvergessener Lehrer, verfügte über eine eigene, geheime Sprache, wenn er mit dem Holz Kontakt aufnahm. Bevor er an Skulpturen einer gewissen Größe arbeitete, brachte er einen ganzen Tag damit zu, rauchend den vor ihm liegenden Stamm zu studieren. Er ging mehrmals darum herum, betrachtete ihn genau, schnupperte daran und tätschelte ihn.
Die beiden unterhielten sich und gaben sich gegenseitig Ratschläge, um sich das gemeinsame Leben nicht allzu schwer zu machen.
Daher habe ich von Murer nicht nur die Technik gelernt. Er brachte mir auch bei, mich vor der Kraft des Baumes nicht zu fürchten. "Du musst mit ihm sprechen", sagte er mir immer wieder. "Mach ihn zu deinem Freund. Du kannst nicht einfach so über ihn herfallen. Du musst sein Vertrauen gewinnen, und das dauert manchmal tagelang." Diese Lehren habe ich später auch beim Klettern in den Bergen angewandt. Während schwieriger Aufstiege habe ich mit den Felsen gesprochen, und sofort lief alles besser. Augusto Murer kannte sich mit Bäumen aus, vielleicht besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Er ist viel zu früh von uns gegangen, und mit ihm seine unvergleichliche Schöpferkraft.
Auch heute noch, nach fünfzig Jahren Arbeit als Holzfäller, bittet mein Freund Carle De Furlan, ein Fuchs in allem, was den Wald betrifft, jeden Baum, den er schlägt, um Verzeihung: "Entschuldige, mein Mädchen, aber leider muss ich dich fällen." Er betrachtet die Bäume als Frauen, denn wie alle Ertaner hält er alles, was groß, mächtig und geheimnisvoll ist, für weiblich.
In der abgeschlossenen, frauenfeindlichen Kultur des Dorfes wird alles Heilige, Erhabene, aber auch Untreue, Verrat und Unbezähmbarkeit unweigerlich zu etwas Weiblichem erklärt.
Ich kann mich noch gut an all die Füchse und Marder erinnern, welche die Jäger an der Nase herumführten. Wenn sie - endlich erlegt - sich als Männchen herausstellten, fluchte mein Vater trotzdem weiter, als handelte es sich um Weibchen, und belegte sie mit endlosen Tiraden.
Mit Carle verbindet mich bis heute eine tiefe Freundschaft. Früher haben wir alles Mögliche zusammen angestellt und im Val da Diach auch als Holzfäller zusammen gearbeitet.
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Autoren-Porträt von Mauro Corona
Mauro Corona wurde am 9. August 1950 in Erto am Fuße des unter Bergsteigern berühmten Felsenturms "Torre di Val Montanaia" geboren. In seiner Jugend arbeitete er in einem Marmorsteinbruch, als Maurer und Holzfäller. Gleichzeitig betätigte er sich zu seinem Vergnügen als Holzschnitzer, bis der Bildhauer Augusto Murer sein Talent erkannte und ihn in sein Atelier aufnahm. Corona vervollkommnete seine Kunst und wurde zu einem der berühmtesten Holzbildhauer Italiens. Als Extrembergsteiger der Spitzenklasse entdeckte er 237 Routen, die einen Schwierigkeitsgrad von mindestens 6 aufweisen. Bei seinen Bergtouren zeigte er diesselbe Vorliebe für Experimente, die seine gesamte künstlerische Tätigkeit prägt. Mit seinen Skulpturen ist der "Mann aus Holz" weit über Norditalien hinaus in ganz Europa bekannt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mauro Corona
- 2001, 1, 154 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Riemann
- ISBN-10: 3570500179
- ISBN-13: 9783570500170
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