Die Sünde
Das schöne Leben und seine Feinde
Das Konzept der Sünde gilt in unserer heutigen Gesellschaft als überholt. Die sieben Ursünden Völlerei, Unkeuschheit, Habsucht, Trägheit, Zorn, Hoffart und Neid vertragen sich schlecht mit unserem Lebensstil, in dem raffiniertes Essen, ein ausgefülltes...
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Produktinformationen zu „Die Sünde “
Das Konzept der Sünde gilt in unserer heutigen Gesellschaft als überholt. Die sieben Ursünden Völlerei, Unkeuschheit, Habsucht, Trägheit, Zorn, Hoffart und Neid vertragen sich schlecht mit unserem Lebensstil, in dem raffiniertes Essen, ein ausgefülltes Sexualleben, Schnäppchen im Internet und Shopping als Garanten eines erfüllten Lebens gelten. Gerhard Schulze zeigt in diesem Buch, wie sich unsere Gesellschaft vom Konzept der Sünde distanziert hat, und wird damit kontroverse Diskussionen auslösen.
Lese-Probe zu „Die Sünde “
Der Westen und die SündeDie sieben Todsünden
Einst galt das allzu Menschliche als sündig; die sieben Todsünden übersetzten dieses Stigma in die Alltagswirklichkeit. Sie zeichneten nach, wozu Menschen aller Zeiten und Kulturen neigen, wenn sie spontanen Regungen nachgeben. Wer an sie glaubte, musste seine alltäglichen Lüste und Leidenschaften als Fluch empfinden. Genussvolles Essen, Gefühlsausbrüche, Sex, Besitzstreben, Selbstsicherheit, Entspannung, Ehrgeiz - die Fülle des Lebens sollte nicht sein.
In der Kultur des Westens wirken die sieben Todsünden heute fremdartig, ja abseitig. Völlerei, Unkeuschheit, Hoffart - aus dem Alltagssprachgebrauch sind diese Worte ebenso verschwunden wie der mit ihnen verbundene Fluch auf das irdische Glück. Aus den Worten weht einem die Luft der Vergangenheit entgegen. Ihr Flair scheint fast schon romantisch, als würde man sich aus dem Stress einer modernen Großstadt für kurze Zeit in eine alte Kirche zurückziehen, in der es nach Moder, Weihrauch und versteinertem Holz riecht.
Artefakte, die lange vor den ersten Kirchen entstanden sind, muten im Vergleich dazu fast schon modern an. Ein etruskisches Fresko in einer Nekropole aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert beispielsweise zeigt einen Mann und eine Frau in einer intimen Situation.1 Die Phantasie, die das Wort "intim" bei heutigen Lesern weckt, passt jedoch nicht so recht zur Atmosphäre des Bildes, denn es scheint frei von sexuellen oder wenigstens erotischen Anspielungen zu sein. Um es zu entschlüsseln, muss man der reinen Bildsprache vertrauen, weil die Texte der Etrusker bis heute rätselhaft geblieben sind. Meine vorherrschende Assoziation zu dem Fresko ist der Eindruck von Freundschaft, Zugewandtheit und gegenseitigem Respekt. Und viele Details enthalten noch eine zweite Botschaft: Dieses Paar macht sich das Leben schön. Mann und Frau befinden sich an einem guten Ort, sie haben es sich bequem gemacht, sie essen und trinken, schenken sich etwas, tragen Schmuck, sind
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im Hier und Jetzt angekommen. Das Bild ist weder prüde noch obszön, vielmehr ist es sexuell entspannt - "mehr" wird weder angedeutet noch ausgeschlossen, aber bei so viel Lebensbejahung könnte es durchaus dazugehören.
Betrachtet man das Bild dagegen aus dem Geist der sieben Todsünden heraus, wirkt die Situation verfänglich. Durch diese Brille gesehen, lauert im Hintergrund schon die Unkeuschheit. Weitere Todsünden sind offensichtlich: die Trägheit, die Völlerei, die Habgier und - als schlimmste von allen - die Hoffart. Papst GregorI. hätte vielleicht geurteilt: Hier sind alle Dämme gebrochen; auch Neid und Raserei werden nicht lange auf sich warten lassen.
Aus der Spannung zwischen modernem Lebensgefühl und längst verhalltem Fluch bezieht der Film Seven von David Fincher seinen düsteren Reiz. Wie vergessen die sieben Todsünden inzwischen sind, zeigt sich in der anfänglichen Ratlosigkeit der Ermittler (gespielt von Morgan Freeman und Brad Pitt) angesichts einer Serie bizarrer Taten. Nur langsam entschlüsseln sie das allen Morden gemeinsame Muster, und erst der Mörder selbst liefert am Schluss die Auflösung. Alle Mordopfer sind Figuren der modernen Alltagswelt: ein Sozialfall mit Übergewicht, ein Rechtsanwalt, eine Prostituierte, eine gutaussehende Singlefrau, ein Drogensüchtiger. Verstört registriert das Publikum, dass diese Typen der Moderne genau deshalb mit dem Tod bestraft werden, weil sie Typen der Moderne sind wie es selbst: Menschen, die ihren Bedürfnissen, ihrer Gier, ihren Phantasien nachgehen, jeder auf seine höchstpersönliche Art.
Der Mörder richtet sich allerdings nach einer ganz anderen Generalformel. An jedem Tatort hinterlässt er ein Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort steht, eine der sieben Todsünden. Die Begriffe einer vergessenen Moral der Missbilligung des Menschlichen stellen einen Zusammenhang zwischen dem Alltag des Opfers und der Form der Tötung her. Der Mörder treibt die jeweilige Todsünde, die er im Leben des Opfers verwirklicht sieht, zum tödlichen Exzess. So zwingt er den Übergewichtigen zu essen, bis er platzt: glottony (Völlerei). Der Anwalt wird mit vorgehaltener Pistole genötigt, sich selbst das Fleisch herauszuschneiden: greed (Habgier). Der Drogensüchtige wird als lebende Leiche gefunden, nach einem Jahr in erzwungener Bewegungslosigkeit bei künstlicher Ernährung: sloth (Trägheit). Die Prostituierte stirbt daran, dass der Mörder ihren Freier dazu treibt, sie mit einem als Penis vorgebundenen Messer zu penetrieren: lust (Unkeuschheit). Der gutaussehenden Frau trennt der Mörder die gesamte Gesichtshaut wie einen Skalp ab und lässt sie mit der abgelösten Maske ihres eigenen Gesichts gefesselt auf dem Bett liegen. Sie könnte Hilfe holen, doch ihr Gesicht ist irreparabel zerstört, weshalb sie lieber stirbt: pride (Hoffart).
Verfluchtes Glück
Durch das Kontrastmittel einer vergangenen Betrachtungsweise liefert der Film Seven eine Zeitdiagnose. Im Spiegel der sieben Todsünden erkennt man die scheinbar selbstverständliche und zeitlose Gegenwart als etwas Besonderes und Gewordenes. Das Fremde hebt das Eigene hervor. Fremd bis zur Unverständlichkeit ist Menschen von heute der Begriff der Sünde geworden, noch fremder aber die Stoßrichtung des moralischen Angriffs: Wir können es verstehen, wenn die Schädigung von Mitmenschen als Sünde gilt, aber das Deutungsmuster der sieben Todsünden interessiert sich nicht primär für die Beziehung des Menschen zu seinem Nächsten. Wir können folgen, wenn Gotteslästerungen verdammt werden, aber davon ist bei den sieben Todsünden nicht die Rede. Wir können nachvollziehen, wenn Selbstschädigung verboten wird, aber der Sündenkatalog wendet sich schon gegen das harmlose Vergnügen.
Über das Maßhalten, über Kompromisse zwischen Lust und Vernunft haben die antiken Philosophen nachgedacht, und heute denken viele bei jeder einzelnen Mahlzeit daran. Bei den sieben Todsünden geht es jedoch nicht um einen Kompromiss, in dem auch die Lust ihr Recht bekäme, es geht vielmehr um die völlige Überwindung typisch menschlicher Empfindungen, um das "Abtöten des Fleisches".2 Das Fleisch gehört zur Welt, und die Welt ist ein Ort ohne Gott. Damit richtet sich die christliche Suche nach Erlösung unmittelbar gegen Körper und Psyche des Gläubigen, gegen seine alltäglichen Gefühle, gegen den allzu menschlichen Menschen, gegen den alten Adam.3 Die sieben Todsünden bringen eine Glücks- und Menschenfeindschaft auf den Begriff, die alles verflucht, was zum Projekt des schönen Lebens gehört: anthropologisch vorgebahnte Formen von Befriedigung und Frustration.
Das Menschliche gilt als das Sündige. Dass Menschen von heute das etruskische Fresko wieder als Huldigung an das irdische Glück sehen dürfen und nicht als Warnung vor den Fallstricken des Satans sehen müssen, ist das Ergebnis eines langen Kulturkampfs des alten Adam gegen seine moralische Unterdrückung. Man kann den tadelnd gemeinten christlichen Begriff des alten Adam auch anders auffassen: nicht als Anspielung auf den Sündenfall, sondern als Bild für die in der Menschheitsgeschichte immer schon gegebene und für alle Zeiten unverlierbare Neigung, sein Glück zu suchen und seinen Gefühlen nachzugeben. So gesehen, lässt sich das etruskische Fresko als Hinweis auf jene Wurzeln lesen, die herauszureißen Kirchenväter, Heilige und Prediger schon seit dem Urchristentum bestrebt waren. Ihr Kampf richtete sich ebenso nach außen, gegen das Glück aller Menschen als Menschen, wie gegen sie selbst, gegen die Versuchungen ihres eigenen Fleisches. Drastisch ist das Beispiel des Kirchenvaters Origines aus dem 3. Jahrhundert, der nicht davor zurückschreckte, sich unter Berufung auf ein Jesuswort selbst zu kastrieren. "Einige haben sich selbst zur Ehe unfähig gemacht um des Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse es."4
Dies ist nicht die einzige Bibelstelle, in der sich die Hochschätzung der Askese mit einer Art resignierender Nachsicht gegenüber dem anthropologischen Normalfall von Glücksstreben und Spontaneität verbindet. Zwar ließ sich der Genussmensch nie unterkriegen, doch stand er zwei Jahrtausende lang unter dem Vorbehalt der Verderbtheit am Rande des Abgrunds. Seine Handlungen waren beichtpflichtig, und die Absolution war eine Selbstreinigungsprozedur ähnlich dem Stuhlgang. Nach der Absolution war vor der Absolution, die nächsten unreinen Gedanken, die nächsten Sündenfälle konnten nicht ausbleiben. Die Wiederholungstat war ein Ausdruck der Schwäche, für die man in Gottes Namen die mildernden Umstände einer natürlichen Veranlagung zur Sünde in Anspruch nehmen musste. Nur einigen war es von Gott gegeben, zu entsagen. So richtig einsehen wollten diese Ächtung des alten Adam und der "Schlange Weib" freilich nur wenige. Die allzu menschliche Mehrzahl sündigte und beichtete.
Die Moral der sieben Todsünden kam gegen die Kraft der einfachen Augenblicke des Glücks nicht an. Ihre Macht reichte jedoch aus, das gute Leben unter Generalverdacht zu stellen, den Anspruch darauf öffentlich zu diskreditieren, das Alltagsleben mit Einschränkungen zu gängeln, Selbstentfaltung zu unterdrücken, den Einzelnen klein und schuldbewusst zu machen, Strafen als gottgewollt hinzustellen und die Herrschaft der Humorlosen zu stabilisieren.5 Die Moral der sieben Todsünden bekämpfte die Privatsphäre, das eigene Leben, das Streben nach guten Gefühlen, den Ärger über das Misslingen eigener Glücksprojekte und den Neid auf den Glückserfolg des Nächsten.
Wegen ihrer leidenschaftlichen Ablehnung dessen, was heute westlicher Lebensstil heißt, sind die Kirchenväter die besten Gesprächspartner, um sich über diesen Lebensstil klar zu werden. An der Schwelle zur Moderne wandte sich der Protestantismus der religiösen Missbilligung des Menschlichen mit neuem Ernst zu. "Wer sich selbst rechtfertigt, verdammt Gott. Wer sich selbst verdammt, rechtfertigt Gott", schrieb Luther. Später, im Pietismus kehrte der in tausend Jahren mehr und mehr verwässerte Gedanke der Askese zurück und unterwarf ganze Landstriche seiner Ächtung der Sinnlichkeit.6 Wer sich dafür interessiert, was es eigentlich bedeutet, in der Kultur des Westens heute zu leben und sich als Kind der Zeit zu fühlen, findet ex negativo Aufschluss bei der Erbsündenlehre und ihren drastischen Konsequenzen für das Lebensgefühl.
Es wird Zeit für eine neue Selbstbesinnung modernen Denkens. Überraschenderweise ist dafür der alte Gegensatz zwischen einem Leben für Gott und dem eigenen Leben ein aktueller Anknüpfungspunkt. Es liegt nahe, den Streit dort wiederaufzunehmen, wo er im 18. und 19.Jahrhundert einschlief, weil der Fall erledigt schien: beim magischen Begriff der Sünde, bei der religiösen Kampfansage an den normalen Menschen. Gerade weil der Begriff der Sünde dem westlichen Alltagsdenken so vollständig abhanden gekommen ist, eignet er sich als Instrument neuer Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung.
Leben für das Diesseits
"Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!", flehte Madame Dubarry, Mätresse Ludwigs XV. von Frankreich, auf dem Weg zum Schafott. Und als sich der Henker anschickte, das Fallbeil auszulösen, rief sie gellend ihre letzten Worte: "Nur noch eine Minute, Herr Scharfrichter, nur noch eine Minute!" Dann fiel ihr Kopf. Sie ist das Gegenbild zu Sokrates, der historischen Beispielfigur gelassenen Sterbens. Während Sokrates den Freunden demonstrierte, wie man die Welt in Würde loslässt, ohne sich zum Sklaven seiner Leidenschaften zu machen, liegt die Würde der Dubarry in der Unverstelltheit, mit der sie sich ihrer Leidenschaft für das Hier und Jetzt überlässt. Selbst eine allerletzte, eine zusätzliche Minute ist ihr unendlich viel wert. Sie schreit ihr Bekenntnis zum schönen Leben heraus, bevor sie sterben muss: Spazierfahrten in offener Kutsche, endloses Gelächter über komische Missgeschicke, ein ordentliches Frühstück nach einer Liebesnacht, der Anblick regennasser Dächer beim Aufklaren des Himmels und der Geruch des Fischmarkts. "Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!"7
Was diese Episode mit dem folgenden Essay zu tun hat, ist das Bekenntnis zum Diesseits. Typisch für die europäische Hinrichtungskultur waren Bekenntnisse, die das Jenseits betrafen. Ein Geistlicher war anwesend, der Gebete sprach, die Absolution erteilte und das Kreuz hochhielt wie einen Wegweiser in eine unmittelbar bevorstehende Zukunft. Die Richtstatt war also normalerweise nicht der Ort für Diesseitigkeit.8 Doch die Dubarry machte den Moment der Hinrichtung zu einem letzten kostbaren Moment in dieser Welt.
Zwar gilt die Französische Revolution als ein Fanal der Moderne und die Dubarry nur als Anhängsel des Ancien Régime, aber in dieser Szene ist sie es, die die Philosophie der Moderne repräsentiert: Mein Leben ist von dieser Welt, und es soll ein schönes Leben sein. Es gibt natürlich kein Monopol irgendeiner Epoche auf die Idee des schönen Lebens. Das Motiv taucht überall auf, wo Menschen Spuren hinterlassen haben - in dem Fresko aus etruskischer Zeit, auf einem karthagischen Grabstein, im Gilgamesch-Epos, im Hohen Lied Salomos, auf den Bronzegefäßen der Situla-Kunst, im Märchen vom Schlaraffenland, in frühgeschichtlichen Skulpturen und in der Fernsehwerbung. Die Moderne eignete sich das Motiv des schönen Lebens lediglich neu an und buchstabierte es auf ihre Weise aus. Sie befreite es vom Stigma der Sünde, demokratisierte es radikal und übersetzte es in ein ewig expansives Universum von Wahlmöglichkeiten.
Nach dem Urknall der Moderne schien der Umgang mit der Expansion der Wahlmöglichkeiten zunächst noch simpel. Aus der Knappheit kommend, richteten sich die Glücksvisionen der Menschen auf Schuhe, Kleider und Kücheneinrichtungen. Inzwischen steht der Konsum nicht mehr im Mittelpunkt der Glücksvisionen, sondern was man für sich selbst aus seinem Leben macht. Versteht man unter Glück ein Gefühl, so sind Wahlmöglichkeiten lediglich eine Bedingung des Glücks und nicht das Glück selbst. Wahlmöglichkeiten lassen sich planen und systematisch optimieren, während Gefühle sich dem widersetzen. Seit einigen Jahrzehnten ist in der Kultur des Westens ein Diskurs in Gang, der dies reflektiert und den Themenschwerpunkt der Glückssuche allmählich vom Können zum Sein, von den bloßen Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung des Lebens verlagert.9
Dies als "postmodern" zu betrachten, ist ideengeschichtlich falsch und bedeutet außerdem, den Themen Glück und eigenes Leben die Reflexionskraft modernen Denkens der Gegenwart zu verweigern. Umgekehrt kommt dem modernen Denken jede Leidenschaft abhanden, wenn es für Glück und eigenes Leben nicht zuständig sein soll. Was man als "modern" bezeichnet und was nicht, ist in der Kultur des Westens keineswegs bloß eine Frage der Etikettierung - es ist eine Lebensfrage, deren Klärung ansteht.
Betrachtet man das Bild dagegen aus dem Geist der sieben Todsünden heraus, wirkt die Situation verfänglich. Durch diese Brille gesehen, lauert im Hintergrund schon die Unkeuschheit. Weitere Todsünden sind offensichtlich: die Trägheit, die Völlerei, die Habgier und - als schlimmste von allen - die Hoffart. Papst GregorI. hätte vielleicht geurteilt: Hier sind alle Dämme gebrochen; auch Neid und Raserei werden nicht lange auf sich warten lassen.
Aus der Spannung zwischen modernem Lebensgefühl und längst verhalltem Fluch bezieht der Film Seven von David Fincher seinen düsteren Reiz. Wie vergessen die sieben Todsünden inzwischen sind, zeigt sich in der anfänglichen Ratlosigkeit der Ermittler (gespielt von Morgan Freeman und Brad Pitt) angesichts einer Serie bizarrer Taten. Nur langsam entschlüsseln sie das allen Morden gemeinsame Muster, und erst der Mörder selbst liefert am Schluss die Auflösung. Alle Mordopfer sind Figuren der modernen Alltagswelt: ein Sozialfall mit Übergewicht, ein Rechtsanwalt, eine Prostituierte, eine gutaussehende Singlefrau, ein Drogensüchtiger. Verstört registriert das Publikum, dass diese Typen der Moderne genau deshalb mit dem Tod bestraft werden, weil sie Typen der Moderne sind wie es selbst: Menschen, die ihren Bedürfnissen, ihrer Gier, ihren Phantasien nachgehen, jeder auf seine höchstpersönliche Art.
Der Mörder richtet sich allerdings nach einer ganz anderen Generalformel. An jedem Tatort hinterlässt er ein Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort steht, eine der sieben Todsünden. Die Begriffe einer vergessenen Moral der Missbilligung des Menschlichen stellen einen Zusammenhang zwischen dem Alltag des Opfers und der Form der Tötung her. Der Mörder treibt die jeweilige Todsünde, die er im Leben des Opfers verwirklicht sieht, zum tödlichen Exzess. So zwingt er den Übergewichtigen zu essen, bis er platzt: glottony (Völlerei). Der Anwalt wird mit vorgehaltener Pistole genötigt, sich selbst das Fleisch herauszuschneiden: greed (Habgier). Der Drogensüchtige wird als lebende Leiche gefunden, nach einem Jahr in erzwungener Bewegungslosigkeit bei künstlicher Ernährung: sloth (Trägheit). Die Prostituierte stirbt daran, dass der Mörder ihren Freier dazu treibt, sie mit einem als Penis vorgebundenen Messer zu penetrieren: lust (Unkeuschheit). Der gutaussehenden Frau trennt der Mörder die gesamte Gesichtshaut wie einen Skalp ab und lässt sie mit der abgelösten Maske ihres eigenen Gesichts gefesselt auf dem Bett liegen. Sie könnte Hilfe holen, doch ihr Gesicht ist irreparabel zerstört, weshalb sie lieber stirbt: pride (Hoffart).
Verfluchtes Glück
Durch das Kontrastmittel einer vergangenen Betrachtungsweise liefert der Film Seven eine Zeitdiagnose. Im Spiegel der sieben Todsünden erkennt man die scheinbar selbstverständliche und zeitlose Gegenwart als etwas Besonderes und Gewordenes. Das Fremde hebt das Eigene hervor. Fremd bis zur Unverständlichkeit ist Menschen von heute der Begriff der Sünde geworden, noch fremder aber die Stoßrichtung des moralischen Angriffs: Wir können es verstehen, wenn die Schädigung von Mitmenschen als Sünde gilt, aber das Deutungsmuster der sieben Todsünden interessiert sich nicht primär für die Beziehung des Menschen zu seinem Nächsten. Wir können folgen, wenn Gotteslästerungen verdammt werden, aber davon ist bei den sieben Todsünden nicht die Rede. Wir können nachvollziehen, wenn Selbstschädigung verboten wird, aber der Sündenkatalog wendet sich schon gegen das harmlose Vergnügen.
Über das Maßhalten, über Kompromisse zwischen Lust und Vernunft haben die antiken Philosophen nachgedacht, und heute denken viele bei jeder einzelnen Mahlzeit daran. Bei den sieben Todsünden geht es jedoch nicht um einen Kompromiss, in dem auch die Lust ihr Recht bekäme, es geht vielmehr um die völlige Überwindung typisch menschlicher Empfindungen, um das "Abtöten des Fleisches".2 Das Fleisch gehört zur Welt, und die Welt ist ein Ort ohne Gott. Damit richtet sich die christliche Suche nach Erlösung unmittelbar gegen Körper und Psyche des Gläubigen, gegen seine alltäglichen Gefühle, gegen den allzu menschlichen Menschen, gegen den alten Adam.3 Die sieben Todsünden bringen eine Glücks- und Menschenfeindschaft auf den Begriff, die alles verflucht, was zum Projekt des schönen Lebens gehört: anthropologisch vorgebahnte Formen von Befriedigung und Frustration.
Das Menschliche gilt als das Sündige. Dass Menschen von heute das etruskische Fresko wieder als Huldigung an das irdische Glück sehen dürfen und nicht als Warnung vor den Fallstricken des Satans sehen müssen, ist das Ergebnis eines langen Kulturkampfs des alten Adam gegen seine moralische Unterdrückung. Man kann den tadelnd gemeinten christlichen Begriff des alten Adam auch anders auffassen: nicht als Anspielung auf den Sündenfall, sondern als Bild für die in der Menschheitsgeschichte immer schon gegebene und für alle Zeiten unverlierbare Neigung, sein Glück zu suchen und seinen Gefühlen nachzugeben. So gesehen, lässt sich das etruskische Fresko als Hinweis auf jene Wurzeln lesen, die herauszureißen Kirchenväter, Heilige und Prediger schon seit dem Urchristentum bestrebt waren. Ihr Kampf richtete sich ebenso nach außen, gegen das Glück aller Menschen als Menschen, wie gegen sie selbst, gegen die Versuchungen ihres eigenen Fleisches. Drastisch ist das Beispiel des Kirchenvaters Origines aus dem 3. Jahrhundert, der nicht davor zurückschreckte, sich unter Berufung auf ein Jesuswort selbst zu kastrieren. "Einige haben sich selbst zur Ehe unfähig gemacht um des Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse es."4
Dies ist nicht die einzige Bibelstelle, in der sich die Hochschätzung der Askese mit einer Art resignierender Nachsicht gegenüber dem anthropologischen Normalfall von Glücksstreben und Spontaneität verbindet. Zwar ließ sich der Genussmensch nie unterkriegen, doch stand er zwei Jahrtausende lang unter dem Vorbehalt der Verderbtheit am Rande des Abgrunds. Seine Handlungen waren beichtpflichtig, und die Absolution war eine Selbstreinigungsprozedur ähnlich dem Stuhlgang. Nach der Absolution war vor der Absolution, die nächsten unreinen Gedanken, die nächsten Sündenfälle konnten nicht ausbleiben. Die Wiederholungstat war ein Ausdruck der Schwäche, für die man in Gottes Namen die mildernden Umstände einer natürlichen Veranlagung zur Sünde in Anspruch nehmen musste. Nur einigen war es von Gott gegeben, zu entsagen. So richtig einsehen wollten diese Ächtung des alten Adam und der "Schlange Weib" freilich nur wenige. Die allzu menschliche Mehrzahl sündigte und beichtete.
Die Moral der sieben Todsünden kam gegen die Kraft der einfachen Augenblicke des Glücks nicht an. Ihre Macht reichte jedoch aus, das gute Leben unter Generalverdacht zu stellen, den Anspruch darauf öffentlich zu diskreditieren, das Alltagsleben mit Einschränkungen zu gängeln, Selbstentfaltung zu unterdrücken, den Einzelnen klein und schuldbewusst zu machen, Strafen als gottgewollt hinzustellen und die Herrschaft der Humorlosen zu stabilisieren.5 Die Moral der sieben Todsünden bekämpfte die Privatsphäre, das eigene Leben, das Streben nach guten Gefühlen, den Ärger über das Misslingen eigener Glücksprojekte und den Neid auf den Glückserfolg des Nächsten.
Wegen ihrer leidenschaftlichen Ablehnung dessen, was heute westlicher Lebensstil heißt, sind die Kirchenväter die besten Gesprächspartner, um sich über diesen Lebensstil klar zu werden. An der Schwelle zur Moderne wandte sich der Protestantismus der religiösen Missbilligung des Menschlichen mit neuem Ernst zu. "Wer sich selbst rechtfertigt, verdammt Gott. Wer sich selbst verdammt, rechtfertigt Gott", schrieb Luther. Später, im Pietismus kehrte der in tausend Jahren mehr und mehr verwässerte Gedanke der Askese zurück und unterwarf ganze Landstriche seiner Ächtung der Sinnlichkeit.6 Wer sich dafür interessiert, was es eigentlich bedeutet, in der Kultur des Westens heute zu leben und sich als Kind der Zeit zu fühlen, findet ex negativo Aufschluss bei der Erbsündenlehre und ihren drastischen Konsequenzen für das Lebensgefühl.
Es wird Zeit für eine neue Selbstbesinnung modernen Denkens. Überraschenderweise ist dafür der alte Gegensatz zwischen einem Leben für Gott und dem eigenen Leben ein aktueller Anknüpfungspunkt. Es liegt nahe, den Streit dort wiederaufzunehmen, wo er im 18. und 19.Jahrhundert einschlief, weil der Fall erledigt schien: beim magischen Begriff der Sünde, bei der religiösen Kampfansage an den normalen Menschen. Gerade weil der Begriff der Sünde dem westlichen Alltagsdenken so vollständig abhanden gekommen ist, eignet er sich als Instrument neuer Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung.
Leben für das Diesseits
"Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!", flehte Madame Dubarry, Mätresse Ludwigs XV. von Frankreich, auf dem Weg zum Schafott. Und als sich der Henker anschickte, das Fallbeil auszulösen, rief sie gellend ihre letzten Worte: "Nur noch eine Minute, Herr Scharfrichter, nur noch eine Minute!" Dann fiel ihr Kopf. Sie ist das Gegenbild zu Sokrates, der historischen Beispielfigur gelassenen Sterbens. Während Sokrates den Freunden demonstrierte, wie man die Welt in Würde loslässt, ohne sich zum Sklaven seiner Leidenschaften zu machen, liegt die Würde der Dubarry in der Unverstelltheit, mit der sie sich ihrer Leidenschaft für das Hier und Jetzt überlässt. Selbst eine allerletzte, eine zusätzliche Minute ist ihr unendlich viel wert. Sie schreit ihr Bekenntnis zum schönen Leben heraus, bevor sie sterben muss: Spazierfahrten in offener Kutsche, endloses Gelächter über komische Missgeschicke, ein ordentliches Frühstück nach einer Liebesnacht, der Anblick regennasser Dächer beim Aufklaren des Himmels und der Geruch des Fischmarkts. "Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!"7
Was diese Episode mit dem folgenden Essay zu tun hat, ist das Bekenntnis zum Diesseits. Typisch für die europäische Hinrichtungskultur waren Bekenntnisse, die das Jenseits betrafen. Ein Geistlicher war anwesend, der Gebete sprach, die Absolution erteilte und das Kreuz hochhielt wie einen Wegweiser in eine unmittelbar bevorstehende Zukunft. Die Richtstatt war also normalerweise nicht der Ort für Diesseitigkeit.8 Doch die Dubarry machte den Moment der Hinrichtung zu einem letzten kostbaren Moment in dieser Welt.
Zwar gilt die Französische Revolution als ein Fanal der Moderne und die Dubarry nur als Anhängsel des Ancien Régime, aber in dieser Szene ist sie es, die die Philosophie der Moderne repräsentiert: Mein Leben ist von dieser Welt, und es soll ein schönes Leben sein. Es gibt natürlich kein Monopol irgendeiner Epoche auf die Idee des schönen Lebens. Das Motiv taucht überall auf, wo Menschen Spuren hinterlassen haben - in dem Fresko aus etruskischer Zeit, auf einem karthagischen Grabstein, im Gilgamesch-Epos, im Hohen Lied Salomos, auf den Bronzegefäßen der Situla-Kunst, im Märchen vom Schlaraffenland, in frühgeschichtlichen Skulpturen und in der Fernsehwerbung. Die Moderne eignete sich das Motiv des schönen Lebens lediglich neu an und buchstabierte es auf ihre Weise aus. Sie befreite es vom Stigma der Sünde, demokratisierte es radikal und übersetzte es in ein ewig expansives Universum von Wahlmöglichkeiten.
Nach dem Urknall der Moderne schien der Umgang mit der Expansion der Wahlmöglichkeiten zunächst noch simpel. Aus der Knappheit kommend, richteten sich die Glücksvisionen der Menschen auf Schuhe, Kleider und Kücheneinrichtungen. Inzwischen steht der Konsum nicht mehr im Mittelpunkt der Glücksvisionen, sondern was man für sich selbst aus seinem Leben macht. Versteht man unter Glück ein Gefühl, so sind Wahlmöglichkeiten lediglich eine Bedingung des Glücks und nicht das Glück selbst. Wahlmöglichkeiten lassen sich planen und systematisch optimieren, während Gefühle sich dem widersetzen. Seit einigen Jahrzehnten ist in der Kultur des Westens ein Diskurs in Gang, der dies reflektiert und den Themenschwerpunkt der Glückssuche allmählich vom Können zum Sein, von den bloßen Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung des Lebens verlagert.9
Dies als "postmodern" zu betrachten, ist ideengeschichtlich falsch und bedeutet außerdem, den Themen Glück und eigenes Leben die Reflexionskraft modernen Denkens der Gegenwart zu verweigern. Umgekehrt kommt dem modernen Denken jede Leidenschaft abhanden, wenn es für Glück und eigenes Leben nicht zuständig sein soll. Was man als "modern" bezeichnet und was nicht, ist in der Kultur des Westens keineswegs bloß eine Frage der Etikettierung - es ist eine Lebensfrage, deren Klärung ansteht.
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Autoren-Porträt von Gerhard Schulze
Gerhard Schulze, geb. 1944, studierte Soziologie zuerst in München und dann in Nürnberg, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Seit 1978 ist er mittlerweile emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gerhard Schulze
- 2006, 287 Seiten, Maße: 26,8 x 27 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446206728
- ISBN-13: 9783446206724
Rezension zu „Die Sünde “
"... eine warmherzige, in vielen Passagen wunderbar konkrete und daher auch illusionslose Verteidigung aufgeklärter, diesseitiger Glückssuche." Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 14.03.06 "Ein Lieblingsbuch der Saison." Wolfgang Herles, ZDF Morgenmagazin, 11.05.06
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