Die Tote im Meer
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Die Tote imMeer von Robert Edric
LESEPROBE
Gerade, als ich das Büro verlassen wollte, klingelte dasTelefon. Es war zwischen neun und zehn Uhr an einem Juliabend. Seit fast vierWochen hatte es nicht mehr geregnet, und im Wetterbericht orakelte man von derbevorstehenden Dürre, als wäre sie schon vor einer Ewigkeit vorhergesagtworden. Der heißeste Juli seit achtzehn Jahren solle es werden, hieß es, alshätte auch diese Information eine tiefere Bedeutung. Als wären die vagen Wettervorhersagender Meteorologen absolut hieb- und stichfest. Im Lagerhaus unter mir entludenMänner eine späte Lieferung von Früchten, nachdem sie den ganzen Nachmittag Däumchendrehend darauf gewartet hatten. Im Sommer arbeiteten sie oft bis in die späteNacht, um alles für die Märkte und Auslieferungen am frühen Morgen fertig zuhaben. Die Luft war erfüllt vom Geruch zerquetschter und zertrampelterPfirsiche. Ich wartete darauf, dass mein Anrufbeantworter ansprang. Auf meinerVisitenkarte hieß es, ich sei rund um die Uhr zu erreichen. Yvonne hatte mirgeraten, neue Karten mit dem Aufdruck »24/7« in Auftrag zu geben. Jedermannwisse, was das heiße. Die Formulierung sei allgemein gebräuchlich. Ich tat so, alshätte sie mich überzeugt, und zeigte ihr dann die neunhundertachtzig altenVisitenkarten, die ich noch übrig hatte. Kurzerhand zerriss sie eine davon.»Der erste Eindruck«, sagte sie. »Das richtige Image«. Ich erwiderte, dass ichihre zwei Argumente mit schlappen neunhundertachtzig Gegenargumenten widerlegenkönne. Auf dem AB wurde der Anrufer von meiner Ansage aufgefordert, eineNachricht zu hinterlassen. Als er noch vor dem ersten Wort ins Telefon hustete,wusste ich, dass es sich um John Maxwell handelte, meinen alten Partner. Ichging zum Schreibtisch zurück und nahm in dem Moment ab, als John Maxwell aufBand zu sprechen begann. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. »Das weißt du doch«,antwortete er. »Erzähl mir lieber, wie es dir geht.« »Genau wie dir, nur dassich fünfundzwanzig Jahre jünger bin als du und mir noch alle Träume undHoffnungen und meinen ganzen Ehrgeiz bewahrt habe«, sagte ich. »Vergiss es«,erwiderte er und fragte mich, warum ich zu dieser Zeit noch im Büro sei. »Damitich deinen Anruf nicht verpasse.« Wir hatten fast vier Monate nichtsvoneinander gehört. Seine eigenen Träume und Hoffnungen und all sein Ehrgeiz warennach siebenunddreißigjähriger Ehe zusammen mit seiner Frau gestorben, die aneiner schmerzhaften und grausamen Krankheit gelitten hatte. John Maxwell hatteseine Frau die ganze Zeit gepflegt, ohne je wirklich zu begreifen, woran sie starbund warum sie so sehr leiden musste. Meine beiden hohen Fenster standen offen,und ich schloss sie, weil es draußen sehr laut war. John Maxwell, der ahnte,was ich tat, schwieg, bis ich fertig war. »Heute schon in die Mail geschaut?«,fragte er. Er ließ sich immer noch täglich die Lokalzeitung aus Hull in seinneues Zuhause nach County Durham schicken. Er war in Hull aufgewachsen, hattehier gelebt und gearbeitet, doch nach dem Tod seiner Frau hatte er es in seineralten Heimat nicht mehr ausgehalten. Im Endstadium ihrer Krankheit hatte er mireinmal erzählt, dass sie fünfundsiebzig Prozent ihres Daseins als Ehepaarausmache. Damals hielt ich das für eine untypisch melodramatische Bemerkung.Bei der Beerdigung seiner Frau erhöhte er auf achtzig Prozent. Zu dem Zeitpunktkonnte man nicht mehr übersehen, wie sehr ihr Tod ihn erschüttert hatte, undich nahm seine Aussage kommentarlos hin. Die Zeitung lag ungeöffnet auf meinemSchreibtisch. »In welchen Teil?«, fragte ich, schlug die Zeitung auf und blättertesie durch. Trauer, Leid, Freude und Überschwang, und alles nur aus zweiterHand. »Seite neun«, sagte er und wartete, bis ich sie gefunden hatte. Auf Seiteneun war das Foto einer Frau abgedruckt, die laut Überschrift tot in ihrem Hausin Willerby aufgefunden worden war. Daneben war ein Foto ihres Sohnes zu sehen,der Hut und Robe eines Hochschulabsolventen trug und ein mit Bändern verschnürtes,aufgerolltes Abschlusszeugnis in den Händen hielt. Ich las den kurzen Artikel.Frau tot aufgefunden, vermutlich Selbstmord, knapp einen Monat nach demHochschulabschluss ihres einzigen Sohnes. Im zweiten Absatz war die Rede voneiner doppelten Familientragödie. Möglicherweise war auch dem Sohn etwaszugestoßen, und in Ermangelung eines aktuelles Fotos hatte die Zeitung das Bildvon seiner Abschlussfeier abgedruckt. Ich kannte siebzehnjährige Mädchen, dieals lächelnde Zwölfjährige posierten, und vierzigjährige Männer, die sich immernoch an die Verheißungen für ihre Zukunft klammerten. »Sie nennt sich AnnetteBellingham«, sagte John Maxwell. »Möglicherweise ihr Mädchenname. Als wir mitihr zu tun hatten, hieß sie Simpson.« Der Name sagte mir zwar etwas, aber ichkonnte ihn nicht einordnen. Er erzählte mir von dem Fall. Es ging um einenMann, über den wir Nachforschungen wegen Betrugs und Veruntreuung angestellthatten und der sich einen Monat vor Prozessbeginn in seinem Auto mit Abgasendas Leben genommen hatte. Ich konnte mich daran erinnern, dass sich der Mann aneiner Stelle umgebracht hatte, von der aus man einen besonders schönen Blickauf den Humber hatte. Seine Frau meinte, es sei einer ihrer Lieblingsortegewesen und sie seien oft mit der ganzen Familie dorthin gefahren. Vor lauterWeinen wäre sie fast erstickt. Wegen der geschlossenen Fenster war es wärmer imBüro geworden. Es war fast zweiundzwanzig Uhr, doch der Raum war selbst beieinbrechender Dunkelheit noch stickig und warm. Der Lärm der Männer und Lasterdrang gedämpft zu mir herauf, und dazu kam jetzt die Musik aus dem Sportclubgegenüber, wo junge Talente um ihre Ghettoblaster tanzten. Es roch immer nochnach zermatschten Pfirsichen. Ihr Geruch drang zusammen mit Licht und Staubdurch die Ritzen zwischen den Dielen. Im Winter war es nur das Licht. Ichfragte mich, ob John Maxwell mich nur wegen der toten Frau und ihrer schlimmenVergangenheit angerufen hatte. Am Telefon sprach er ungern offen, aber selbstwenn man ihn persönlich traf, sagte er nur das Allernötigste. Zu Beginn unsererZusammenarbeit hatte ich den Grund dafür immer in seiner Vergangenheit alsPolizist gesucht und erst später begriffen, dass es einfach seine Art war. Währendunserer Zeit als Partner hatte er mir fast alles über die Arbeit einesPrivatdetektivs beigebracht, und noch ein Jahr nach seinem Abschied ertappteich mich dabei, dass ich nicht selbstständig handelte, sondern mich fragte, wieer wohl in dieser und jener Situation reagiert hätte. Doch diese Phase gehörte derVergangenheit an, und ich hatte lange genug auf eigene Faust gearbeitet, um zuwissen, dass er weder aus Nostalgie noch wegen unterschwelliger Gewissensbisseoder aus latentem Bedauern anrief. Ein paar Minuten später schlug die Uhr vonHoly Trinity zehn. Er hörte die Glocken im Hintergrund und erkannte ihren langenachhallenden Schlag sofort wieder. Der Klang war ungewöhnlich, aber an diesemstillen Abend waren selbst weit entfernte Geräusche gut zu hören. »Am besten,du gehst jetzt heim«, sagte er schließlich. Seine Worte fielen genau mit denletzten Glockenschlägen zusammen. Dann legte er auf. Ich stellte mir vor, dasser im gleichen stickigen Dunkel saß wie ich, auf dem Schoß die Fotos der Frau undihres Sohnes und ganz in der Nähe ein Bild seiner verstorbenen Frau, die in denunzähligen einsamen Nächten seines Lebens immer ein Auge auf ihn hatte. Ichöffnete die Fenster wieder und ließ den Lärm herein. Die Männer hatten eineKette gebildet und luden die Apfelsinenkisten vom Laster in einen Laden. Wie amFließband warfen sie sie mit genau aufeinander abgestimmten Bewegungen von Mannzu Mann, und die Südfrüchte leuchteten im hellen Licht.
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Henning Ahrens
- Autor: Robert Edric
- 2006, 446 Seiten, Maße: 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Ahrens, Henning
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442456622
- ISBN-13: 9783442456628
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