Die Tote in der Feengrotte
Ein Fall für Giorgia Cantini. Deutsche Erstausgabe
Ein Bologna-Krimi der besonderen Art: atmosphärisch dicht, düster und unheimlich packend!
Bologna in der flirrenden Augusthitze: Privatdetektivin Giorgia Cantini erhält den Auftrag, nach der Edelprostituierten Vanessa Liverani, genannt Van, zu suchen....
Bologna in der flirrenden Augusthitze: Privatdetektivin Giorgia Cantini erhält den Auftrag, nach der Edelprostituierten Vanessa Liverani, genannt Van, zu suchen....
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Produktinformationen zu „Die Tote in der Feengrotte “
Klappentext zu „Die Tote in der Feengrotte “
Ein Bologna-Krimi der besonderen Art: atmosphärisch dicht, düster und unheimlich packend!Bologna in der flirrenden Augusthitze: Privatdetektivin Giorgia Cantini erhält den Auftrag, nach der Edelprostituierten Vanessa Liverani, genannt Van, zu suchen. Zuletzt gesehen wurde sie vor sechs Tagen bei einer Party reicher Geschäftsleute, zurück bleibt ihr zehnjähriger Sohn William. Hinweise bei ihrer Suche liefern Giorgia Cantini nur die Tagebucheintragungen der Vermissten. Kurze Zeit darauf wird die junge Frau tot aufgefunden - in einer Grotte außerhalb von Bologna, erschossen. Und die Tatwaffe ist die Pistole von Vanessa Liveranis eigenem Großvater.
"Giorgia Cantini ist Sam Spades kleine italienische Schwester." -- Titel-Magazin.de
Lese-Probe zu „Die Tote in der Feengrotte “
Ich greife mir mein Gepäck vom Rollband mit der Erschöpfung eines reumütigen Reisenden, der es bedauert, überhaupt losgefahren zu sein, und als ich mit der Hand über eine Tasche meiner Jeansjacke fahre, spüre ich dort das federleichte Gewicht von zwei oder drei Postkarten, die ich vergessen habe abzuschicken. Ich laufe durch diesen klinischen Raum - eine Kombination aus Kunststoff und Stahl -, der von Touristen und Personal bevölkert ist. Die Wartehalle besteht aus nichts als harten roten Stühlen. Mitten unter der großen Anzeigetafel thront das neueste Modell eines mit Extras nur so gespickten Autos. Ich streife Leute, die vor dem Metalldetektor Schlange stehen und andere, die auf dem Bildschirm An- kunfts- und Abflugzeiten überprüfen. Eine Stimme aus dem Lautsprecher unterbricht einen Hitklassiker von Frank Sinatra für die Durchsage, dass sich ein Flug verspätet.Jetzt brauche ich einen Kaffee. Also betrete ich den wabenförmigen Plexiglasaufzug und fahre hoch in den zweiten Stock zum Gastrobereich. Durch die große Glasfront platzt der strahlend blaue Spätnachmittagshimmel förmlich herein. Aus dem Augenwinkel bemerke ich einen Shuttlebus, der über die Rollbahn fährt, und den grauen Schatten eines abflugbereiten Jets.
Ich bin vor acht Tagen abgereist und habe dabei meine kurze Affäre mit Marcel hinter mir gelassen. Wir haben uns genau hier, in der Flughafenbar, verabschiedet: Ich fuhr nach Tunesien in Urlaub, und er kehrte nach Paris zurück, um seinen fünften Krimi fertig zu schreiben.
Marcel, sechsundvierzig, Freund eines Freundes: Die magnetische Anziehungskraft seines Intellekts und seine Art, sich zu bewegen, verliehen ihm, je später und feuchter der Abend wurde, den traumverlorenen Ausdruck eines Menschen, der zu viel getrunken hat. Zwei Wochen habe ich mit diesem Vertreter des Surrealismus verbracht, diesem Mann mit ausgeprägten Augenbrauen, aufgeblähtem Bauch und zerknautschtem Gesicht, der sich die Zigaretten am Stummel der vorherigen anzündet; dem
... mehr
x-ten Mann, dessen Ehering ich in der Dunkelheit eines Hotelzimmers aufblitzen sah, während er sagte: "Pour aimer une femme, il faut épouser une autre." (Um eine Frau zu lieben, muss man eine andere heiraten.) War es denn wirklich nötig, Marcel, die Liebe zu bemühen? Ich hätte auf diese Galanterie verzichten können, denn, sagen wir es doch ganz offen, es war von Anfang an klar, dass das mit uns nicht von Dauer sein würde. Wir sind fast gleich alt, habe ich dir gesagt. Die Liebe hat uns lange Jahre beschäftigt, unsere Köpfe waren dauerhaft besetzt von ihr, schlimmer als jeder Unihörsaal anno '68. Ich habe nur lockere Verhältnisse, ich will keine festen Bindungen, und.
"Libres alliances?"
"Oui, tu comprends?"
Du hattest die Decke um deine Beine gewickelt und brachtest etwas wie ein Lächeln hervor. Ich ging wieder zu dir, schon halb angezogen, und trat dabei auf den Rand eines mit Asche und Zigarettenkippen gefüllten Tellerchens. Du dachtest, ich würde dich auf den Mund küssen, aber ich zielte auf deine Stirn - meine Art, den Blinker zu setzen und die klassische Abkürzung zu nehmen. Du hast dir mit den Fäusten die Augen gerieben. Dein blaues T-Shirt hatte dunkle Schweißränder unter den Achseln: der wilde Geruch eines französischen Barbaren, der Spannungsliteratur schreibt, weil, wie du sagtest, Angst ein Gefühl ist, das Gott - falls es ihn gibt - nie empfunden hat.
Auf dem Nachttisch lag der Block, auf dem du dir während unserer Spaziergänge Notizen gemacht hattest: "Früher war diese Stadt von Kanälen durchzogen. Also eine Art Venedig, mit einem Hafen, Schiffen Und du hast aufgehorcht, als ich erzählte, dass es hier früher viele Brunnen gab, in denen die Mörder ihre Opfer versteckten.
Ich bestelle mir noch einen Kaffee.
Wer weiß, Marcel, woran du dich erinnern wirst, von den fünfunddreißig Kilometern Arkaden, dem Neptunsbrunnen, von Nicolo dell'Arcas "Madonna mit Kind", von der gotischen Chiesa San Francesco, von der Torre degli Asinelli oder der Torre della Garisenda. Und von mir, die neben dir stand und dir erzählte, hier seien schon Leopardi, Byron und Rossini durchgekommen.
"Oh, Leopardi, celui de la haie, celui de l'infini?"
"Ja, genau, Das Unendliche.
Danke, dass du meine fünf Kilo Übergewicht mit der üppigen Fleischlichkeit einer Rubensfigur verglichen hast, danke, dass du gesagt hast, die Schönheit einer Frau wachse mit dem Alter, und meine so unorthodoxe, aus dem Rahmen fallende Schönheit habe dich berührt, weil du Schriftsteller bist. "Les jeux sont faits", hätte ich dir am liebsten gesagt. "Du hast mich doch schon ins Bett gekriegt. Wozu musst du noch diesen ganzen Unsinn von dir geben?" Danke, dass du mir vom Paris der Fünfzigerjahre erzählt hast, dem der Keller der Musichalls, des Jazz, der Chansonniers, der professionellen Nachtschwärmer der Rive Gauche, diesen Märtyrern der Nacht, von denen du die Ringe unter den Augen und die Revoluzzerlieder geerbt hast. Danke, dass du Un poison violent, c'est ça l'amour von Serge Gainsbourg für mich rezitiert hast. Und vielen Dank vor allem dafür, dass du mir all diese Stunden geschenkt hast, von denen man dann als schöne Erinnerung zehren kann. Es war genau die richtige Anzahl, keine zu viel, keine zu wenig.
Hier, in dieser Bar, habe ich deine Hände betrachtet, eine gehört Dr. Jekyll, die andere Mr. Hyde. Wir haben alle solche Hände, Marcel, selbst wenn wir keine Kriminalromane schreiben.
"Embrasse-moi", hast du gesagt und meine Hände gedrückt, die rechte und die linke, die gute und die böse.
"Porte-toi bien écris-moi"
"Mach's auch gut, und ja, ich schreibe dir."
Du hast geseufzt, während du die Zigarettenkippe auf den Boden ins Sägemehl geworfen hast, und gesagt: "Ah, et - comment on dit? Une passion. Ca ne peut pas durer. Je le sais." (Ach ja wie sagt man noch? Eine leidenschaftliche Liebe kann nicht von Dauer sein - das weiß ich.) "Ne te fais pas de soucis pour moi (Mach dir um mich keine Gedanken.) "Bologna c'est une ville fantastique." (Bologna ist eine großartige Stadt.) Ich lächle vor mich hin: "Willkommen zu Hause, Giorgia."
Dann stelle ich die Tasse auf dem Tresen der Bar ab und begebe mich zum Ausgang des Flughafens. Dort steige ich ins erste freie Taxi und sehe gedankenverloren aus dem Fenster, hinaus auf die Leuchtreklamen.
Ich sitze im Freien an einem Tisch vor einer Bar in der Via Indipendenza, nippe an einem Bier und spiele mit dem Zündmechanismus meines Feuerzeugs. Wie sagt man in Deutschland noch in so einer Situation? Kopf hoch! Anscheinend hilft das, die Traurigkeit zu vertreiben.
Hier sitze ich nun mit meiner krummen Nase, dem unregelmäßigen Pony über meinen dunklen, tiefliegenden Augen, gedankenverloren wie eben jemand, der am Abend noch ein letztes Bier trinkt, um dann nach Hause zu gehen, seine Koffer auszupacken und das Regal mit ein paar Souvenirs aus Tunesien zu verschönern. Mir geht es gut. Es ist alles in Ordnung.
Ich bin gerade vierzig geworden. Ich habe zwar nicht die Religion, um mich zu betäuben, aber den Alkohol, und dann noch meinen Instinkt, der eigentlich mehr Wachhund als Instinkt ist. Und der sagt mir gerade: "Nur nicht übertreiben" und verbietet mir, ein weiteres eiskaltes Becks zu trinken.
Zwei Männer um die fünfzig mit grauen Schläfen und sonnengebräunten Gesichtern trinken Bellinis und starren den Mädchen, die vereinzelt an den anderen Tischen sitzen, auf den Bauchnabel. Einer von beiden sagt, es sei an der Zeit, zu kapitulieren und zu heiraten, natürlich eine Frau, die noch jung ist. Der andere meint, er wolle seine Freiheit nicht aufgeben und könne dem Anblick all dieser nackten Bäuche nicht widerstehen.
Ich lausche ihren anzüglichen Bemerkungen und frage mich, ob sie in den Taschen ihrer Leinenjacketts neben Atemgold auch Viagra mit sich herumtragen. Barock ist die Welt, wie schon Gadda sagt, leben und leben lassen. Wir reden schon alle wie die im Fernsehen.
Nein, es ist nicht der Alkohol, der unsere Gedanken so banal werden lässt. Heute kannst du jeden Tag ein Buch lesen, aber sobald du einen Blick auf den Fernseher oder in die Zeitung wirfst, sind Tolstois gesammelte Werke so gut wie vergessen. "The world is TV" hat schon Jimmy Hendrix gesagt. Das ist einfach, aber treffend. Liegt wahrscheinlich daran, dass Musiker die Welt von außerhalb der Gesellschaft betrachten.
Als ich in einer zerknitterten Ausgabe des Resto del Carlino blättere, lese ich, dass der amerikanische Soziologe Michael G. Zey behauptet, wir würden im Jahr 2050 durchschnittlich einhundertdreißig Jahre alt werden. Die Nanotechnologie wird die Alterungsprozesse der Zellen aufhalten können, und der größte Traum der Menschheit - so lange wie möglich jung zu bleiben - wird sich endlich verwirklichen lassen. Na ja, denke ich, jetzt ist es aber noch nicht so, und diese beiden alten Knaben wissen, dass die Zeit knapp wird und sie sich nicht bis in alle Ewigkeit einen schönen Lenz machen können.
"Sechs von zehn Akademikern sind Frauen. Sie sind fleißig, gebildet, gut organisiert, aber nicht sehr innovativ", sagt der eine. Und der andere: "Meine Studentinnen sagen, heute sind die Männer entweder frauenfeindlich oder schwul."
Ich habe es doch geahnt: Die beiden sind Dozenten. Sie witzeln vor sich hin, trinken ihre Bellinis und behalten dabei die Mädchen an den anderen Tischen im Blick, ihre dünnen, nervösen Körper unter transparenten Sommersachen, die Gesichter, auf denen das Alter noch keine Spuren hinterlassen hat, die noch unendlich viel Zeit haben, während die alt gewordenen Schwerenöter der Universitätsstadt Bologna besorgt auf ihre tickenden Uhren starren.
Bologna um zehn Uhr abends ist angenehm kühl, obwohl sich immer noch einige Frauen Luft zufächeln, und ein Kellner mit schweißüberströmter Stirn zwischen den Tischen umherrennt. Er scheint es nicht abwarten zu können, dass sich die Stadt endlich leert, damit er zu seiner Familie an irgendeinem Badeort in Apulien oder auf Sardinien stoßen kann.
Bologna. Stadt mit hoch entwickelter Dienstleistungsbranche, voller genossenschaftlich organisierter Betriebe, die gleichzeitig ihr Reichtum und ihre Krux sind. Stadt der Unternehmer, der großen Firmen, der Krankenhäuser, der zahllosen Angestellten, die jeden Morgen ihre Stechkarte bei Unipol, Manutencoop, Ima oder Camst abstempeln.
Als Marcel mich fragte, warum ich mich hier wohl fühle, habe ich ihm geantwortet: "Hier sind meine Erinnerungen, ich kenne hier alles, das ist die Stadt, in der ich geboren bin." Aber ich habe ihm nicht erzählt, dass diese Stadt früher einmal eine Seele hatte. Jetzt verstopft der Verkehr alle Straßen, die Leute werden immer misstrauischer und rümpfen die Nase über die Immigranten.
Darüber würde ich gern mit den beiden Dozenten vom Nachbartisch reden, wenn deren Sinne nicht so sehr damit beschäftigt wären, möglichst unauffällig nach nackten Lendengegenden oder frei unter T-Shirts wippenden Brüsten zu stieren.
Es wird Zeit, meine Biere zu bezahlen, dem Kellner ein Trinkgeld zu geben und meine müden Knochen und mein Gepäck bis zur Bushaltestelle zu schleppen. Eine Blondine in Shorts aus Jeansstoff fragt mich, ob ich Feuer habe. Eine andere Frau erzählt, es gäbe heute im Parco della Montagnola Kabarett. Das erinnert mich an die Sommer, die ich mit meiner Schwester in Konzerten oder bei Rezitationsabenden verbracht habe, und ich sage mir, dass diese Zeiten vorbei sind.
Ada wollte Schauspielerin werden. Eines Abends kam sie nach Hause, nachdem sie im Palazzo dei Congressi Carmelo Bene mit Byrons Manfred gehört hatte. Überdreht und überglücklich stellte sie sich vor den Spiegel und deklamierte mit weit ausholenden, theatralischen Gesten: "Jetzt zittre ich und fühl auf meinem Herzen seltsam kalten Tau. Doch ich kann tun, was mir am meisten widert." Als ich vom Tisch aufstehe, kommt mir der Gedanke, dass meine Schwester vielleicht genau an diese Worte gedacht hat, bevor sie sich aufgehängt hat.
Seit Lucio Spasimo zu seinem Liebsten Josh nach Sacramento geflogen ist, ist sein Arbeitszimmer mein Lieblingsplatz zum Nachdenken geworden. Ich lege die Füße neben die PC-Tastatur auf den Schreibtisch und schnipse die Asche meiner Camel in die Dose Budweiser, die ich gerade ausgetrunken habe.
Bevor Lucio sich verliebt hat, verbrachte er ganze Tage in diesen paar Quadratmetern ohne Fenster, dabei klebte er mit seiner runden Brille beinahe am Bildschirm, sein Kinn war schlecht rasiert, er hatte die Pausbacken eines zu gut genährten Jungen, schrieb Computerprogramme, überprüfte die Sicherheit von Firmennetzwerken und schützte sie vor Hackerangriffen.
Er verbrachte auch ganze Nächte hier, schlief ein paar Stunden auf diesem Sofa, das mehr einem Feldbett ähnelt, gehüllt in weich fallende Pullover in grellen Farben, um ihn herum Einwickelpapier von Schokoriegeln und leere Pepsiflaschen.
Das erreicht Liebe, wenn sie erwidert wird: Da nimmt jemand plötzlich ein Flugzeug, der Zeit seines Lebens sogar Angst davor hatte, in einen Bus zu steigen.
Und lässt mich hier zurück, mit heruntergelassenen Rollläden, in einem stillen Halbdunkel, in dem es keine dringend zu bearbeitenden Akten gibt, das Telefon seit Tagen nicht klingelt und mein Vater und ich, das bescheidene Ermittlerteam dieses Detektivbüros, uns mit einem Nicken und einem Brummen grüßen, wenn wir uns - was selten genug passiert - einmal begegnen.
Vor zwei Wochen hat sich der ehemalige Maresciallo Maggiore Fulvio Cantini Urlaub genehmigt und ist zu Jole aufs Land gezogen, einer Frau in seinem Alter, die er bei einem Bingoabend kennen gelernt hat. Ich hoffe und wünsche mir nur eins: dass sie es schafft, ihn vom Anisschnaps wegzubekommen.
Deshalb muss ich den Laden jetzt allein schmeißen _ Anfangs hat das Detektivbüro Cantini auch für Anwälte und Kleinunternehmer gearbeitet, aber heute kümmern wir uns meist um Fälle von ehelicher Untreue, vermisste Personen, Kinder, die die Schule schwänzen und in schlechte Gesellschaft geraten sind, Ehemänner, die wissen möchten, ob ihre Frauen, wie sie behaupten, in den Töpferkurs gehen oder zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, und Ehefrauen, die wissen möchten, ob ihre Männer, wie sie behaupten, zum Hallenfußball gehen oder zur donnerstäglichen Pokerpartie.
Mein Vater will mit Ehebruchgeschichten nichts zu tun haben, die gibt er an mich weiter, denn er meint, er sei in diesen Dingen sentimental. Offensichtlich hält er mich nicht gerade für romantisch. Laut Fulvio Cantini bin ich kaltblütig genug, den Leuten das Herz zu brechen, die es ganz genau wissen möchten, statt klugerweise der Wahrheit nicht auf den Grund gehen zu wollen.
Mein Vater überschätzt mich. Es lässt mich keineswegs kalt, Männer und Frauen zu sehen, die mir gegenüber ihre Liebesqualen auskotzen. Wenn ich Liebende fotografiere, die vor einem Vorstadthotel oder einem abgelegenen Restaurant Zärtlichkeiten austauschen, fühle ich mich außerdem wie ein Spion, der gleich Details ihrer heimlichen Beziehung an den Feind verraten wird; als wäre ich die moralische Instanz, die dem Vater oder dem rechtmäßigen Ehemann den Stock für die Bestrafungshiebe in die Hand legt. Und diese Rolle behagt mir nicht unbedingt.
Ich betrachte die kahlen Wände in Lucios Arbeitszimmer, die Spinnweben oben in den Ecken. Ich hebe ein gelbes Post-it vom Boden auf, das er beschrieben hat, und mit ihm Staubflocken, die ich in einem Papierkorb aus Plastik entsorge. Ich reibe mir Daumen und Zeigefinger am Stoff meiner Jeans sauber und denke, wäre er jetzt hier, würde ich ihm von meinem deprimierenden Urlaub in Hammamet erzählen, vom dreckigen Wasser in dem Pool voller Kinder, den stolzen Vätern, die deren Sprünge ins Wasser mit der Videokamera verewigten, der afrikanischen Sonne, die mir einen lästigen Sonnenbrand beschert hat. Von Eros Ramazotti, der ständig auf Höchstlautstärke dudelte, einem depressiven, knochendürren Kamel, das als Hintergrund für die üblichen Fotos herhalten musste, und schließlich von meinen einzigen Freunden dort: zwei Jungs mit Essstörungen, die sich genau wie ich am Büfett die Teller mit all diesen Scheußlichkeiten vollluden.
Das Schrillen der Türklingel holt mich in die Wirklichkeit zurück, zwingt mich dazu, aufzustehen und schnell zur Eingangstür zu laufen.
Eine junge Frau mit langen blonden Haaren scharrt ungeduldig mit den Füßen auf der Matte, zeigt auf das Schild DETEKTIVAGENTUR CANTINI und fragt mich: "Bist du das?"
"Was?"
"Na, der Detective."
"Wir sind hier nicht in Amerika."
"Okay."
"In Ordnung."
"Okay."
Ich gebe auf.
"Ich heiße Dora Arienti. Können wir hier irgendwo reden?"
Während ich ihr die Tür zu meinem Büro aufhalte, stelle ich fest, dass sie schön genug ist, um als Model arbeiten zu können. Sie trägt ein pinkfarbenes T-Shirt, Jeans mit Rissen über dem Knie und schwarze Pumps mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen.
Ich fordere sie auf, im Ledersessel Platz zu nehmen, den ich meist meinen Klienten anbiete. Bevor ich mich auf die andere Seite des Schreibtischs setze, schließe ich mit einem schnellen Fußtritt einen offen stehenden Karteikasten.
Metallregale und Rollschränke von Ikea, ein überfüllter Papierkorb, Zeitungsstapel und vergilbte Fotos vom einstigen Bologna an den Wänden füllen den übrigen Raum aus.
Dora Arienti verschränkt die Hände auf dem Schreibtisch, an ihren Daumen trägt sie dicke Silberringe. Sie beugt sich ein wenig vor, als wolle sie die Entfernung zwischen uns verkürzen, und stützt dabei ihre knochigen Ellbogen auf die Nussholzplatte. Mein Blick verharrt einen Moment auf ihrem üppigen Mund, ihren grünen Augen und ihrer Barbienase, die offensichtlich vom Schönheitschirurgen stammt.
"Deine Nummer war die erste, die ich im Telefonbuch gefunden habe. Es gibt nicht viele Detektivbüros in der Stadt."
Ihre Stimme klingt unangenehm laut, anscheinend ist sie eher an erregte Diskussionen als an zivilisierte Unterhaltung gewöhnt.
"Meine Freundin ist verschwunden. Schon seit sechs Tagen. Ich bin nicht zur Polizei gegangen, weil ich den Bullen nicht über den Weg traue", erzählt sie und sieht nervös zur Tür, als könne dort jeden Moment ein ganzes Rollkommando hereinstürmen. "Sie geht nicht an ihr Handy, und bei ihr zu Hause ist sie auch nicht."
Ich öffne eine Schreibtischschublade und hole einen Block heraus. "Lebst du mit ihr zusammen?"
"Nein."
"Wie heißt deine Freundin?"
"Vanessa Liverani, aber ich nenne sie Van. Jeder nennt sie Van, außer ihrer dämlichen Mutter."
Ich verziehe keine Miene und notiere mir die ersten Informationen. "Alter?"
"Einunddreißig. Ich bin ein Jahr älter."
Ich schaue sie erwartungsvoll an und warte auf mehr.
"Sie niest, wenn sie nervös ist."
Ich lehne mich in meinem Drehstuhl zurück. "Das ist ein bisschen wenig."
Sie atmet tief ein. "Also, bis vor ein paar Jahren hab ich noch in einer Bank gearbeitet und mit einem Traummann zusammengelebt. Und dann habe ich mir gesagt, das kann es doch nicht gewesen sein."
Seufzend frage ich sie: "Was wolltest du denn noch?" "Reisen, Geld verdienen, sehen, was es sonst noch gibt außer einer vorprogrammierten Zukunft."
"Ich verstehe", lüge ich.
"Van ist so eine, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Typ hat sie mir auf irgendeiner Party vorgestellt ^ Darf ich hier rauchen?"
Ich nicke und schiebe eine Muschel, die ich als Aschenbecher benutze, zu ihr hin.
Aus ihrer Umhängetasche, die so winzig wie eine etwas größere Geldbörse ist, holt sie ein silbernes Zigarettenetui und ein Feuerzeug.
"Na ja, und zwischen zwei Cuba Libres gesteht sie mir, sie hätte keine Lust mehr, nach Mailand zu fahren und dort Castings zu machen, inzwischen wäre sie zu alt dafür, aber früher hätte sie in vielen Fernsehshows mitgewirkt."
"Als was?"
"Das, was man halt so macht, wenn man ein Meter achtzig groß ist, einen so scharfen Hintern hat wie eine Brasilianerin und Körbchengröße D."
"Ach so."
"Sie hat gesagt, dass sie als Edelnutte arbeitet."
"Erklär mir das."
"Sie hat mir erzählt, dass es ein einträgliches Geschäft ist, sich die Lippen bei Blowjobs wundzublasen."
Ich gebe ihr Zeichen fortzufahren.
"Dann hat sie mich zu Spaccesi mitgenommen, der macht in Immobilien und hat eine Menge Freunde, Selbständige, Geschäftsleute auf der Durchreise. Da waren wir auch am letzten Abend, an dem ich sie gesehen habe. Um ein Uhr nachts haben wir uns verabschiedet." "Wer war sonst noch dabei?"
"Drei Freunde von Spaccesi. Ich hatte den Nachmittag mit Malerba verbracht, er baut Yachten. Das ist mein Lieblingskunde, auch weil der nie zum Schuss kommt. Zu viel Kokain. Also, wenn ich bei ihm bin, massiere ich ihm seinen halbsteifen Schwanz und lasse ihn sich auskotzen, von seinen Problemen erzählen.
"Spaccesi und der Vorname?"
"Gaetano. Der mag nicht, wenn du dich rasierst und Parfüm trägst." Nervös drückt sie die Zigarette aus. "Er ist grob, aber auch nicht schlimmer als die anderen."
Ich fege ein wenig Asche weg, die aus dem Aschenbecher geflogen ist. "Also hast du der Bank den Rücken gekehrt und angefangen, dich ebenfalls zu verkaufen?"
Sie verzieht den Mund. Ganz offensichtlich hat sie keine Lust auf eine Moralpredigt.
"Hat es Probleme mit Kunden gegeben?"
"Manche kosten es aus zu bezahlen, das ist ihre Art von Orgasmus. Andere stehen auf Dreier, dann arbeiten Van und ich zusammen."
"Weißt du eigentlich, dass in Italien jeden Monat eine Prostituierte umgebracht wird?"
"Ja, und neunzig Prozent von denen, die auf der Straße anschaffen gehen, haben AIDS. Aber wir arbeiten nicht auf der Straße. Uns drückt keiner Zigaretten auf den Brustwarzen aus."
"Und Vanessa - ich werfe einen Blick auf meine Notizen - "Liverani, warum tut sie es?"
"Weil sie einen Sohn zu ernähren hat, weil - keine Ahnung."
Ich sehe von meinem Block auf. "Sie hat einen Sohn?"
"William. Er lebt zum Teil bei ihr, und sonst ist er bei den Großeltern."
"Wie alt ist er?"
"Zehn, glaube ich. In der Nacht hatten wir ihn dabei ^ das heißt, er war in einem anderen Zimmer. Van hatte keinen Babysitter gefunden."
"Das ist ja wohl nicht gerade der geeignete Anschauungsunterricht für ein Kind."
"Willy hat keine Ahnung, was seine Mutter tut, er weiß nur, dass sie zu Partys geht und dort mit Freunden Spaß hat."
Ich sehe sie lange an. Sie hält meinem Blick stand.
"Hast du ein Foto von Vanessa?"
"Natürlich", sagt sie und holt aus ihrem winzigen Stoffhandtäschchen ein Bild heraus.
"Das ist sie?"
"Ja", bekräftigt sie stolz. "Das ist meine Freundin."
Die junge Frau auf dem Foto ist das exakte Ebenbild von der, die vor mir sitzt, die gleichen blonden Haare, schlanken Beine und mädchenhaften Hüften. "Ihr seht euch ähnlich", bemerke ich.
"Ja, das sagt jeder. Aber Van hat ihre Talente vergeudet. Sie schreibt Gedichte, kann ein bisschen Gitarre spielen und hat eine schöne Stimme."
Ich schaue mir noch einmal Vanessa Liverani an, ihren Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Unschuld und Verführung. "Sie hat auch ein schönes Lächeln."
"Ja, sie ist wunderschön, wenn sie lächelt. Schade, dass sie immer so schlecht drauf ist."
"Schreibst du auch Gedichte?"
"Libres alliances?"
"Oui, tu comprends?"
Du hattest die Decke um deine Beine gewickelt und brachtest etwas wie ein Lächeln hervor. Ich ging wieder zu dir, schon halb angezogen, und trat dabei auf den Rand eines mit Asche und Zigarettenkippen gefüllten Tellerchens. Du dachtest, ich würde dich auf den Mund küssen, aber ich zielte auf deine Stirn - meine Art, den Blinker zu setzen und die klassische Abkürzung zu nehmen. Du hast dir mit den Fäusten die Augen gerieben. Dein blaues T-Shirt hatte dunkle Schweißränder unter den Achseln: der wilde Geruch eines französischen Barbaren, der Spannungsliteratur schreibt, weil, wie du sagtest, Angst ein Gefühl ist, das Gott - falls es ihn gibt - nie empfunden hat.
Auf dem Nachttisch lag der Block, auf dem du dir während unserer Spaziergänge Notizen gemacht hattest: "Früher war diese Stadt von Kanälen durchzogen. Also eine Art Venedig, mit einem Hafen, Schiffen Und du hast aufgehorcht, als ich erzählte, dass es hier früher viele Brunnen gab, in denen die Mörder ihre Opfer versteckten.
Ich bestelle mir noch einen Kaffee.
Wer weiß, Marcel, woran du dich erinnern wirst, von den fünfunddreißig Kilometern Arkaden, dem Neptunsbrunnen, von Nicolo dell'Arcas "Madonna mit Kind", von der gotischen Chiesa San Francesco, von der Torre degli Asinelli oder der Torre della Garisenda. Und von mir, die neben dir stand und dir erzählte, hier seien schon Leopardi, Byron und Rossini durchgekommen.
"Oh, Leopardi, celui de la haie, celui de l'infini?"
"Ja, genau, Das Unendliche.
Danke, dass du meine fünf Kilo Übergewicht mit der üppigen Fleischlichkeit einer Rubensfigur verglichen hast, danke, dass du gesagt hast, die Schönheit einer Frau wachse mit dem Alter, und meine so unorthodoxe, aus dem Rahmen fallende Schönheit habe dich berührt, weil du Schriftsteller bist. "Les jeux sont faits", hätte ich dir am liebsten gesagt. "Du hast mich doch schon ins Bett gekriegt. Wozu musst du noch diesen ganzen Unsinn von dir geben?" Danke, dass du mir vom Paris der Fünfzigerjahre erzählt hast, dem der Keller der Musichalls, des Jazz, der Chansonniers, der professionellen Nachtschwärmer der Rive Gauche, diesen Märtyrern der Nacht, von denen du die Ringe unter den Augen und die Revoluzzerlieder geerbt hast. Danke, dass du Un poison violent, c'est ça l'amour von Serge Gainsbourg für mich rezitiert hast. Und vielen Dank vor allem dafür, dass du mir all diese Stunden geschenkt hast, von denen man dann als schöne Erinnerung zehren kann. Es war genau die richtige Anzahl, keine zu viel, keine zu wenig.
Hier, in dieser Bar, habe ich deine Hände betrachtet, eine gehört Dr. Jekyll, die andere Mr. Hyde. Wir haben alle solche Hände, Marcel, selbst wenn wir keine Kriminalromane schreiben.
"Embrasse-moi", hast du gesagt und meine Hände gedrückt, die rechte und die linke, die gute und die böse.
"Porte-toi bien écris-moi"
"Mach's auch gut, und ja, ich schreibe dir."
Du hast geseufzt, während du die Zigarettenkippe auf den Boden ins Sägemehl geworfen hast, und gesagt: "Ah, et - comment on dit? Une passion. Ca ne peut pas durer. Je le sais." (Ach ja wie sagt man noch? Eine leidenschaftliche Liebe kann nicht von Dauer sein - das weiß ich.) "Ne te fais pas de soucis pour moi (Mach dir um mich keine Gedanken.) "Bologna c'est une ville fantastique." (Bologna ist eine großartige Stadt.) Ich lächle vor mich hin: "Willkommen zu Hause, Giorgia."
Dann stelle ich die Tasse auf dem Tresen der Bar ab und begebe mich zum Ausgang des Flughafens. Dort steige ich ins erste freie Taxi und sehe gedankenverloren aus dem Fenster, hinaus auf die Leuchtreklamen.
Ich sitze im Freien an einem Tisch vor einer Bar in der Via Indipendenza, nippe an einem Bier und spiele mit dem Zündmechanismus meines Feuerzeugs. Wie sagt man in Deutschland noch in so einer Situation? Kopf hoch! Anscheinend hilft das, die Traurigkeit zu vertreiben.
Hier sitze ich nun mit meiner krummen Nase, dem unregelmäßigen Pony über meinen dunklen, tiefliegenden Augen, gedankenverloren wie eben jemand, der am Abend noch ein letztes Bier trinkt, um dann nach Hause zu gehen, seine Koffer auszupacken und das Regal mit ein paar Souvenirs aus Tunesien zu verschönern. Mir geht es gut. Es ist alles in Ordnung.
Ich bin gerade vierzig geworden. Ich habe zwar nicht die Religion, um mich zu betäuben, aber den Alkohol, und dann noch meinen Instinkt, der eigentlich mehr Wachhund als Instinkt ist. Und der sagt mir gerade: "Nur nicht übertreiben" und verbietet mir, ein weiteres eiskaltes Becks zu trinken.
Zwei Männer um die fünfzig mit grauen Schläfen und sonnengebräunten Gesichtern trinken Bellinis und starren den Mädchen, die vereinzelt an den anderen Tischen sitzen, auf den Bauchnabel. Einer von beiden sagt, es sei an der Zeit, zu kapitulieren und zu heiraten, natürlich eine Frau, die noch jung ist. Der andere meint, er wolle seine Freiheit nicht aufgeben und könne dem Anblick all dieser nackten Bäuche nicht widerstehen.
Ich lausche ihren anzüglichen Bemerkungen und frage mich, ob sie in den Taschen ihrer Leinenjacketts neben Atemgold auch Viagra mit sich herumtragen. Barock ist die Welt, wie schon Gadda sagt, leben und leben lassen. Wir reden schon alle wie die im Fernsehen.
Nein, es ist nicht der Alkohol, der unsere Gedanken so banal werden lässt. Heute kannst du jeden Tag ein Buch lesen, aber sobald du einen Blick auf den Fernseher oder in die Zeitung wirfst, sind Tolstois gesammelte Werke so gut wie vergessen. "The world is TV" hat schon Jimmy Hendrix gesagt. Das ist einfach, aber treffend. Liegt wahrscheinlich daran, dass Musiker die Welt von außerhalb der Gesellschaft betrachten.
Als ich in einer zerknitterten Ausgabe des Resto del Carlino blättere, lese ich, dass der amerikanische Soziologe Michael G. Zey behauptet, wir würden im Jahr 2050 durchschnittlich einhundertdreißig Jahre alt werden. Die Nanotechnologie wird die Alterungsprozesse der Zellen aufhalten können, und der größte Traum der Menschheit - so lange wie möglich jung zu bleiben - wird sich endlich verwirklichen lassen. Na ja, denke ich, jetzt ist es aber noch nicht so, und diese beiden alten Knaben wissen, dass die Zeit knapp wird und sie sich nicht bis in alle Ewigkeit einen schönen Lenz machen können.
"Sechs von zehn Akademikern sind Frauen. Sie sind fleißig, gebildet, gut organisiert, aber nicht sehr innovativ", sagt der eine. Und der andere: "Meine Studentinnen sagen, heute sind die Männer entweder frauenfeindlich oder schwul."
Ich habe es doch geahnt: Die beiden sind Dozenten. Sie witzeln vor sich hin, trinken ihre Bellinis und behalten dabei die Mädchen an den anderen Tischen im Blick, ihre dünnen, nervösen Körper unter transparenten Sommersachen, die Gesichter, auf denen das Alter noch keine Spuren hinterlassen hat, die noch unendlich viel Zeit haben, während die alt gewordenen Schwerenöter der Universitätsstadt Bologna besorgt auf ihre tickenden Uhren starren.
Bologna um zehn Uhr abends ist angenehm kühl, obwohl sich immer noch einige Frauen Luft zufächeln, und ein Kellner mit schweißüberströmter Stirn zwischen den Tischen umherrennt. Er scheint es nicht abwarten zu können, dass sich die Stadt endlich leert, damit er zu seiner Familie an irgendeinem Badeort in Apulien oder auf Sardinien stoßen kann.
Bologna. Stadt mit hoch entwickelter Dienstleistungsbranche, voller genossenschaftlich organisierter Betriebe, die gleichzeitig ihr Reichtum und ihre Krux sind. Stadt der Unternehmer, der großen Firmen, der Krankenhäuser, der zahllosen Angestellten, die jeden Morgen ihre Stechkarte bei Unipol, Manutencoop, Ima oder Camst abstempeln.
Als Marcel mich fragte, warum ich mich hier wohl fühle, habe ich ihm geantwortet: "Hier sind meine Erinnerungen, ich kenne hier alles, das ist die Stadt, in der ich geboren bin." Aber ich habe ihm nicht erzählt, dass diese Stadt früher einmal eine Seele hatte. Jetzt verstopft der Verkehr alle Straßen, die Leute werden immer misstrauischer und rümpfen die Nase über die Immigranten.
Darüber würde ich gern mit den beiden Dozenten vom Nachbartisch reden, wenn deren Sinne nicht so sehr damit beschäftigt wären, möglichst unauffällig nach nackten Lendengegenden oder frei unter T-Shirts wippenden Brüsten zu stieren.
Es wird Zeit, meine Biere zu bezahlen, dem Kellner ein Trinkgeld zu geben und meine müden Knochen und mein Gepäck bis zur Bushaltestelle zu schleppen. Eine Blondine in Shorts aus Jeansstoff fragt mich, ob ich Feuer habe. Eine andere Frau erzählt, es gäbe heute im Parco della Montagnola Kabarett. Das erinnert mich an die Sommer, die ich mit meiner Schwester in Konzerten oder bei Rezitationsabenden verbracht habe, und ich sage mir, dass diese Zeiten vorbei sind.
Ada wollte Schauspielerin werden. Eines Abends kam sie nach Hause, nachdem sie im Palazzo dei Congressi Carmelo Bene mit Byrons Manfred gehört hatte. Überdreht und überglücklich stellte sie sich vor den Spiegel und deklamierte mit weit ausholenden, theatralischen Gesten: "Jetzt zittre ich und fühl auf meinem Herzen seltsam kalten Tau. Doch ich kann tun, was mir am meisten widert." Als ich vom Tisch aufstehe, kommt mir der Gedanke, dass meine Schwester vielleicht genau an diese Worte gedacht hat, bevor sie sich aufgehängt hat.
Seit Lucio Spasimo zu seinem Liebsten Josh nach Sacramento geflogen ist, ist sein Arbeitszimmer mein Lieblingsplatz zum Nachdenken geworden. Ich lege die Füße neben die PC-Tastatur auf den Schreibtisch und schnipse die Asche meiner Camel in die Dose Budweiser, die ich gerade ausgetrunken habe.
Bevor Lucio sich verliebt hat, verbrachte er ganze Tage in diesen paar Quadratmetern ohne Fenster, dabei klebte er mit seiner runden Brille beinahe am Bildschirm, sein Kinn war schlecht rasiert, er hatte die Pausbacken eines zu gut genährten Jungen, schrieb Computerprogramme, überprüfte die Sicherheit von Firmennetzwerken und schützte sie vor Hackerangriffen.
Er verbrachte auch ganze Nächte hier, schlief ein paar Stunden auf diesem Sofa, das mehr einem Feldbett ähnelt, gehüllt in weich fallende Pullover in grellen Farben, um ihn herum Einwickelpapier von Schokoriegeln und leere Pepsiflaschen.
Das erreicht Liebe, wenn sie erwidert wird: Da nimmt jemand plötzlich ein Flugzeug, der Zeit seines Lebens sogar Angst davor hatte, in einen Bus zu steigen.
Und lässt mich hier zurück, mit heruntergelassenen Rollläden, in einem stillen Halbdunkel, in dem es keine dringend zu bearbeitenden Akten gibt, das Telefon seit Tagen nicht klingelt und mein Vater und ich, das bescheidene Ermittlerteam dieses Detektivbüros, uns mit einem Nicken und einem Brummen grüßen, wenn wir uns - was selten genug passiert - einmal begegnen.
Vor zwei Wochen hat sich der ehemalige Maresciallo Maggiore Fulvio Cantini Urlaub genehmigt und ist zu Jole aufs Land gezogen, einer Frau in seinem Alter, die er bei einem Bingoabend kennen gelernt hat. Ich hoffe und wünsche mir nur eins: dass sie es schafft, ihn vom Anisschnaps wegzubekommen.
Deshalb muss ich den Laden jetzt allein schmeißen _ Anfangs hat das Detektivbüro Cantini auch für Anwälte und Kleinunternehmer gearbeitet, aber heute kümmern wir uns meist um Fälle von ehelicher Untreue, vermisste Personen, Kinder, die die Schule schwänzen und in schlechte Gesellschaft geraten sind, Ehemänner, die wissen möchten, ob ihre Frauen, wie sie behaupten, in den Töpferkurs gehen oder zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, und Ehefrauen, die wissen möchten, ob ihre Männer, wie sie behaupten, zum Hallenfußball gehen oder zur donnerstäglichen Pokerpartie.
Mein Vater will mit Ehebruchgeschichten nichts zu tun haben, die gibt er an mich weiter, denn er meint, er sei in diesen Dingen sentimental. Offensichtlich hält er mich nicht gerade für romantisch. Laut Fulvio Cantini bin ich kaltblütig genug, den Leuten das Herz zu brechen, die es ganz genau wissen möchten, statt klugerweise der Wahrheit nicht auf den Grund gehen zu wollen.
Mein Vater überschätzt mich. Es lässt mich keineswegs kalt, Männer und Frauen zu sehen, die mir gegenüber ihre Liebesqualen auskotzen. Wenn ich Liebende fotografiere, die vor einem Vorstadthotel oder einem abgelegenen Restaurant Zärtlichkeiten austauschen, fühle ich mich außerdem wie ein Spion, der gleich Details ihrer heimlichen Beziehung an den Feind verraten wird; als wäre ich die moralische Instanz, die dem Vater oder dem rechtmäßigen Ehemann den Stock für die Bestrafungshiebe in die Hand legt. Und diese Rolle behagt mir nicht unbedingt.
Ich betrachte die kahlen Wände in Lucios Arbeitszimmer, die Spinnweben oben in den Ecken. Ich hebe ein gelbes Post-it vom Boden auf, das er beschrieben hat, und mit ihm Staubflocken, die ich in einem Papierkorb aus Plastik entsorge. Ich reibe mir Daumen und Zeigefinger am Stoff meiner Jeans sauber und denke, wäre er jetzt hier, würde ich ihm von meinem deprimierenden Urlaub in Hammamet erzählen, vom dreckigen Wasser in dem Pool voller Kinder, den stolzen Vätern, die deren Sprünge ins Wasser mit der Videokamera verewigten, der afrikanischen Sonne, die mir einen lästigen Sonnenbrand beschert hat. Von Eros Ramazotti, der ständig auf Höchstlautstärke dudelte, einem depressiven, knochendürren Kamel, das als Hintergrund für die üblichen Fotos herhalten musste, und schließlich von meinen einzigen Freunden dort: zwei Jungs mit Essstörungen, die sich genau wie ich am Büfett die Teller mit all diesen Scheußlichkeiten vollluden.
Das Schrillen der Türklingel holt mich in die Wirklichkeit zurück, zwingt mich dazu, aufzustehen und schnell zur Eingangstür zu laufen.
Eine junge Frau mit langen blonden Haaren scharrt ungeduldig mit den Füßen auf der Matte, zeigt auf das Schild DETEKTIVAGENTUR CANTINI und fragt mich: "Bist du das?"
"Was?"
"Na, der Detective."
"Wir sind hier nicht in Amerika."
"Okay."
"In Ordnung."
"Okay."
Ich gebe auf.
"Ich heiße Dora Arienti. Können wir hier irgendwo reden?"
Während ich ihr die Tür zu meinem Büro aufhalte, stelle ich fest, dass sie schön genug ist, um als Model arbeiten zu können. Sie trägt ein pinkfarbenes T-Shirt, Jeans mit Rissen über dem Knie und schwarze Pumps mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen.
Ich fordere sie auf, im Ledersessel Platz zu nehmen, den ich meist meinen Klienten anbiete. Bevor ich mich auf die andere Seite des Schreibtischs setze, schließe ich mit einem schnellen Fußtritt einen offen stehenden Karteikasten.
Metallregale und Rollschränke von Ikea, ein überfüllter Papierkorb, Zeitungsstapel und vergilbte Fotos vom einstigen Bologna an den Wänden füllen den übrigen Raum aus.
Dora Arienti verschränkt die Hände auf dem Schreibtisch, an ihren Daumen trägt sie dicke Silberringe. Sie beugt sich ein wenig vor, als wolle sie die Entfernung zwischen uns verkürzen, und stützt dabei ihre knochigen Ellbogen auf die Nussholzplatte. Mein Blick verharrt einen Moment auf ihrem üppigen Mund, ihren grünen Augen und ihrer Barbienase, die offensichtlich vom Schönheitschirurgen stammt.
"Deine Nummer war die erste, die ich im Telefonbuch gefunden habe. Es gibt nicht viele Detektivbüros in der Stadt."
Ihre Stimme klingt unangenehm laut, anscheinend ist sie eher an erregte Diskussionen als an zivilisierte Unterhaltung gewöhnt.
"Meine Freundin ist verschwunden. Schon seit sechs Tagen. Ich bin nicht zur Polizei gegangen, weil ich den Bullen nicht über den Weg traue", erzählt sie und sieht nervös zur Tür, als könne dort jeden Moment ein ganzes Rollkommando hereinstürmen. "Sie geht nicht an ihr Handy, und bei ihr zu Hause ist sie auch nicht."
Ich öffne eine Schreibtischschublade und hole einen Block heraus. "Lebst du mit ihr zusammen?"
"Nein."
"Wie heißt deine Freundin?"
"Vanessa Liverani, aber ich nenne sie Van. Jeder nennt sie Van, außer ihrer dämlichen Mutter."
Ich verziehe keine Miene und notiere mir die ersten Informationen. "Alter?"
"Einunddreißig. Ich bin ein Jahr älter."
Ich schaue sie erwartungsvoll an und warte auf mehr.
"Sie niest, wenn sie nervös ist."
Ich lehne mich in meinem Drehstuhl zurück. "Das ist ein bisschen wenig."
Sie atmet tief ein. "Also, bis vor ein paar Jahren hab ich noch in einer Bank gearbeitet und mit einem Traummann zusammengelebt. Und dann habe ich mir gesagt, das kann es doch nicht gewesen sein."
Seufzend frage ich sie: "Was wolltest du denn noch?" "Reisen, Geld verdienen, sehen, was es sonst noch gibt außer einer vorprogrammierten Zukunft."
"Ich verstehe", lüge ich.
"Van ist so eine, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Typ hat sie mir auf irgendeiner Party vorgestellt ^ Darf ich hier rauchen?"
Ich nicke und schiebe eine Muschel, die ich als Aschenbecher benutze, zu ihr hin.
Aus ihrer Umhängetasche, die so winzig wie eine etwas größere Geldbörse ist, holt sie ein silbernes Zigarettenetui und ein Feuerzeug.
"Na ja, und zwischen zwei Cuba Libres gesteht sie mir, sie hätte keine Lust mehr, nach Mailand zu fahren und dort Castings zu machen, inzwischen wäre sie zu alt dafür, aber früher hätte sie in vielen Fernsehshows mitgewirkt."
"Als was?"
"Das, was man halt so macht, wenn man ein Meter achtzig groß ist, einen so scharfen Hintern hat wie eine Brasilianerin und Körbchengröße D."
"Ach so."
"Sie hat gesagt, dass sie als Edelnutte arbeitet."
"Erklär mir das."
"Sie hat mir erzählt, dass es ein einträgliches Geschäft ist, sich die Lippen bei Blowjobs wundzublasen."
Ich gebe ihr Zeichen fortzufahren.
"Dann hat sie mich zu Spaccesi mitgenommen, der macht in Immobilien und hat eine Menge Freunde, Selbständige, Geschäftsleute auf der Durchreise. Da waren wir auch am letzten Abend, an dem ich sie gesehen habe. Um ein Uhr nachts haben wir uns verabschiedet." "Wer war sonst noch dabei?"
"Drei Freunde von Spaccesi. Ich hatte den Nachmittag mit Malerba verbracht, er baut Yachten. Das ist mein Lieblingskunde, auch weil der nie zum Schuss kommt. Zu viel Kokain. Also, wenn ich bei ihm bin, massiere ich ihm seinen halbsteifen Schwanz und lasse ihn sich auskotzen, von seinen Problemen erzählen.
"Spaccesi und der Vorname?"
"Gaetano. Der mag nicht, wenn du dich rasierst und Parfüm trägst." Nervös drückt sie die Zigarette aus. "Er ist grob, aber auch nicht schlimmer als die anderen."
Ich fege ein wenig Asche weg, die aus dem Aschenbecher geflogen ist. "Also hast du der Bank den Rücken gekehrt und angefangen, dich ebenfalls zu verkaufen?"
Sie verzieht den Mund. Ganz offensichtlich hat sie keine Lust auf eine Moralpredigt.
"Hat es Probleme mit Kunden gegeben?"
"Manche kosten es aus zu bezahlen, das ist ihre Art von Orgasmus. Andere stehen auf Dreier, dann arbeiten Van und ich zusammen."
"Weißt du eigentlich, dass in Italien jeden Monat eine Prostituierte umgebracht wird?"
"Ja, und neunzig Prozent von denen, die auf der Straße anschaffen gehen, haben AIDS. Aber wir arbeiten nicht auf der Straße. Uns drückt keiner Zigaretten auf den Brustwarzen aus."
"Und Vanessa - ich werfe einen Blick auf meine Notizen - "Liverani, warum tut sie es?"
"Weil sie einen Sohn zu ernähren hat, weil - keine Ahnung."
Ich sehe von meinem Block auf. "Sie hat einen Sohn?"
"William. Er lebt zum Teil bei ihr, und sonst ist er bei den Großeltern."
"Wie alt ist er?"
"Zehn, glaube ich. In der Nacht hatten wir ihn dabei ^ das heißt, er war in einem anderen Zimmer. Van hatte keinen Babysitter gefunden."
"Das ist ja wohl nicht gerade der geeignete Anschauungsunterricht für ein Kind."
"Willy hat keine Ahnung, was seine Mutter tut, er weiß nur, dass sie zu Partys geht und dort mit Freunden Spaß hat."
Ich sehe sie lange an. Sie hält meinem Blick stand.
"Hast du ein Foto von Vanessa?"
"Natürlich", sagt sie und holt aus ihrem winzigen Stoffhandtäschchen ein Bild heraus.
"Das ist sie?"
"Ja", bekräftigt sie stolz. "Das ist meine Freundin."
Die junge Frau auf dem Foto ist das exakte Ebenbild von der, die vor mir sitzt, die gleichen blonden Haare, schlanken Beine und mädchenhaften Hüften. "Ihr seht euch ähnlich", bemerke ich.
"Ja, das sagt jeder. Aber Van hat ihre Talente vergeudet. Sie schreibt Gedichte, kann ein bisschen Gitarre spielen und hat eine schöne Stimme."
Ich schaue mir noch einmal Vanessa Liverani an, ihren Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Unschuld und Verführung. "Sie hat auch ein schönes Lächeln."
"Ja, sie ist wunderschön, wenn sie lächelt. Schade, dass sie immer so schlecht drauf ist."
"Schreibst du auch Gedichte?"
... weniger
Autoren-Porträt von Grazia Verasani
Grazia Verasani wurde 1963 in Bologna geboren. Nach dem Abschluss an der Schauspielschule arbeitete sie als Schauspielerin und Liedermacherin, bevor sie 1999 ihren ersten Roman veröffentlichte. "Briefe einer Toten" ist der erste Teil einer Krimireihe um die Privatdetektivin Giorgia Cantini und wurde von Gabriele Salvatores fürs Kino verfilmt. Der zweite Band der Reihe ist bei Goldmann in Vorbereitung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Grazia Verasani
- 2009, 255 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Neeb, Barbara; Schmidt, Katharina
- Übersetzer: Katharina Schmidt, Barbara Neeb
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442466482
- ISBN-13: 9783442466481
Rezension zu „Die Tote in der Feengrotte “
"Giorgia Cantini ist Sam Spades kleine italienische Schwester."
Kommentar zu "Die Tote in der Feengrotte"
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