Die Tränen der Signora
Sandro Cellini ermittelt in seinem ersten Fall. Roman
Der erste hinreißende Florenz-Krimi mit dem melancholischen Expolizisten Sandro Cellini
Zwei Jahre ist es her, dass Sandro Cellini seinen Dienst bei der Polizei quittieren musste. Sein Mitgefühl mit einem Opfer hatte zu Indiskretionen und seiner...
Zwei Jahre ist es her, dass Sandro Cellini seinen Dienst bei der Polizei quittieren musste. Sein Mitgefühl mit einem Opfer hatte zu Indiskretionen und seiner...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Tränen der Signora “
Der erste hinreißende Florenz-Krimi mit dem melancholischen Expolizisten Sandro Cellini
Zwei Jahre ist es her, dass Sandro Cellini seinen Dienst bei der Polizei quittieren musste. Sein Mitgefühl mit einem Opfer hatte zu Indiskretionen und seiner Frühpensionierung geführt. Nun beginnt er auf Anraten seiner Frau eine neue Laufbahn als Privatdetektiv. Nur wer sollte ihn engagieren bei so viel junger Konkurrenz? Als ein älterer Künstler im Arno ertrinkt und eine junge Kunststudentin verschwindet, sagt Cellini die Erfahrung eines alten Hasen, dass er nach Zusammenhängen zwischen den beiden Fällen suchen sollte ...
Zwei Jahre ist es her, dass Sandro Cellini seinen Dienst bei der Polizei quittieren musste. Sein Mitgefühl mit einem Opfer hatte zu Indiskretionen und seiner Frühpensionierung geführt. Nun beginnt er auf Anraten seiner Frau eine neue Laufbahn als Privatdetektiv. Nur wer sollte ihn engagieren bei so viel junger Konkurrenz? Als ein älterer Künstler im Arno ertrinkt und eine junge Kunststudentin verschwindet, sagt Cellini die Erfahrung eines alten Hasen, dass er nach Zusammenhängen zwischen den beiden Fällen suchen sollte ...
Klappentext zu „Die Tränen der Signora “
Der erste hinreißende Florenz-Krimi mit dem melancholischen Expolizisten Sandro CelliniZwei Jahre ist es her, dass Sandro Cellini seinen Dienst bei der Polizei quittieren musste. Sein Mitgefühl mit einem Opfer hatte zu Indiskretionen und seiner Frühpensionierung geführt. Nun beginnt er auf Anraten seiner Frau eine neue Laufbahn als Privatdetektiv. Nur wer sollte ihn engagieren bei so viel junger Konkurrenz? Als ein älterer Künstler im Arno ertrinkt und eine junge Kunststudentin verschwindet, sagt Cellini die Erfahrung eines alten Hasen, dass er nach Zusammenhängen zwischen den beiden Fällen suchen sollte ...
Lese-Probe zu „Die Tränen der Signora “
Die Tränen der Signora von Christobel Kent Aus dem englischen von Christine heinzius
Kapitel 1
s dauerte vier tage, bis es an der tür klopfte. Vier lange, eruhige tage im matten licht eines außergewöhnlich milden
novembers und viel Zeit für sandro, um zu entscheiden,
ob ihm die zwei Zimmer, die luisa als büro für ihn gefunden
hatte, gefielen, auch um sich darüber klar zu werden, was er
hier überhaupt tat.
es wäre sandro nie in den sinn gekommen, dass er mit seinem
ersten Auftrag gleich ins kalte Wasser springen musste.
er hatte gedacht, dass er sich langsam hineinfinden würde,
aber so funktioniert das leben nicht. es war eine lektion, die
er eigentlich schon vor langer Zeit hätte lernen müssen, das
leben warnt nicht vor.
... mehr
Die Zimmer, die luisa gefunden hatte, waren eckig, hell
und einfach, sie lagen im zweiten stock in einer friedlichen
seitenstraße der Piazza tasso in san Frediano. Die straße
hieß Via del leone, und an der ecke befand sich ein kleiner,
verglaster Altar für die Madonna mit mindestens vier brennenden
Kerzen, das Zeichen einer gottesfürchtigen nachbarschaft
oder einer abergläubischen, je nachdem, wie man es
betrachtete. sandro Cellini stand irgendwie zwischen beiden
Ansichten, als Katholik geboren - natürlich -, aber durch
dreißig Jahre Polizeitraining zu einem rationalisten geworden.
er war durch seine Arbeit zu sehr zum Zweifler geworden,
um öfter als ein paar Mal jährlich, an ostern und zu taufen,
in die Messe zu gehen, aber der Altar gefiel ihm trotzdem.
Und wo Gott war, da waren alte Damen. Als er noch bei der
Polizei gewesen war, eine Formulierung, die ihn immer noch
erschrak, hatte sandro die erfahrung gemacht, dass fromme,
ältere Damen immer bereitwillig und detailliert Auskunft gaben
und Kerzen für göttliche hilfe anzündeten.
Die Gebäude in der Via del leone waren bescheiden, nicht
höher als drei stockwerke, und als Folge davon war die straße
sonniger und ruhiger als sein heimatviertel, wenn hier das
erste der morgendlichen motorini auf dem Weg ins Zentrum
hindurchfuhr, quälte es das ohr nicht ganz so sehr. nördlich
des Flusses in santa Croce geboren und aufgewachsen, auf lauten,
engen straßen, die nie ein sonnenstrahl traf, fragte sandro
sich, ob er sich jemals an diese ruhe gewöhnen könnte.
es war Florenz, ganz eindeutig, aber es war nicht die stadt,
in der er achtundfünfzig Jahre lang jeden Morgen aufgewacht
war, in der nur ein streifen blauen himmels sichtbar war und
die straßen schon um sieben Uhr früh vor lärm dröhnten.
eine kakofonische oper, bestehend aus Mülltonnen, die geleert
wurden und dabei aneinanderschlugen, dem Quietschen
der bremsenden busse, dem rumpeln der taxis, der ersten
touristengruppen des Morgens, die an der ecke anhielten, um
auf spanisch, Deutsch oder Japanisch laut darüber informiert
zu werden, wo Dante geboren worden ist und wo Galileo begraben liegt.
Als er hinunterschaute, sah sandro, dass die straße zwar
ruhig war, aber nicht verlassen. er beobachtete eine alte
Frau, die ihren kleinen, einen Mantel tragenden hund an
den rinnstein führte, damit er an das Vorderrad eines Wagens
kacken konnte. er überlegte, dass er schon bald wüsste, wem
dieses Auto gehörte und ob die hinterlassenschaft des hundes
ihm etwas ausmachte oder nicht. Die Frau trug einen mit
genommenen strauß Chrysanthemen, sie war zweifellos auf
dem Weg zum Friedhof. Auf der anderen seite sah er ein hübsches
Mädchen, vielleicht eine studentin, mit langen haaren,
langen beinen in dunklen Jeans und einer idiotisch großen,
gepolsterten und mit Quasten versehenen handtasche.
sie rannte, offensichtlich in eile, fast genau gegenüber machte
sie einen bogen um die alte Dame mit ihren blumen und
ihrem hund, und als wüsste sie, dass er dort oben war, legte
das Mädchen den Kopf in den nacken und sah zu sandro hinauf.
ihr blick glitt über ihn, und er zog sich beschämt zurück.
er war doch nicht hier, um Passanten zu beobachten, oder?
sandro ging wieder an seinen schreibtisch. er war genau wie
die Wohnung für ihn gefunden worden, wie jedes andere Möbelstück
auch, vom grauen Aktenschrank bis zum alten, aber
respektablen Computer, alles von luisa. in der stille überlegte
er sich, dass wenigstens das Fehlen der touristengruppen ein
Glück war. Dass ihm das Geräusch der Vespas und der busbremsen
tatsächlich gefiel, war vielleicht seine eigene Perversion,
hingegen hatte er nie gelernt, die touristenführer zu lieben.
luisa hatte ihn darauf hingewiesen, dass er besser lernen sollte,
die touristen zu lieben, da sie sich als sein lebensunterhalt
herausstellen könnten, genau, wie sie ihrer waren.
»ich werde morgen anfangen«, hatte er verkündet, als sie am
vorigen Abend aus dem laden nach hause gekommen war.
Das war nicht gut angekommen.
»An ognissanti?«, fragte luisa leicht betroffen. »Wirklich?«
sie stand in der Küche, hatte den Mantel noch an und roch
nach holzrauch von der straße.
ognissanti war Allerheiligen, der erste november, gefolgt
von Allerseelen am tag danach. Zwei tage, an denen alle blätter
auf einmal fallen und blumen auf die Gräber von lieben Ver-
wandten gelegt werden. traditionell war ognissanti ein tag
des ruhigen insichgehens und des Gedenkens der sterblichkeit.
»Warum nicht?«, verteidigte sandro sich. »heute nachmittag
kam der Anruf, dass das telefon freigeschaltet ist. ich
habe genug davon, herumzuhängen.«
Aber er wusste, warum nicht. religion, Gewohnheit, Verpflichtung
gegenüber den toten, außerdem wäre es irgendwie
ungünstig, mitten in der Woche anzufangen. obwohl luisa
nicht religiöser war als er, so spürte sie die familiäre Verpflichtung
stärker, da ihre Mutter erst kürzlich gestorben war.
sie musste früh aufstehen, um blumen aufs Grab ihrer Mutter
draußen in scandicci zu legen, bevor sie dann in die stadt fuhr.
»Du wirst doch selbst auch arbeiten«, sagte sandro.
Wie bei vielen anderen religiösen Festtagen wurde der status
als offizieller Feiertag immer weiter ausgehöhlt, vor allem
in den großen städten mit ihren reichen, gottlosen besuchern;
luisas Chef, Frollini, hatte diesem trend schon vor
Jahren nachgegeben. im november lief das Geschäft gut,
das lager war brechend voll, und in den schaufenstern lagen
schaffelle, samt und Abendkleider. luisa gefiel es nicht,
aber das war das neue italien.
»es kommt mir so vor, als bringe es Unglück«, sagte sie unsicher.
»ich will es nicht länger herausschieben«, sagte sandro
entschlossen, und sie wusste, dass zumindest das stimmte.
Murrend war sie sogar noch früher als üblich aufgestanden,
um für ihn zu kochen.
»Dein erster tag, du wirst was Warmes zu essen brauchen«,
sagte sie, als er verschlafen die Küche betrat, um mit ihr zu
schimpfen. Die perfekten lilien, die sie am Abend vorher für
ihre Mutter gekauft hatte, standen im spülbecken.
sie hatte ihm baccalà gekocht, stockfisch mit toma-
ten, und als sandro sechs stunden später an seinem neuen
schreibtisch die Folie vom teller nahm, war er immer noch
warm, aber es war ja auch gerade erst Mittag. er war drei stunden
bei der Arbeit gewesen und hatte nichts getan, außer ein
Mädchen durchs Fenster zu beobachten und im Computer
eine Datei für seine buchhaltung zu öffnen und sie dann wieder
zu schließen. Ausgaben bisher: fünftausend euro, mehr
oder weniger. einnahmen: null.
sandro verschlang den üppigen, salzigen eintopf in fünf
großen schlucken, da er plötzlich zu verhungern schien. er
kleckerte ein bisschen sauce auf seinen schreibtisch, und
obwohl er sie sofort fluchend wegwischte, blieb ein kleiner,
orangefarbener Fleck zurück. ein toller start, dachte er. Was
werden die Klienten denken, wenn überhaupt je welche auftauchen
sollten? er hatte lust, etwas an die Wand zu werfen,
was war er für ein tölpel! An diesem Abend sagte er zu luisa,
dass er es vielleicht mal mit der örtlichen Kaffeebar fürs Mittagessen
versuchen werde, sie sah ihn aufmerksam an.
»schmeckt dir mein essen nicht mehr?« er schüttelte den
Kopf. »Doch, natürlich«, sagte er. »es ist nur ... na ja. ich muss
die nachbarschaft kennenlernen.« sie nickte und beschloss,
nicht beleidigt zu sein. er sagte ihr nicht, dass er sich durch den
baccalàzwischenfall wie ein kleiner Junge am ersten schultag
fühlte, auf einem schmalen Grat kurz vor der Verzweiflung.
»Wie war es auf dem Friedhof?«, fragte er.
sie war blass, ihm wurde bewusst, dass sie schon seit sechs
auf den beinen war, und er verfluchte sich, weil er sie so hart
arbeiten ließ. er hätte doch einfach sagen können, ich fange
morgen an, oder nicht?
»Gut«, sagte sie. »es war gut.« sie lächelte, er erkannte,
dass es sie trotz ihrer blässe und Müdigkeit glücklich gemacht
hatte. Für luisa löste der besuch auf dem Friedhof immer et-
was aus, sie sprach immer noch mit ihrer Mutter, sie hat einmal
am Grab gestanden und zwanzig Minuten lang die lilien
arrangiert. es war ein weiteres beispiel ihrer geheimnisvollen
Überlegenheit, dass luisa keine Angst vor der trauer hatte.
sandro war neunzehn gewesen und beendete gerade seinen
Wehrdienst, als seine Mutter starb, sie hatte Krebs gehabt,
aber sandro hat nie erfahren, welchen. er kam zur beerdigung
in Uniform nach hause, unfähig zu weinen. seinen
Vater begrub er ein Jahr später, seine eltern waren hart arbeitende
landmenschen gewesen, die keine Zeit für Gefühlsausbrüche
hatten, und auch wenn sein Vater gerade erst sechzig
war, war der Verlust einfach zu viel für ihn gewesen. sandro
war durch ihre abrupte Abwesenheit überwältigt und konnte
nur noch schweigen.
es war plötzlich zu spät, um sie noch irgendetwas zu fragen.
sechs Monate danach hatte er luisa getroffen und ihr einen
heiratsantrag gemacht. Damals war es ihm als einzige Möglichkeit
zu überleben erschienen; innerhalb von fünf Jahren
wurde ihm bewusst, dass er sich nur noch dann an das Gesicht
seines Vaters erinnern konnte, wenn er dessen Foto aus der
schublade nahm und es genau betrachtete. sie steckten irgendwo
in seinem Kopf, die beiden, hand in hand als Paar in
altmodischen Kleidern, aber er wollte nicht an sie denken, er
verfügte nicht über luisas Fähigkeit, die trauer an die hand
zu nehmen und zur Freundin zu machen.
»ich habe sehr viel Glück«, sagte er zu ihrem rücken, als
sie irgendetwas am herd rührte. »sehr viel Glück.«
etwas, worüber sandro nachdachte, als er am zweiten tag,
an Allerseelen, dasaß, es war etwas bedeckter als an tag eins,
das novemberlicht etwas dünner und blasser, war die Veränderung
seiner beziehung zu luisa. Dreißig Jahre ehe - oder
waren es einunddreißig? -, und plötzlich übernahm luisa die
Führung. solange er bei der Polizei gewesen war, waren sie auf
unterschiedlichen Gleisen unterwegs gewesen, zwei lokomotiven
mit scheuklappen, jede, ohne auf das Ziel der anderen
zu achten. Voller schmerz dachte er an die große Polizeiwache
draußen an der Porta al Prato auf der geschäftigen viale. Am
nordöstlichen Zugang zur stadt steht die Wache, die warmen,
betriebsamen Flure, die langen Fenster mit den läden, die Kameradschaft.
Fehlgeleitete nostalgie, sagte er sich, wo war die
Kameradschaft denn jetzt?
Das war unfair, ganz offensichtlich. er sah seine alten Kollegen
immer noch ab und zu in der stadt, sie nickten sich
zu und wechselten ein paar Worte auf der straße, er dachte,
sie würden es bestimmt einen Kaffee lang mit ihm aushalten,
sollte er sich jemals wieder in der Kaffeebar wiederfinden, die
sie immer besucht hatten. Aber worüber sollten sie reden?
»tut mir leid, mein Freund?« Das düstere alte Caffé tramvai,
früher, noch vor sandros Geburt, fuhr die straßenbahn
an der Porta al Prato vorbei, mit seinen resopaltischen und
dem sechzigerjahre-Dekor und den besten trippa alle fiorentina
der stadt. Wenn er unvorsichtig war, dachte er ab und zu an
die Mittagspausen: sie trafen sich alle um halb eins und aßen
das ragout im stehen aus kleinen schüsseln, dampfend, voller
Knoblauch, tomaten und zarten Fleischstückchen. Aber
dieser freundliche Kaffee würde wohl nie getrunken werden,
oder? sandro mied den ort seit seinem Abschied an einem
kalten, dunklen Januartag vor fast zwei Jahren wie die Pest.
sandro war kein Polizist mehr. Zumindest, dachte er finster,
war er nicht entlassen worden, weder unehrenhaft noch sonst
wie, zumindest hatte man ihm die Frühpensionierung ermöglicht.
es bedeutete mehr als nur, dass er sein Gesicht gewahrt
hatte, es bedeutete, dass er arbeiten konnte, denn die Chan-
cen für einen unehrenhaft entlassenen Polizisten waren sehr
gering. sollten seine Kollegen Verständnis für sein Vergehen
gehabt haben, so wusste sandro es nicht, er suchte nicht danach,
er wollte keine Vergebung. Das Vergehen, vertrauliche
informationen an den Vater eines entführten Kindes weitergegeben
zu haben.
Das Kind war zu einem schlechten Zeitpunkt verschwunden,
wenn man an Astrologie glaubte, an eine zerstörerische
Planetenkonstellation, dann war es von Anfang an unausweichlich,
dass sich daraus eine weitere tragödie entwickeln
würde. es war vor langer Zeit, luisa jenseits der vierzig, und
die Möglichkeit, niemals eigene Kinder zu bekommen, wurde
zu einer eiskalten Gewissheit für beide. Das Mädchen, neun
Jahre alt, war aus einem vollen swimmingpool verschwunden,
ihre leiche wurde Wochen später im schilf einer Flussbiegung
in den Apenninen gefunden.
niemand wurde verhaftet, obwohl sie durchaus einen Verdächtigen
hatten, und sandro hatte Kontakt zum Vater des
Kindes gehalten. Warum? Manchmal sagten leute zu ihm,
dass es offensichtlich war, warum, es war ein menschlicher
impuls, aus Mitgefühl, aber sandro hatte bei der disziplinarischen
Anhörung keine entschuldigung vorgebracht, er hatte
geschwiegen, als man ihn danach gefragt hatte. er hatte
bloß zugegeben, dass er den trauernden, nun kinderlosen Vater
weiter informiert hatte, ihm schließlich den namen und
den Aufenthaltsort des hauptverdächtigen im Falle des Mordes
an seiner tochter sowie jede weitere information gegeben
hatte. Und als der Verdächtige, der nie angeklagt worden war,
ermordet wurde, wurde der ganze Fall wieder aufgewickelt.
sandro war sofort klar gewesen, dass er für den tod des Pädophilen
verantwortlich war, egal, wer ihm tatsächlich das
Messer an die Kehle gehalten hatte.
Der tote Mann war schuldig gewesen, das wussten sie jetzt,
aber sein Verhalten war trotzdem falsch gewesen. ein kleines
Vergehen gegen das Gesetz, und alles bricht mit erschreckender
Geschwindigkeit auseinander. Der Mörder wurde ermordet,
und eines seiner opfer endete mit blut an den eigenen
händen. Und wenn man einen Mann, der einem vertraut,
den Partner seit über einem Jahrzehnt, anlügt, kann man sich
nicht sicher sein, dass er einem je wieder vertrauen wird.
Auf diese Weise verlor sandro den boden unter den Füßen.
Aber dreißig Jahre Polizeidienst hinterlassen ihre spuren, es
war zu spät für ihn, irgendetwas anderes zu werden.
Pietro war natürlich immer noch ein Freund, eine Partnerschaft
von über dreizehn Jahren war einer ehe sehr ähnlich.
Pietro kam immer noch jeden zweiten Donnerstag gewissenhaft
zur Wohnung, um sandro auf einen Drink mitzuschleppen,
um über Fußball und den todessturz der Fiorentina durch
die ligen zu reden und um über den neuen commissario zu jammern,
der aus turin hierher versetzt worden war, nichts, was
zu intim war. sie sprachen nicht über sandros schande, und
auch wenn sandro die Wärme von Pietros Mitgefühl empfand,
so scheute er sich doch, ihm zu danken, das war nicht
die Art von beziehung, die er wollte.
Dreizehn Jahre im selben einsatzwagen, da lernt man den
Geruch der socken des anderen Mannes kennen, sein Aftershave,
was er zum Frühstück isst. Wie er seinen Kaffee trinkt.
Caffè alto für Pietro, schnell hinuntergekippt und sofort noch
einen, um den tag mit einem Kick zu beginnen, nach dreizehn
Jahren gibt es Fragen, die man nicht mehr stellen muss.
Wenn sandro heute manchmal allein seinen Kaffee trank,
musste er die Augen schließen, um sich nicht die alten Zeiten
wieder zurückzuwünschen.
Vielleicht hatte luisa schon immer geführt. sandro saß mit
geschlossenen Augen im dünnen sonnenlicht und fühlte sich
merkwürdig beruhigt, als er über diese Möglichkeit nachdachte.
Die langen Jahre des stillen gemeinsamen Unglücks, während
deren jeder sein eigenes Päckchen getragen hatte - das
Fehlen von Kindern, die hässliche Alltagsarbeit der Polizei,
das Verschwinden von erwartungen - luisa hatte die ganze
Zeit über die Führung. sie wartete auf den Augenblick, in dem
ihre überragenden Fähigkeiten gebraucht würden.
Während dieser vier tage in der Via del leone kam er zu
dem schluss, dass luisa ganz genau wusste, was sie tat. er war
mit ihr zur besichtigung gegangen, aber er hatte das Potential
der Wohnung nicht erkannt, ehrlich gesagt hatte es ihn sogar
enttäuscht. luisa hatte auf den üblichen geheimnisvollen
Wegen herausgefunden, dass sie bald verkauft werden würde,
eine Wohnung im zweiten stock, zwei Zimmer und eine winzige
Küche, bewohnt von einem erschöpft aussehenden, älteren
ehepaar und der behinderten tochter, die in eine »passendere
« Wohnung ziehen würden. Das hätte ihm eigentlich
auffallen müssen, sozialwohnungen waren nicht leicht zu bekommen,
und die Comune griff nicht so schnell ein. Die behinderte
tochter war mittleren Alters, hatte von Geburt an
einen hirnschaden und war querschnittsgelähmt, sie war in
der winzigen Küche in einem rollstuhl geparkt. Die Wohnung
hatte kein badezimmer, eine tatsache, die sandro erst
bewusst wurde, als sie gingen.
»Mein Gott«, sagte er unten auf der straße und dachte an
all die Jahre, während deren die eltern ihr hilfloses Kind die
treppe hinauf- und heruntergetragen hatten, bis sie zu einer
Frau mittleren Alters geworden war. luisa hatte seine hand
gedrückt. »es ist ein trauriger ort«, sagte sie. »ich glaube, deswegen
konnten sie keinen nachmieter finden.«
Deswegen und vielleicht auch wegen des hofs des bau-
unternehmens unter dem Fenster, der im Moment voller orangefarbener
Plastikrohre lag. Aber man konnte einen teil der
rückseite von santa Maria dell'Carmine sehen, wenn man
sich darauf konzentrierte, auf die Fresken darin, die sandro
nicht mehr gesehen hatte, seit er ein kleiner Junge gewesen
war, Adam und eva, eva mit ihrer hand am Mund. Diese
Dinge gingen ihm während der untätigen stunden durch den
Kopf. er fragte sich, wo sie heute waren, dieses ehepaar und
ihre alternde tochter, und ob sie die Aussicht vermissten. Unsinn,
hätte luisa barsch gesagt. Modernes badezimmer, ebenerdiger
Zugang, Aufzug und Geländer und andere Annehmlichkeiten,
nachdem man vierzig Jahre das erwachsene Kind
zwei etagen die treppen hochgehievt hatte? Unsinn. es eignete
sich gut als büro, und den Alten ginge es dort, wo sie jetzt
waren, sicher besser.
Am zweiten tag, kurz vor dem Mittagessen, schaute sandro
wieder auf die straße, er sah die Frau mit ihrem hund, und
ihm wurde bewusst, dass er nach dem Mädchen Ausschau hielt.
War das eine alte Polizeigewohnheit, um das Viertel kennenzulernen,
oder lag es daran, dass sie hübsch war? er drehte sich
um, wollte im Zweifel lieber vorsichtig sein. sie war hübsch.
Wieder in sicherheit im hinteren teil des hauses, hatte
sandro seine Ausgabe von La Nazione auf dem schreibtisch
ausgebreitet und war sie durchgegangen, als wäre es seine Arbeit,
jede Geschichte in der Zeitung zu lesen. er las zunächst
die großen Artikel, die nationalen neuigkeiten. Der Müll in
neapel, Dioxin, das aus Giftmüll in die nahrungskette gelangte.
ein neues buch über die Camorra und einen Artikel
über kalabrische Gangster, die in der toskana eigentum kauften.
sein Magen fühlte sich sauer und voll an, mein land,
dachte er und starrte auf die seite, es gab eine Zeit, da wäre
dies seine Arbeit gewesen. Draußen an der Porta al Prato hät-
te er sein Pistolenhalfter umgeschnallt, sich die spitze Mütze
aufgesetzt und wäre mit Pietro durch die tür gegangen,
sie hätten bitter über ihre schlechte Aufklärungsrate gelacht,
über all die scheiße, die immer noch auf sie wartete - aber so
wie jetzt hatte er sich damals nie gefühlt.
er arbeitete sich weiter vor bis zu den lokalen ereignissen:
illegale, die auf der baustelle zur erweiterung der Uffizien arbeiteten,
ein Überfall auf der viale, in den ein Kind verwickelt
war. ein Arzt, der im trasimeno see ertrunken war und einem
satanischen Kult angehörte. sandro arbeitete sich bis
zum ende durch, bevor er die Zeitung kraftlos zuschlug.
Am nachmittag ging sandro auf die straße, damit er luisa
etwas zu erzählen hatte, wenn er nach hause kam. Das essen
in der nächstgelegenen Kaffeebar war schlecht, ein altes
brötchen mit trockenem schinken, und der Fußboden war
schmutzig. es war auch kalt geworden, nach einem schnellen
spaziergang zur Piazza tasso und zurück, an der ecke waren
heute nachmittag sieben Kerzen für die Jungfrau Maria angezündet
worden, hatte sandro beschlossen, eines tages auf die
Gläubigen zu warten, seine zukünftigen informanten, er beeilte
sich, in die Wohnung zurückzukommen, wo die uralten
heizungen laut knackten, um mit der Kälte schritt zu halten.
Als sandro die zugigen treppen hinaufstieg, versuchte er
sich den ort im Juli vorzustellen, denn san Frediano, das für
straßenkehrer und bescheidene handwerker gebaut worden
war, hatte den ruf, eine sonnengebleichte Wüste zu sein,
ohne hohe steinfassaden und tiefe Dachvorsprünge, die die
einwohner vor der sonnenhitze schützten. brauchten die
Menschen im Juli Privatdetektive?
Als sandro wieder einmal klar wurde, dass er das nun war,
ein Privatdetektiv, musste er gegen den impuls ankämpfen,
die hände vors Gesicht zu legen und zu stöhnen.
Kapitel 2
ntlang der Autobahn zum Flughafen standen Plakatwänede,
die für die Agenturen warben. Das bild eines jungen
Mannes mit einem spitzen hut, mit schulterhalfter oder einem
Wappen im stil von Pinkerton. Diskret und gewissenhaft,
jegliche Art von ermittlungen werden übernommen.
Finanziell, persönlich, beruflich. Überwachungsexperten.
sie hatten darüber gelacht, als sandro noch im Dienst war,
auch wenn das lachen unsicher gewesen war. ein paar der
Privatdetektive waren selbst halbe Kriminelle und dazu auch
noch clever, manche waren fast schwindler, andere faul, wieder
andere dumm. Aber es gab auch andere - die laureati, mit
ihren Abschlüssen in it und Control engineering: Modern,
computergeschult, hart arbeitend waren sie der Grund für das
unsichere lachen, eine Art von neid bei denen, die in der
knirschenden, alten Maschinerie der Polizei feststeckten.
Wo war unter all denen Platz für jemanden wie sandro,
einen Deppen, wenn es um Computer ging, alte schule,
ein ein-Mann-orchester? es war ein haifischbecken, eine
schlangengrube. es war natürlich luisas idee gewesen.
»Du bist fantastisch in deinem Job«, hatte sie gesagt, während
er schwieg. »Du hast Grundlagenwissen über Computer.«
stimmte schon, er gehörte vielleicht zur alten schule,
aber selbst die Polizia statale war computerisiert. »Du sprichst
ein bisschen englisch.« sandro grunzte als Antwort. sein
englisch war während der letzten zwanzig Jahre kaum perfektioniert
worden, indem er Anzeigen von touristen über gestohlene
Geldbeutel aufgenommen hatte und sich dabei mit
einem Dutzend unterschiedlicher Akzente herumgeschlagen
hatte: louisiana, liverpool, london. »Dabei könnte ich dir
übrigens auch helfen«, sagte luisa nachdenklich.
sandro hatte sich bemüht und fragte sanft: »Glaubst du
wirklich, dass es einen, wie nennst du es, einen Markt dafür
gibt? Für eine ein-Mann-Firma?«
luisa legte den Kopf schief und sagte bestimmt: »Ja, das
glaube ich.« er wartete. »hör mal«, sagte sie ernst. »Die alten
Damen.« Die nun wieder. »Die ... ich weiß nicht, die
omas, die einzelpersonen, ich spreche nicht von großen Firmen,
caro, obwohl ich annehme, dass die Geld haben und ich
nicht ganz verstehe, warum ...« Aber als sie seinen Gesichtsausdruck
sah, wie er sich vorstellte, seine Dienste irgendwo
in einem sitzungssaal anzupreisen, wechselte sie stirnrunzelnd
das thema. »echte Menschen, kleine leute, die innerhalb
des systems nicht vorankommen.« Widerwillig hatte sandro
dazu genickt. es gab solche leute.
sie lehnte sich ermutigt vor. »Und die Ausländer. Vielleicht
nicht die touristen, die sind nur ein paar tage hier,
maximal eine Woche. Aber diejenigen, die hier wohnen, die,
die gern hier wohnen würden? Die Auswanderer?«
»Wozu brauchen die einen Privatdetektiv?«, fragte sandro.
»sei doch nicht dumm.« Fast sofort bereute er seine bemerkung.
luisa war auf den beinen, sie lief um den runden Küchentisch,
ihre kleinen Absätze klickten auf dem pavimento.
sie war gerade von der Arbeit nach hause gekommen, trug
immer noch das, was er als ihre Uniform ansah. hatte sie den
ganzen tag im Geschäft darüber nachgedacht? sie hatte kaum
ihren Mantel ausgezogen, so Feuer und Flamme war sie.
»Du hast keine Ahnung, sandro«, sagte sie. »Überhaupt
keine Ahnung.« sie war, ohne darüber nachzudenken, lauter
geworden. sandro sah zum Fenster, das in der septemberhitze
offen stand, was sie sogar noch mehr zu ärgern schien. »nur
als beispiel«, sagte sie und hob einen Finger, um seine Aufmerksamkeit
zu erregen. »eine Kundin kam in den laden,
eine sehr nette, alte Dame, engländerin, die schon seit Jahren
hier wohnt. Mindestens seit fünfzehn Jahren. ihr Vermieter
sagt ihr alles Mögliche nach, weil er sie aus der Wohnung
ekeln will. er wirft ihr vor, die Zimmer unterzuvermieten, er
verstellt die heizung, damit sie friert. er weigert sich, renovierungen
durchführen zu lassen. sie ist hilflos.« Verschämt
kaute sandro auf seiner lippe. natürlich passierten diese Dinge.
Aber was konnte ein Privatdetektiv da tun?
»Unmengen von scheidungsfällen und Untreue«, fuhr
luisa eilig fort, da sie wusste, dass sandro das nicht gefallen
würde. »ein Paar, dem ein haus im Chianti inklusive sechs
hektar Grund verkauft worden ist, und dann mussten sie feststellen,
dass das land dem Verkäufer gar nicht gehörte und es
zu spät war, ihre Anzahlung zurückzufordern. Zweihunderttausend
euro.« Das war die Anzahlung? sandro machte angesichts
der summe große Augen.
»siehst du?«, sagte sie und nahm seine hände. »sie heiraten,
sie kaufen eigentum, sie gründen ein Geschäft, genau
wie wir. sie brauchen mehr hilfe als wir, sie kennen das system
nicht. Du könntest Anzeigen in den Gratiszeitungen
schalten, den kleinen Zeitschriften für Ausländer. Und für
einheimische, in La Pulce, so was in der richtung. Wenn du
nicht willst, musst du dich nicht einmal Privatdetektiv nennen.«
1. Auflage
Deutsche erstausgabe Juni 2010 bei blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe random house Gmbh, München
Copyright © Christobel Kent, 2009
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by blanvalet Verlag, München, in der
Verlagsgruppe random house Gmbh
redaktion: regine Kirtschig
Umschlaggestaltung: © hildenDesign unter Verwendung von Motiven
von gloomytree / istockphoto und izoom / shutterstock
MD • herstellung: sabine Müller
satz: omnisatz Gmbh, berlin
Druck und einband: GGP Media Gmbh, Pößneck
Printed in Germany
isbn: 978-3-442-37446-5
www.blanvalet.de
Die Zimmer, die luisa gefunden hatte, waren eckig, hell
und einfach, sie lagen im zweiten stock in einer friedlichen
seitenstraße der Piazza tasso in san Frediano. Die straße
hieß Via del leone, und an der ecke befand sich ein kleiner,
verglaster Altar für die Madonna mit mindestens vier brennenden
Kerzen, das Zeichen einer gottesfürchtigen nachbarschaft
oder einer abergläubischen, je nachdem, wie man es
betrachtete. sandro Cellini stand irgendwie zwischen beiden
Ansichten, als Katholik geboren - natürlich -, aber durch
dreißig Jahre Polizeitraining zu einem rationalisten geworden.
er war durch seine Arbeit zu sehr zum Zweifler geworden,
um öfter als ein paar Mal jährlich, an ostern und zu taufen,
in die Messe zu gehen, aber der Altar gefiel ihm trotzdem.
Und wo Gott war, da waren alte Damen. Als er noch bei der
Polizei gewesen war, eine Formulierung, die ihn immer noch
erschrak, hatte sandro die erfahrung gemacht, dass fromme,
ältere Damen immer bereitwillig und detailliert Auskunft gaben
und Kerzen für göttliche hilfe anzündeten.
Die Gebäude in der Via del leone waren bescheiden, nicht
höher als drei stockwerke, und als Folge davon war die straße
sonniger und ruhiger als sein heimatviertel, wenn hier das
erste der morgendlichen motorini auf dem Weg ins Zentrum
hindurchfuhr, quälte es das ohr nicht ganz so sehr. nördlich
des Flusses in santa Croce geboren und aufgewachsen, auf lauten,
engen straßen, die nie ein sonnenstrahl traf, fragte sandro
sich, ob er sich jemals an diese ruhe gewöhnen könnte.
es war Florenz, ganz eindeutig, aber es war nicht die stadt,
in der er achtundfünfzig Jahre lang jeden Morgen aufgewacht
war, in der nur ein streifen blauen himmels sichtbar war und
die straßen schon um sieben Uhr früh vor lärm dröhnten.
eine kakofonische oper, bestehend aus Mülltonnen, die geleert
wurden und dabei aneinanderschlugen, dem Quietschen
der bremsenden busse, dem rumpeln der taxis, der ersten
touristengruppen des Morgens, die an der ecke anhielten, um
auf spanisch, Deutsch oder Japanisch laut darüber informiert
zu werden, wo Dante geboren worden ist und wo Galileo begraben liegt.
Als er hinunterschaute, sah sandro, dass die straße zwar
ruhig war, aber nicht verlassen. er beobachtete eine alte
Frau, die ihren kleinen, einen Mantel tragenden hund an
den rinnstein führte, damit er an das Vorderrad eines Wagens
kacken konnte. er überlegte, dass er schon bald wüsste, wem
dieses Auto gehörte und ob die hinterlassenschaft des hundes
ihm etwas ausmachte oder nicht. Die Frau trug einen mit
genommenen strauß Chrysanthemen, sie war zweifellos auf
dem Weg zum Friedhof. Auf der anderen seite sah er ein hübsches
Mädchen, vielleicht eine studentin, mit langen haaren,
langen beinen in dunklen Jeans und einer idiotisch großen,
gepolsterten und mit Quasten versehenen handtasche.
sie rannte, offensichtlich in eile, fast genau gegenüber machte
sie einen bogen um die alte Dame mit ihren blumen und
ihrem hund, und als wüsste sie, dass er dort oben war, legte
das Mädchen den Kopf in den nacken und sah zu sandro hinauf.
ihr blick glitt über ihn, und er zog sich beschämt zurück.
er war doch nicht hier, um Passanten zu beobachten, oder?
sandro ging wieder an seinen schreibtisch. er war genau wie
die Wohnung für ihn gefunden worden, wie jedes andere Möbelstück
auch, vom grauen Aktenschrank bis zum alten, aber
respektablen Computer, alles von luisa. in der stille überlegte
er sich, dass wenigstens das Fehlen der touristengruppen ein
Glück war. Dass ihm das Geräusch der Vespas und der busbremsen
tatsächlich gefiel, war vielleicht seine eigene Perversion,
hingegen hatte er nie gelernt, die touristenführer zu lieben.
luisa hatte ihn darauf hingewiesen, dass er besser lernen sollte,
die touristen zu lieben, da sie sich als sein lebensunterhalt
herausstellen könnten, genau, wie sie ihrer waren.
»ich werde morgen anfangen«, hatte er verkündet, als sie am
vorigen Abend aus dem laden nach hause gekommen war.
Das war nicht gut angekommen.
»An ognissanti?«, fragte luisa leicht betroffen. »Wirklich?«
sie stand in der Küche, hatte den Mantel noch an und roch
nach holzrauch von der straße.
ognissanti war Allerheiligen, der erste november, gefolgt
von Allerseelen am tag danach. Zwei tage, an denen alle blätter
auf einmal fallen und blumen auf die Gräber von lieben Ver-
wandten gelegt werden. traditionell war ognissanti ein tag
des ruhigen insichgehens und des Gedenkens der sterblichkeit.
»Warum nicht?«, verteidigte sandro sich. »heute nachmittag
kam der Anruf, dass das telefon freigeschaltet ist. ich
habe genug davon, herumzuhängen.«
Aber er wusste, warum nicht. religion, Gewohnheit, Verpflichtung
gegenüber den toten, außerdem wäre es irgendwie
ungünstig, mitten in der Woche anzufangen. obwohl luisa
nicht religiöser war als er, so spürte sie die familiäre Verpflichtung
stärker, da ihre Mutter erst kürzlich gestorben war.
sie musste früh aufstehen, um blumen aufs Grab ihrer Mutter
draußen in scandicci zu legen, bevor sie dann in die stadt fuhr.
»Du wirst doch selbst auch arbeiten«, sagte sandro.
Wie bei vielen anderen religiösen Festtagen wurde der status
als offizieller Feiertag immer weiter ausgehöhlt, vor allem
in den großen städten mit ihren reichen, gottlosen besuchern;
luisas Chef, Frollini, hatte diesem trend schon vor
Jahren nachgegeben. im november lief das Geschäft gut,
das lager war brechend voll, und in den schaufenstern lagen
schaffelle, samt und Abendkleider. luisa gefiel es nicht,
aber das war das neue italien.
»es kommt mir so vor, als bringe es Unglück«, sagte sie unsicher.
»ich will es nicht länger herausschieben«, sagte sandro
entschlossen, und sie wusste, dass zumindest das stimmte.
Murrend war sie sogar noch früher als üblich aufgestanden,
um für ihn zu kochen.
»Dein erster tag, du wirst was Warmes zu essen brauchen«,
sagte sie, als er verschlafen die Küche betrat, um mit ihr zu
schimpfen. Die perfekten lilien, die sie am Abend vorher für
ihre Mutter gekauft hatte, standen im spülbecken.
sie hatte ihm baccalà gekocht, stockfisch mit toma-
ten, und als sandro sechs stunden später an seinem neuen
schreibtisch die Folie vom teller nahm, war er immer noch
warm, aber es war ja auch gerade erst Mittag. er war drei stunden
bei der Arbeit gewesen und hatte nichts getan, außer ein
Mädchen durchs Fenster zu beobachten und im Computer
eine Datei für seine buchhaltung zu öffnen und sie dann wieder
zu schließen. Ausgaben bisher: fünftausend euro, mehr
oder weniger. einnahmen: null.
sandro verschlang den üppigen, salzigen eintopf in fünf
großen schlucken, da er plötzlich zu verhungern schien. er
kleckerte ein bisschen sauce auf seinen schreibtisch, und
obwohl er sie sofort fluchend wegwischte, blieb ein kleiner,
orangefarbener Fleck zurück. ein toller start, dachte er. Was
werden die Klienten denken, wenn überhaupt je welche auftauchen
sollten? er hatte lust, etwas an die Wand zu werfen,
was war er für ein tölpel! An diesem Abend sagte er zu luisa,
dass er es vielleicht mal mit der örtlichen Kaffeebar fürs Mittagessen
versuchen werde, sie sah ihn aufmerksam an.
»schmeckt dir mein essen nicht mehr?« er schüttelte den
Kopf. »Doch, natürlich«, sagte er. »es ist nur ... na ja. ich muss
die nachbarschaft kennenlernen.« sie nickte und beschloss,
nicht beleidigt zu sein. er sagte ihr nicht, dass er sich durch den
baccalàzwischenfall wie ein kleiner Junge am ersten schultag
fühlte, auf einem schmalen Grat kurz vor der Verzweiflung.
»Wie war es auf dem Friedhof?«, fragte er.
sie war blass, ihm wurde bewusst, dass sie schon seit sechs
auf den beinen war, und er verfluchte sich, weil er sie so hart
arbeiten ließ. er hätte doch einfach sagen können, ich fange
morgen an, oder nicht?
»Gut«, sagte sie. »es war gut.« sie lächelte, er erkannte,
dass es sie trotz ihrer blässe und Müdigkeit glücklich gemacht
hatte. Für luisa löste der besuch auf dem Friedhof immer et-
was aus, sie sprach immer noch mit ihrer Mutter, sie hat einmal
am Grab gestanden und zwanzig Minuten lang die lilien
arrangiert. es war ein weiteres beispiel ihrer geheimnisvollen
Überlegenheit, dass luisa keine Angst vor der trauer hatte.
sandro war neunzehn gewesen und beendete gerade seinen
Wehrdienst, als seine Mutter starb, sie hatte Krebs gehabt,
aber sandro hat nie erfahren, welchen. er kam zur beerdigung
in Uniform nach hause, unfähig zu weinen. seinen
Vater begrub er ein Jahr später, seine eltern waren hart arbeitende
landmenschen gewesen, die keine Zeit für Gefühlsausbrüche
hatten, und auch wenn sein Vater gerade erst sechzig
war, war der Verlust einfach zu viel für ihn gewesen. sandro
war durch ihre abrupte Abwesenheit überwältigt und konnte
nur noch schweigen.
es war plötzlich zu spät, um sie noch irgendetwas zu fragen.
sechs Monate danach hatte er luisa getroffen und ihr einen
heiratsantrag gemacht. Damals war es ihm als einzige Möglichkeit
zu überleben erschienen; innerhalb von fünf Jahren
wurde ihm bewusst, dass er sich nur noch dann an das Gesicht
seines Vaters erinnern konnte, wenn er dessen Foto aus der
schublade nahm und es genau betrachtete. sie steckten irgendwo
in seinem Kopf, die beiden, hand in hand als Paar in
altmodischen Kleidern, aber er wollte nicht an sie denken, er
verfügte nicht über luisas Fähigkeit, die trauer an die hand
zu nehmen und zur Freundin zu machen.
»ich habe sehr viel Glück«, sagte er zu ihrem rücken, als
sie irgendetwas am herd rührte. »sehr viel Glück.«
etwas, worüber sandro nachdachte, als er am zweiten tag,
an Allerseelen, dasaß, es war etwas bedeckter als an tag eins,
das novemberlicht etwas dünner und blasser, war die Veränderung
seiner beziehung zu luisa. Dreißig Jahre ehe - oder
waren es einunddreißig? -, und plötzlich übernahm luisa die
Führung. solange er bei der Polizei gewesen war, waren sie auf
unterschiedlichen Gleisen unterwegs gewesen, zwei lokomotiven
mit scheuklappen, jede, ohne auf das Ziel der anderen
zu achten. Voller schmerz dachte er an die große Polizeiwache
draußen an der Porta al Prato auf der geschäftigen viale. Am
nordöstlichen Zugang zur stadt steht die Wache, die warmen,
betriebsamen Flure, die langen Fenster mit den läden, die Kameradschaft.
Fehlgeleitete nostalgie, sagte er sich, wo war die
Kameradschaft denn jetzt?
Das war unfair, ganz offensichtlich. er sah seine alten Kollegen
immer noch ab und zu in der stadt, sie nickten sich
zu und wechselten ein paar Worte auf der straße, er dachte,
sie würden es bestimmt einen Kaffee lang mit ihm aushalten,
sollte er sich jemals wieder in der Kaffeebar wiederfinden, die
sie immer besucht hatten. Aber worüber sollten sie reden?
»tut mir leid, mein Freund?« Das düstere alte Caffé tramvai,
früher, noch vor sandros Geburt, fuhr die straßenbahn
an der Porta al Prato vorbei, mit seinen resopaltischen und
dem sechzigerjahre-Dekor und den besten trippa alle fiorentina
der stadt. Wenn er unvorsichtig war, dachte er ab und zu an
die Mittagspausen: sie trafen sich alle um halb eins und aßen
das ragout im stehen aus kleinen schüsseln, dampfend, voller
Knoblauch, tomaten und zarten Fleischstückchen. Aber
dieser freundliche Kaffee würde wohl nie getrunken werden,
oder? sandro mied den ort seit seinem Abschied an einem
kalten, dunklen Januartag vor fast zwei Jahren wie die Pest.
sandro war kein Polizist mehr. Zumindest, dachte er finster,
war er nicht entlassen worden, weder unehrenhaft noch sonst
wie, zumindest hatte man ihm die Frühpensionierung ermöglicht.
es bedeutete mehr als nur, dass er sein Gesicht gewahrt
hatte, es bedeutete, dass er arbeiten konnte, denn die Chan-
cen für einen unehrenhaft entlassenen Polizisten waren sehr
gering. sollten seine Kollegen Verständnis für sein Vergehen
gehabt haben, so wusste sandro es nicht, er suchte nicht danach,
er wollte keine Vergebung. Das Vergehen, vertrauliche
informationen an den Vater eines entführten Kindes weitergegeben
zu haben.
Das Kind war zu einem schlechten Zeitpunkt verschwunden,
wenn man an Astrologie glaubte, an eine zerstörerische
Planetenkonstellation, dann war es von Anfang an unausweichlich,
dass sich daraus eine weitere tragödie entwickeln
würde. es war vor langer Zeit, luisa jenseits der vierzig, und
die Möglichkeit, niemals eigene Kinder zu bekommen, wurde
zu einer eiskalten Gewissheit für beide. Das Mädchen, neun
Jahre alt, war aus einem vollen swimmingpool verschwunden,
ihre leiche wurde Wochen später im schilf einer Flussbiegung
in den Apenninen gefunden.
niemand wurde verhaftet, obwohl sie durchaus einen Verdächtigen
hatten, und sandro hatte Kontakt zum Vater des
Kindes gehalten. Warum? Manchmal sagten leute zu ihm,
dass es offensichtlich war, warum, es war ein menschlicher
impuls, aus Mitgefühl, aber sandro hatte bei der disziplinarischen
Anhörung keine entschuldigung vorgebracht, er hatte
geschwiegen, als man ihn danach gefragt hatte. er hatte
bloß zugegeben, dass er den trauernden, nun kinderlosen Vater
weiter informiert hatte, ihm schließlich den namen und
den Aufenthaltsort des hauptverdächtigen im Falle des Mordes
an seiner tochter sowie jede weitere information gegeben
hatte. Und als der Verdächtige, der nie angeklagt worden war,
ermordet wurde, wurde der ganze Fall wieder aufgewickelt.
sandro war sofort klar gewesen, dass er für den tod des Pädophilen
verantwortlich war, egal, wer ihm tatsächlich das
Messer an die Kehle gehalten hatte.
Der tote Mann war schuldig gewesen, das wussten sie jetzt,
aber sein Verhalten war trotzdem falsch gewesen. ein kleines
Vergehen gegen das Gesetz, und alles bricht mit erschreckender
Geschwindigkeit auseinander. Der Mörder wurde ermordet,
und eines seiner opfer endete mit blut an den eigenen
händen. Und wenn man einen Mann, der einem vertraut,
den Partner seit über einem Jahrzehnt, anlügt, kann man sich
nicht sicher sein, dass er einem je wieder vertrauen wird.
Auf diese Weise verlor sandro den boden unter den Füßen.
Aber dreißig Jahre Polizeidienst hinterlassen ihre spuren, es
war zu spät für ihn, irgendetwas anderes zu werden.
Pietro war natürlich immer noch ein Freund, eine Partnerschaft
von über dreizehn Jahren war einer ehe sehr ähnlich.
Pietro kam immer noch jeden zweiten Donnerstag gewissenhaft
zur Wohnung, um sandro auf einen Drink mitzuschleppen,
um über Fußball und den todessturz der Fiorentina durch
die ligen zu reden und um über den neuen commissario zu jammern,
der aus turin hierher versetzt worden war, nichts, was
zu intim war. sie sprachen nicht über sandros schande, und
auch wenn sandro die Wärme von Pietros Mitgefühl empfand,
so scheute er sich doch, ihm zu danken, das war nicht
die Art von beziehung, die er wollte.
Dreizehn Jahre im selben einsatzwagen, da lernt man den
Geruch der socken des anderen Mannes kennen, sein Aftershave,
was er zum Frühstück isst. Wie er seinen Kaffee trinkt.
Caffè alto für Pietro, schnell hinuntergekippt und sofort noch
einen, um den tag mit einem Kick zu beginnen, nach dreizehn
Jahren gibt es Fragen, die man nicht mehr stellen muss.
Wenn sandro heute manchmal allein seinen Kaffee trank,
musste er die Augen schließen, um sich nicht die alten Zeiten
wieder zurückzuwünschen.
Vielleicht hatte luisa schon immer geführt. sandro saß mit
geschlossenen Augen im dünnen sonnenlicht und fühlte sich
merkwürdig beruhigt, als er über diese Möglichkeit nachdachte.
Die langen Jahre des stillen gemeinsamen Unglücks, während
deren jeder sein eigenes Päckchen getragen hatte - das
Fehlen von Kindern, die hässliche Alltagsarbeit der Polizei,
das Verschwinden von erwartungen - luisa hatte die ganze
Zeit über die Führung. sie wartete auf den Augenblick, in dem
ihre überragenden Fähigkeiten gebraucht würden.
Während dieser vier tage in der Via del leone kam er zu
dem schluss, dass luisa ganz genau wusste, was sie tat. er war
mit ihr zur besichtigung gegangen, aber er hatte das Potential
der Wohnung nicht erkannt, ehrlich gesagt hatte es ihn sogar
enttäuscht. luisa hatte auf den üblichen geheimnisvollen
Wegen herausgefunden, dass sie bald verkauft werden würde,
eine Wohnung im zweiten stock, zwei Zimmer und eine winzige
Küche, bewohnt von einem erschöpft aussehenden, älteren
ehepaar und der behinderten tochter, die in eine »passendere
« Wohnung ziehen würden. Das hätte ihm eigentlich
auffallen müssen, sozialwohnungen waren nicht leicht zu bekommen,
und die Comune griff nicht so schnell ein. Die behinderte
tochter war mittleren Alters, hatte von Geburt an
einen hirnschaden und war querschnittsgelähmt, sie war in
der winzigen Küche in einem rollstuhl geparkt. Die Wohnung
hatte kein badezimmer, eine tatsache, die sandro erst
bewusst wurde, als sie gingen.
»Mein Gott«, sagte er unten auf der straße und dachte an
all die Jahre, während deren die eltern ihr hilfloses Kind die
treppe hinauf- und heruntergetragen hatten, bis sie zu einer
Frau mittleren Alters geworden war. luisa hatte seine hand
gedrückt. »es ist ein trauriger ort«, sagte sie. »ich glaube, deswegen
konnten sie keinen nachmieter finden.«
Deswegen und vielleicht auch wegen des hofs des bau-
unternehmens unter dem Fenster, der im Moment voller orangefarbener
Plastikrohre lag. Aber man konnte einen teil der
rückseite von santa Maria dell'Carmine sehen, wenn man
sich darauf konzentrierte, auf die Fresken darin, die sandro
nicht mehr gesehen hatte, seit er ein kleiner Junge gewesen
war, Adam und eva, eva mit ihrer hand am Mund. Diese
Dinge gingen ihm während der untätigen stunden durch den
Kopf. er fragte sich, wo sie heute waren, dieses ehepaar und
ihre alternde tochter, und ob sie die Aussicht vermissten. Unsinn,
hätte luisa barsch gesagt. Modernes badezimmer, ebenerdiger
Zugang, Aufzug und Geländer und andere Annehmlichkeiten,
nachdem man vierzig Jahre das erwachsene Kind
zwei etagen die treppen hochgehievt hatte? Unsinn. es eignete
sich gut als büro, und den Alten ginge es dort, wo sie jetzt
waren, sicher besser.
Am zweiten tag, kurz vor dem Mittagessen, schaute sandro
wieder auf die straße, er sah die Frau mit ihrem hund, und
ihm wurde bewusst, dass er nach dem Mädchen Ausschau hielt.
War das eine alte Polizeigewohnheit, um das Viertel kennenzulernen,
oder lag es daran, dass sie hübsch war? er drehte sich
um, wollte im Zweifel lieber vorsichtig sein. sie war hübsch.
Wieder in sicherheit im hinteren teil des hauses, hatte
sandro seine Ausgabe von La Nazione auf dem schreibtisch
ausgebreitet und war sie durchgegangen, als wäre es seine Arbeit,
jede Geschichte in der Zeitung zu lesen. er las zunächst
die großen Artikel, die nationalen neuigkeiten. Der Müll in
neapel, Dioxin, das aus Giftmüll in die nahrungskette gelangte.
ein neues buch über die Camorra und einen Artikel
über kalabrische Gangster, die in der toskana eigentum kauften.
sein Magen fühlte sich sauer und voll an, mein land,
dachte er und starrte auf die seite, es gab eine Zeit, da wäre
dies seine Arbeit gewesen. Draußen an der Porta al Prato hät-
te er sein Pistolenhalfter umgeschnallt, sich die spitze Mütze
aufgesetzt und wäre mit Pietro durch die tür gegangen,
sie hätten bitter über ihre schlechte Aufklärungsrate gelacht,
über all die scheiße, die immer noch auf sie wartete - aber so
wie jetzt hatte er sich damals nie gefühlt.
er arbeitete sich weiter vor bis zu den lokalen ereignissen:
illegale, die auf der baustelle zur erweiterung der Uffizien arbeiteten,
ein Überfall auf der viale, in den ein Kind verwickelt
war. ein Arzt, der im trasimeno see ertrunken war und einem
satanischen Kult angehörte. sandro arbeitete sich bis
zum ende durch, bevor er die Zeitung kraftlos zuschlug.
Am nachmittag ging sandro auf die straße, damit er luisa
etwas zu erzählen hatte, wenn er nach hause kam. Das essen
in der nächstgelegenen Kaffeebar war schlecht, ein altes
brötchen mit trockenem schinken, und der Fußboden war
schmutzig. es war auch kalt geworden, nach einem schnellen
spaziergang zur Piazza tasso und zurück, an der ecke waren
heute nachmittag sieben Kerzen für die Jungfrau Maria angezündet
worden, hatte sandro beschlossen, eines tages auf die
Gläubigen zu warten, seine zukünftigen informanten, er beeilte
sich, in die Wohnung zurückzukommen, wo die uralten
heizungen laut knackten, um mit der Kälte schritt zu halten.
Als sandro die zugigen treppen hinaufstieg, versuchte er
sich den ort im Juli vorzustellen, denn san Frediano, das für
straßenkehrer und bescheidene handwerker gebaut worden
war, hatte den ruf, eine sonnengebleichte Wüste zu sein,
ohne hohe steinfassaden und tiefe Dachvorsprünge, die die
einwohner vor der sonnenhitze schützten. brauchten die
Menschen im Juli Privatdetektive?
Als sandro wieder einmal klar wurde, dass er das nun war,
ein Privatdetektiv, musste er gegen den impuls ankämpfen,
die hände vors Gesicht zu legen und zu stöhnen.
Kapitel 2
ntlang der Autobahn zum Flughafen standen Plakatwänede,
die für die Agenturen warben. Das bild eines jungen
Mannes mit einem spitzen hut, mit schulterhalfter oder einem
Wappen im stil von Pinkerton. Diskret und gewissenhaft,
jegliche Art von ermittlungen werden übernommen.
Finanziell, persönlich, beruflich. Überwachungsexperten.
sie hatten darüber gelacht, als sandro noch im Dienst war,
auch wenn das lachen unsicher gewesen war. ein paar der
Privatdetektive waren selbst halbe Kriminelle und dazu auch
noch clever, manche waren fast schwindler, andere faul, wieder
andere dumm. Aber es gab auch andere - die laureati, mit
ihren Abschlüssen in it und Control engineering: Modern,
computergeschult, hart arbeitend waren sie der Grund für das
unsichere lachen, eine Art von neid bei denen, die in der
knirschenden, alten Maschinerie der Polizei feststeckten.
Wo war unter all denen Platz für jemanden wie sandro,
einen Deppen, wenn es um Computer ging, alte schule,
ein ein-Mann-orchester? es war ein haifischbecken, eine
schlangengrube. es war natürlich luisas idee gewesen.
»Du bist fantastisch in deinem Job«, hatte sie gesagt, während
er schwieg. »Du hast Grundlagenwissen über Computer.«
stimmte schon, er gehörte vielleicht zur alten schule,
aber selbst die Polizia statale war computerisiert. »Du sprichst
ein bisschen englisch.« sandro grunzte als Antwort. sein
englisch war während der letzten zwanzig Jahre kaum perfektioniert
worden, indem er Anzeigen von touristen über gestohlene
Geldbeutel aufgenommen hatte und sich dabei mit
einem Dutzend unterschiedlicher Akzente herumgeschlagen
hatte: louisiana, liverpool, london. »Dabei könnte ich dir
übrigens auch helfen«, sagte luisa nachdenklich.
sandro hatte sich bemüht und fragte sanft: »Glaubst du
wirklich, dass es einen, wie nennst du es, einen Markt dafür
gibt? Für eine ein-Mann-Firma?«
luisa legte den Kopf schief und sagte bestimmt: »Ja, das
glaube ich.« er wartete. »hör mal«, sagte sie ernst. »Die alten
Damen.« Die nun wieder. »Die ... ich weiß nicht, die
omas, die einzelpersonen, ich spreche nicht von großen Firmen,
caro, obwohl ich annehme, dass die Geld haben und ich
nicht ganz verstehe, warum ...« Aber als sie seinen Gesichtsausdruck
sah, wie er sich vorstellte, seine Dienste irgendwo
in einem sitzungssaal anzupreisen, wechselte sie stirnrunzelnd
das thema. »echte Menschen, kleine leute, die innerhalb
des systems nicht vorankommen.« Widerwillig hatte sandro
dazu genickt. es gab solche leute.
sie lehnte sich ermutigt vor. »Und die Ausländer. Vielleicht
nicht die touristen, die sind nur ein paar tage hier,
maximal eine Woche. Aber diejenigen, die hier wohnen, die,
die gern hier wohnen würden? Die Auswanderer?«
»Wozu brauchen die einen Privatdetektiv?«, fragte sandro.
»sei doch nicht dumm.« Fast sofort bereute er seine bemerkung.
luisa war auf den beinen, sie lief um den runden Küchentisch,
ihre kleinen Absätze klickten auf dem pavimento.
sie war gerade von der Arbeit nach hause gekommen, trug
immer noch das, was er als ihre Uniform ansah. hatte sie den
ganzen tag im Geschäft darüber nachgedacht? sie hatte kaum
ihren Mantel ausgezogen, so Feuer und Flamme war sie.
»Du hast keine Ahnung, sandro«, sagte sie. »Überhaupt
keine Ahnung.« sie war, ohne darüber nachzudenken, lauter
geworden. sandro sah zum Fenster, das in der septemberhitze
offen stand, was sie sogar noch mehr zu ärgern schien. »nur
als beispiel«, sagte sie und hob einen Finger, um seine Aufmerksamkeit
zu erregen. »eine Kundin kam in den laden,
eine sehr nette, alte Dame, engländerin, die schon seit Jahren
hier wohnt. Mindestens seit fünfzehn Jahren. ihr Vermieter
sagt ihr alles Mögliche nach, weil er sie aus der Wohnung
ekeln will. er wirft ihr vor, die Zimmer unterzuvermieten, er
verstellt die heizung, damit sie friert. er weigert sich, renovierungen
durchführen zu lassen. sie ist hilflos.« Verschämt
kaute sandro auf seiner lippe. natürlich passierten diese Dinge.
Aber was konnte ein Privatdetektiv da tun?
»Unmengen von scheidungsfällen und Untreue«, fuhr
luisa eilig fort, da sie wusste, dass sandro das nicht gefallen
würde. »ein Paar, dem ein haus im Chianti inklusive sechs
hektar Grund verkauft worden ist, und dann mussten sie feststellen,
dass das land dem Verkäufer gar nicht gehörte und es
zu spät war, ihre Anzahlung zurückzufordern. Zweihunderttausend
euro.« Das war die Anzahlung? sandro machte angesichts
der summe große Augen.
»siehst du?«, sagte sie und nahm seine hände. »sie heiraten,
sie kaufen eigentum, sie gründen ein Geschäft, genau
wie wir. sie brauchen mehr hilfe als wir, sie kennen das system
nicht. Du könntest Anzeigen in den Gratiszeitungen
schalten, den kleinen Zeitschriften für Ausländer. Und für
einheimische, in La Pulce, so was in der richtung. Wenn du
nicht willst, musst du dich nicht einmal Privatdetektiv nennen.«
1. Auflage
Deutsche erstausgabe Juni 2010 bei blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe random house Gmbh, München
Copyright © Christobel Kent, 2009
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by blanvalet Verlag, München, in der
Verlagsgruppe random house Gmbh
redaktion: regine Kirtschig
Umschlaggestaltung: © hildenDesign unter Verwendung von Motiven
von gloomytree / istockphoto und izoom / shutterstock
MD • herstellung: sabine Müller
satz: omnisatz Gmbh, berlin
Druck und einband: GGP Media Gmbh, Pößneck
Printed in Germany
isbn: 978-3-442-37446-5
www.blanvalet.de
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Autoren-Porträt von Christobel Kent
Christobel Kent lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in der Nähe von Cambridge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christobel Kent
- 2010, 416 Seiten, Maße: 11,6 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Christine Heinzius
- Übersetzer: Christine Heinzius
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442374464
- ISBN-13: 9783442374465
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