Die Tränen der Töchter
Als Mängel-Exemplar
nur
"Ich erinnere mich an diesen unglaublichen Schmerz, aber nicht an meinen Schrei."
Khady
Schließlich beginnt Khady zu kämpfen, erst für sich selbst und dann für andere, um künftige Generationen vor diesem grausamen Schicksal zu bewahren.
Die Tränen der Töchter von Khady
LESEPROBE
Salindé
New York, März 2005
Für mich, dieAfrikanerin, ist es eisig kalt. Ich laufe, ich bin in meinem Leben immergelaufen, so viel, dass meine Mutter oft mit mir geschimpft hat.
»Warum läufst du herum?Hör auf, herumzulaufen! Das ganze Viertel kennt dich!«
Manchmal hat sie sogareine imaginäre Linie auf der Türschwelle gezogen.
»Siehst du diese Linie?Von jetzt an wirst du sie nicht mehr überschreiten!«
Was ich mich beeilte zutun, um mit meinen Freundinnen zu spielen, Wasser zu holen, über den Markt zuspazieren oder die vorüberziehenden Soldaten zu beobachten, die in ihrerschönen Uniform hinter der Mauer des ihnen zugewiesenen Geländes defilierten.»Laufen« das war für meine Mutter ihre Art, auf Soninké* zu sagen, dass ichüberallhin lief und zu neugierig auf meine Umwelt war.
In der Tat bin ich»mein Leben lang gelaufen«, so weit ich konnte - heute für die UNICEF inZürich, gestern zur 49. Sitzung der UNO, zur Generalversammlung, die sich fürdie Rechte der Frau stark machte. Khady ist bei der UNO! Die kämpferische Fraumit dem Namen Khady, das Mädchen von einst mit dem »aufgeblähten Bauch«, wieihn alle kleinen afrikanischen Kinder haben. Die kleine Khady, die am BrunnenWasser holen geht, hinter den Großmüttern und Tanten im Bonbonhinterhertrippelt, voller Stolz auf ihrem Kopf (las Gefäß mit den Erdnüssenträgt, die gemahlen werden sollen, Khady, der man aufgetragen hat, die schönebernsteinfarbene, mit Öl überzogene Paste unversehrt zurückzubringen, und dieplötzlich in Panik gerät, als sie sieht, wie sich die Paste auf dem Bodenausbreitet! Ich höre meine Großmutter noch hinter mir rufen: »Hast du siefallen lassen? Du wirst schon sehen!«
Ich sehe sie die Stufender Eingangstreppe herunterkommen, bewaffnet mit einer Rute aus Besenreisig,während sich meine Schwestern und Cousinen über mich lustig machen! Sie schlägtmich auf den Rücken, den Po, und ungeschickt wie ich bin, fällt mir meinkleiner Lendenschurz vor die Füße! Die Mädchen eilen mir zu Hilfe, undGroßmutter, immer noch wütend, wendet sich ihnen zu: »Ihr wollt sieverteidigen? Ich werd's euch schon geben!«
Ich nutze dieGelegenheit, ihr zu entwischen, um mich zu Großvater zu flüchten, mich hinterseinem Faltbett zu verstecken, wo mich niemand suchen wird. Großvater ist meineZuflucht, meine Sicherheit. Er mischt sich nie in unsere Erziehung ein undüberlässt sie den Frauen. Er schreit nicht, sondern er erklärt.
»Khady, wenn man dichnach etwas ausschickt, musst du dich auf das konzentrieren, was du machst! Ichbin sicher, dass du mit deinen Freundinnen gespielt hast und nicht gesehenhast, wie der Topf hingefallen ist.«
Nach der verdientenTracht Prügel habe ich Anspruch auf Zärtlichkeiten von meiner Großmutter undden Mädchen, auf saure Milch und Couscous, das mich trösten wird. Auch wennmein Hintern noch grün und blau ist, spiele ich unter dem großen Mangobaum mitden Schwestern und Cousinen mit Puppen. Die kleine Khady wartet auf dasFerienende im September, um in die Schule zu gehen, wie all ihre Brüder und Schwestern.
Meine Mutter legt Wertdarauf, es wird uns nie an Heften und Stiften fehlen, dafür wird sie sich krummlegen. Das Leben ist so angenehm in dem großen Haus in den Vororten von Thies,einer Stadt mit breiten, baumbestandenen Avenuen, einer friedlichen Stadt, imSchatten der Moschee, in der Großvater und die anderen Männer von Sonnenaufgangan beten werden ... Mein Vater arbeitet bei der Eisenbahn, ich sehe ihn nichtoft. Man hat mich - so will es die Tradition - in die Obhut einer Großmutter gegebenund ihr meine Erziehung anvertraut, es ist Fouley, Großvaters zweite Frau, diekeine Kinder hat. Bei uns soll eine Frau ohne Kinder nicht unter ihrerKinderlosigkeit leiden. Das Haus meiner Mutter liegt hundert Meter von dortentfernt, und ich pendle zwischen beiden hin und her und nasche bei der einenwie der anderen von den Leckereien aus der Küche. Großvater hat drei Frauen:Marie, die Mutter meiner Mutter, ist die erste Frau, Fouley, zu der man michzur Erziehung »gegeben« hat, die zweite, und Asta die dritte - Großvater hatsie nach dem Tod seines älteren Bruders geheiratet, wie es Brauch ist. Sie allesind unsere Großmütter, Frauen ohne Alter, die uns in gleicher Weise lieben,uns gleichermaßen bestrafen und trösten.
In meinerGeschwisterschar sind wir drei Jungen und fünf Mädchen; zu unserer Sippegehören jede Menge Cousinen, Nichten und Tanten. Bei uns sind alle Cousin oderCousine, Tante oder Nichte von irgendjemandem und von allen. Wir wissen nicht,wie viele es sind, manche Cousins kenne ich nicht einmal. Meine Familie gehörtzur Kaste der Vornehmen, dem Volk der Soninké, ursprünglich Landwirte undKaufleute. Früher trieben sie Handel mit Stoffen, Gold und Edelsteinen.Großvater hat bei der Eisenbahn in Thies gearbeitet und meinem Vater dort Arbeitverschafft. Wir sind eine Familie von Geistlichen und von Landwirten undstellen die Imame des Dorfes. In einer vornehmen Familie, »horé«, wie wir sienennen - aus einer Schicht, die nichts mit der europäischen Vorstellung vonAdel zu tun hat-, ist die Erziehung sehr streng. Man bringt uns bei, ehrlichund treu zu sein und ein einmal gegebenes Wort zu halten, Werte und Prinzipien,die uns unser ganzes Leben begleiten.
Ich bin kurz vor derUnabhängigkeit 1959 geboren, an einem Tag im Oktober. Als ich im Oktober 1966in die Schule kam, war ich also sieben Jahre alt. Bis dahin habe ich glücklichgelebt, umgeben von Zärtlichkeit. Man hat mich mit Feldarbeit, Kochen und demGebrauch der Gewürze vertraut gemacht, die die Großmütter auf dem Marktverkaufen. Im Alter von vier oder fünf Jahren habe ich mein Bänkchen bekommen;Großmutter Fouley hat es für mich machen lassen, denn jedes Kind hat seinBänkchen. Man setzt sich darauf, um Couscous zu essen, und räumt es dann imZimmer seiner Mutter oder seiner Großmutter weg, bei derjenigen, von der manerzogen, gewaschen, gekleidet, ernährt, gestreichelt und bestraft wird. DasBänkchen ist eine stete Quelle von Streitereien zwischen den Kindern: »Du hastmeine Bank genommen« - »Das ist nicht deine Bank!« - »Gib ihr ihre Bank zurück,sie ist die Ältere!« Man behält sie lange, bis das Holz kaputtgeht oder mangrößer geworden ist und eine größere Bank bekommt. Dann kann man sein Bänkchenan ein kleineres Kind weitergeben. Großmutter hat es für mich anfertigen lassenund bezahlt. Ich habe es stolz auf meinem Kopf getragen: Symbol für denAbschied von der frühen Kindheit, wo man noch auf dem Boden sitzt, und denBeginn jener Zeit, in der man sich setzt und läuft wie die Großen. Ich laufedurch die Felder, die Gassen des Marktes, zwischen den Flammenbäumen, denAffenbrotbäumen und den Mangobäumen des Hofes, vom Haus zum Brunnen, vonGroßmutters Haus zum Haus meiner Mutter. Ich laufe, umgeben von einerschützenden Hülle, die auf brutale Weise zerstört werden wird.
Seitdem ich sieben war,bin ich gelaufen - von Thies nach New York, über Rom, Paris, Zürich und London,ich habe nie aufgehört zu laufen, vor allem seit dem Tag nicht, an dem dieGroßmütter mir eröffnet haben: »Heute, mein Kind, wollen wir dich reinigen.«
Am Vorabend sind meineSchwester und meine Cousinen aus Dakar gekommen, um bei uns ihre Schulferien zuverbringen: meine Schwester Daba, sechs Jahre alt, Lélé, Annie und Ndaié, meineCousinen ersten Grades, und andere, entfernter verwandte Cousinen, deren Namenich vergessen habe. Etwa zehn Mädchen zwischen sechs und neun Jahren, die mitausgestreckten Beinen auf der Eingangstreppe saßen, vor dem Zimmer einer meinerGroßmütter. Wir spielen »Papa und Mama«, spielen »Gewürze auf dem Marktverkaufen«, spielen mit unseren kleinen Küchenutensilien aus Eisen, die unsereEltern für uns basteln, spielen mit den Puppen aus Holz und Stofflumpen.
An diesem Abendschlafen wir wie jeden Tag ein, im Zimmer einer Großmutter, einer Tante odereiner Mutter.
© Weltbild
Übersetzung: Dr. Mechtild Russell
Interview mit Khady
MancheAfrikaner verteidigen die Beschneidung von Mädchen und argumentieren, dieEuropäer hätten kein Recht, afrikanische Traditionen zu verurteilen. Haben dieEuropäer das Recht oder sogar die Pflicht, sich einzumischen?
Man musssehr vorsichtig mit Menschen sein, die meinen, unsere Traditionen und unsereKultur würden verurteilt. Diese Problematik geht die ganze Welt an! Es handeltsich bei der Beschneidung um das Abschneiden eines Organs, denn die Klitorisist ein Organ. Und das Abschneiden eines Organs ist Verstümmelung, alsoverurteilt man Verstümmelung - und nicht Kulturen oder Traditionen.
Undnatürlich haben die Europäer die Pflicht einzugreifen - um alle Kinder vorallen Formen von Gewalt zu schützen, um ihre Unversehrtheit zu bewahren. Diesgilt unabhängig von Hautfarbe und Herkunft.
Sie sindheute Vorsitzende des Europäischen Netzwerks gegen genitale Verstümmelung. Wasdenken afrikanische Frauen, die in Europa leben, über Beschneidung?
Glücklicherweisesind heute viele von ihnen gegen Beschneidungen. Es gilt, alles dafür zu tun,um diese Praktiken für immer zu verhindern. Zu unserem Netzwerk gehören etwa 20Vereine in 13 europäischen Ländern. Wir wollen für das Thema sensibilisierenund die Leute zum Umdenken bewegen. Diese Praktiken müssen als Missetaten zuerkennen sein. Die Leute sollen verstehen, wie nutzlos sie sind. Wir wollen diepositiven Aspekte unserer Kultur aufwerten und die negativen Dinge beseitigen.
Sie habenIhre drei Töchter beschneiden lassen. Wann hat sich ihre Einstellung dazu verändert?
Ich möchtemich nicht vor meinen Töchtern rechtfertigen. Aber zu jener Zeit hielt ich dieBeschneidungen für etwas Gutes und dachte, sie müssten gemacht werden. Im Jahr1982 habe ich dann vom Tod eines drei Monate alten Mädchens erfahren. Daraufhinhabe ich mich entschieden zu kämpfen, um andere zu retten.
Machen IhreTöchter Ihnen heute Vorwürfe?
Nein, meineTöchter haben mich immer unterstützt. Das hat mir sehr geholfen.
Ihr Buchhat sehr viel Aufmerksamkeit erregt. Was kann es bewirken? Und was kann man alsEuropäer tun, um etwas zu verändern?
Es gab vielepositive Reaktionen - vor allem auch von meinen Landsmänninnen aus dem Senegal.Und ich hoffe wirklich sehr, dass sich noch viel mehr Menschen mit dem Themaauseinandersetzen werden. Dieses Buch soll nicht der Polemik oder dem Skandaldienen, sondern dem Dialog und der Reflexion. Ich will die Europäer aufkulturelle Besonderheiten aufmerksam machen. Es geht um die Menschenrechte, um Würdeund um die physische und psychische Unversehrtheit. Die Europäer haben diePflicht, alle hier lebenden Kinder zu schützen und sie als europäische Bürgerzu behandeln - ohne Diskriminierung. Die Beschneidung darf nicht mehrpraktiziert werden. Und sollte es in Europa doch dazu kommen, möchte ich dafürsorgen, dass die Täter verurteilt und bestraft werden.
Die Fragen stellte Astrid Vogelpohl,Literaturtest.
- Autor: Khady
- 2007, 224 Seiten, Maße: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426779633
- ISBN-13: 9783426779637
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