Die Träume junger Mädchen
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Die Träume junger Mädchen von Marie L. Fischer
LESEPROBE
Ilona Rotherannte durch die morgendlichen Straßen von Bad Kronheim und kümmerte sich nichtdarum, dass die Leute hinter ihr hersahen. Ihre sehr langen, schlanken Beinesteckten in weichen, violetten Stiefeln, die bis zu den Oberschenkeln reichtenund erst unter dem Saum ihres kurzen, pelzverbrämten Mantels endeten. Dashellblonde, glatte Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her.
Sie hattedie erste Unterrichtsstunde versäumt, jetzt wollte sie retten, was noch zuretten war.
Als sieeinen Blick auf ihr Handgelenk warf, merkte sie, dass sie in der Eile ihreArmbanduhr vergessen hatte. Sie sah zu dem weißen modernen Gebäude derHandelsschule hoch und stellte fest, dass die meisten Fenster noch offenstanden. Also hatte sie wohl wieder einmal Glück gehabt und würde immerhin nochzur zweiten Stunde zurechtkommen.
Sie saustein den zweiten Stock hinauf, fegte den Gang entlang, vorbei an geöffnetenTüren, auf das letzte Klassenzimmer ganz hinten zu.
HolgerHesse, ein hübscher Junge mit verträumten Augen und langer Mähne, stand, dieKlinke in der Hand, an der Tür. Er winkte ihr heftig zu, deutete mit dem Daumenin das Schulzimmer hinein und rief unterdrückt:
»Achtung!«
Ilona nahmsich nicht die Mühe, seine Zeichen zu deuten, sondern stürzte an ihm vorbei indas Zimmer, in dem die anderen Schüler und Schülerinnen der zehnten Klasseneben ihren Plätzen standen.
»Freunde!«, posaunte sie und warf die Mappe mit Schwung auf ihrenTisch. »Stellt euch vor «
»Setzen!«, befahl eine dröhnende Männerstimme. Die Schülergehorchten und gaben Ilona den Blick auf Dr. Theo Ortlieb frei, der vorn amLehrertisch stand und sie aus seinen hellen, leicht vorstehenden Augenfixierte. »Oje!«, stieß Ilona hervor und schlug sichfast gleichzeitig mit der Hand auf den Mund.
Dr.Ortlieb hob die farblosen Augenbrauen und trommelte mit den kurzen Fingern aufdie Tischplatte. »Darf ich mir die Frage erlauben, wieso du erst jetzt kommst, Ilona?Falls ich mich nicht sehr irre, hat der Unterricht bereits vor einer Stundebegonnen!«
Ilona zogeine kleine Grimasse. »Wann hätten Sie sich je geirrt, Herr Doktor«, sagte sie,»entschuldigen Sie bitte, darf ich jetzt meinen Mantel ausziehen?« »Nicht, bevor du mir Rede und Antwort gestanden hast!«
»Na, bitte!« Ilona schlug die Arme übereinander; sie war einen halbenKopf größer als der Lehrer, sodass sie wirkungsvoll auf ihn herabsehen konnte.
»Du gibstalso zu, dass du zu spät gekommen bist?«
»Da Siemich dabei erwischt haben, hat es wohl keinen Zweck zu leugnen«, erklärte Ilonaseelenruhig.
IhreFreundin Ulrike Berger zupfte sie am Mantelsaum und raunte ihr zu: »Reiz ihnbloß nicht zu sehr!«
Aber Ilonagrinste nur.
Dr.Ortlieb hatte das Klassenbuch aufgeschlagen und studierte mit übertriebenerSorgfalt die Seite des heuti- gen Tages. »Wie ichsehe, hattet ihr in der ersten Stunde Betriebswirtschaftslehre bei HerrnBrückner. Wie ist es möglich, dass ich keinen Vermerk über Ilonas Fehlen finde?« Er wandte sich fragend an die Klasse. »Ich warte auf eineAntwort!«
PeterHinze, ein sportlicher blonder Junge, erklärte gelangweilt, ohne sich zuerheben: »Wahrscheinlich hat Herr Brückner es gar nicht bemerkt.«
»Nichtbemerkt? Du willst behaupten, dass Herr Brückner sich zu Beginn der erstenStunde nicht vergewissert « Dr. Ortlieb unterbrach sich und erklärte:
»Schon gut,ich sehe ein, dass ich euch deswegen nicht zur Rechenschaft ziehen kann «
UlrikeBerger fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr braunes, leicht gelocktesHaar. »Bitte, Herr Doktor, wollen wir jetzt endlich anfangen?«
»Das findeich auch«, stimmte Ilona ihr zu, zog sich unbekümmert ihren Mantel aus und setztesich. Dr. Ortliebs runder Kopf lief rot an. »So kommst du mir nicht davon, meinliebes Kind«, donnerte er, »so nicht. Ich muss dir einen Verweis insKlassenbuch schreiben. Ich kann nur hoffen, dass dieser Tadel sich nicht allzu ungünstigauf dein Abgangszeugnis auswirkt!« Er schraubte seinenFüller auf, legte das Klassenbuch schräg und begann sehr sorgfältig seinekleinen Buchstaben zu malen.
Dannklappte er das dicke Buch mit einem kleinen Knall zu und sagte genüsslich: »Nundenn, wollen wir doch heute einmal feststellen, was wir noch über die Karolingerwissen Hety?«
HetyGülden, ein Mädchen mit Twiggy-Figur und kindlichemGesichtsausdruck, sprang auf. »Karl der Große regierte von 768 bis 814 «
»Sehrrichtig! Sein Ziel war es, ein Reich zu schaffen, in das alle deutschenVolksstämme, auch die bisher abseits stehenden Sachsen, eingeschlossen waren «
In der nunfolgenden guten halben Stunde hatten die Geschehnisse der guten alten Zeit denVorrang vor allen heutigen, mehr oder weniger privaten Problemen. »Jetzt wollenwir doch mal sehen!«, rief Ulrike Berger, kaum dassdie große Pause eingeläutet war und Dr. Ortlieb das Zimmer verlassen hatte. Siesprang nach vorne und schlug das Klassenbuch auf. »So eine Gemeinheit! Er hates wirklich eingetragen unentschuldigtes Versäumen des Unterrichtes « Siehob den Kopf und sah die Freundin an. »Warum musstest du auch zu spät kommen!?« Ilona zuckte die Achseln. »Tu doch nicht so, als wenn esdir um mich ginge. Du hast ja bloß Angst, dass dein goldiges Kurtchen BrücknerSchwierigkeiten haben könnte!«
Ulrikesglattes, braunes Gesicht blieb unbewegt. »Du spinnst ja«, behauptete sie, wennauch ein bisschen gezwungen. »Ich verstehe bloß nicht, wieso du dich dauernd verschläfst «
Ilonalachte. »Das kann ich dir leicht erklären. Ich war gestern in München und binerst um zwei Uhr ins Bett gekommen.«
»Dass deineEltern das erlauben!« HetyGülden riss die himmelblauen Augen auf.
»Warumsollten sie nicht?« Ilona schlüpfte in ihren Mantel.»Es entspricht ihrem eigenen Lebensstil. Schließlich sind sie ja keine kleinenLeute «
»O nein«,spottete Peter Hinze, »dein Vater ist Prokurist einer bedeutenden Firma, und duselber hast das Gymnasium besucht, bevor du dich zu uns herabließest! Das alleshast du uns oft genug unter die Nase gerieben.« »Kommt,seid friedlich«, sagte Ulrike Berger und legte ihm leicht die Hand auf den Arm,»lasst uns endlich runtergehen! Es sähe dem alten Ortlieb ähnlich, noch einmalzurückzukommen und Krach zu schlagen, weil wir nicht auf dem Hof sind!«
Ilonalachte. »Und uns womöglich eine Strafarbeit anzuhängen, als wenn wir nochlausige Anfänger wären!
Dabeidauert es nur noch ein paar Monate, und wir haben die Schule hinter uns fürewig und alle Zeiten! Kinder, ich schwöre euch, wenn ich meine mittlere Reife inder Tasche habe, das wird der schönste Tag meines Lebens sein!«
UlrikeBerger schlüpfte in eine lange, doppelreihige Tweedjacke, und Hety Gülden wickelte sich in ein bunt gefärbtes Kaninchen.
Links undrechts von Ilona schlenderten sie die breite Treppe hinunter, während dieJungen schon voraus liefen, vorbei an den beiden ersten Stockwerken, in denen verschiedeneFirmen ihre Büroräume unterhielten; die staatlich anerkannte Handelsschule nahmdas dritte und vierte Stockwerk ein. Auf dem Schulhof packten die drei Mädchenje nach Figur Butterbrote oder Obst aus und suchten sich einen Platz an derMauer, wo die Schüler der unteren Klassen ihnen nicht zwischen die Beine laufenoder sie sonst wie stören konnten.
Ulrikepolierte einen rotbäckigen Apfel. »Sag mal, Ilona wolltest du uns nichtvorhin etwas Sensationelles mitteilen? Als du in die Klasse stürmtest, meineich?«
Sie grubihre kräftigen weißen Zähne in das Fruchtfleisch.
»Ach ja,ich veranstalte am Samstag eine Party!«, erklärte Ilona.»Ohne irgendwelche Schnüffler oder Aufseher.
Vati fährtmal wieder zu einem Kongress und nimmt Mutti mit. Na, was sagt ihr jetzt? Daswird unter Garantie die tollste Party der Saison!« ( )
© HeyneVerlag
Marie Louise Fischer wurde am 28. Oktober 1922 in Düsseldorf geboren. Während des Zweiten Weltkriegs studierte sie Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte, danach arbeitete sie als Dramaturgin in Prag. 1946 wurde sie in einem Lager interniert. Nach ihrer Entlassung begann sie Kurzgeschichten zu schreiben und arbeitete in der Werbung. Mit 29 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman: "Zerfetzte Segel". Marie Louise Fischer, zunächst bekannt für ihre erfolgreichen Illustriertenromane, zählt zu den meist gelesenen deutschen Autoren der Unterhaltungs- und Jugendliteratur. Ihre Bücher, zumeist Liebesromane, wurden in 23 Sprachen übersetzt und erzielten Millionenauflagen. Marie Louise Fischer starb am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.
- Autor: Marie L. Fischer
- 2006, 413 Seiten, Maße: 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453771621
- ISBN-13: 9783453771628
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