Die Trauer trägt schwarz
Simon Croft, ein enger Freund der Tynedales, wird erschossen aufgefunden. Jury ahnt, dass er einen verborgenen Gegenspieler hat, der alles daran setzt, die Vergangenheit für immer ruhen zu lassen.
Die Trauer trägt Schwarz von Martha Grimes
Leseprobe
Die Spur der Erinnerung
» Dichter , steht da, gestorben am Stich einer Rose. War wohl ein Dorn, der ihn gestochen hat. Um wen,glauben Sie, handelt es sich?« Richard Jury hob denKopf und sah zu Sergeant Wiggins hinüber. »Rilke. Wasist das, ein Kreuzworträtsel? Rilke, wenn ich mich nicht irre.« Das tat ersowieso so gut wie nie. Jury las gerade einen gerichtsmedizinischen Berichtdurch, als Detective Sergeant Wigginsihn unterbrach. Wiggins kam tatsächlich auf immerabstrusere Arten, aus dem Leben zu scheiden. Irgendwie hatte er es mit dem Tod,fiel Jury nicht zum ersten Mal auf. Oder zumindest mit den Leiden, die dasFleisch befallen. Denen war Wiggins, wenn man ihn soreden hörte, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Rilke?«,sagte Wiggins. Er zählte die Kästchen. »Das würdesogar passen. Sie könnten sicher im Handumdrehen jedes Kreuzworträtsel lösen,wenn Sie solche Sachen wissen.« Er schenkte Tee ein.»Das ist das Einzige, was ich in der Richtung weiß.« Wiggins löffelte vier Teelöffel Zucker in seine eigeneTasse und wollte sich schon an Jurys Tee machen. »Einen«, wies Jury ihnzurecht, ohne von seinem Aktenhefter aufzublicken. Die Teezubereitung hatte indiesem Büro inzwischen den Status eines Rituals, das sie schon so langevollzogen, dass Jury immer wusste, bei welchem Schritt Sergeant Wiggins gerade war. Vielleicht lag es am Löffel, der jedesMal, wenn er gegen die Tasse klickte, ein leises Signal aussandte. »Der waralso Bluter, dieser Rilke?« »Was weiß ich.« Selbstverständlich würde Wigginses wieder einer Blut- oder Knochenkrankheit zuschreiben. Es entstand eineziemlich lange Pause, während der Jury dann doch den Blick hob und Wiggins musterte. Der hatte die Hände um beide Henkelbechergeschmiegt und starrte aus dem Fenster. »Kriegt mein Henkelbecher jetztvielleicht kleine Becherbeinchen und marschiert von selbst hier herüber?« Wiggins fuhr hoch. »OVerzeihung, Sir.« Er stand auf und brachte Jury denTee. Dann kehrte er wieder zu seinem Schreibtisch am anderen Ende des Raumszurück und meinte: »Ich kann mir einfach keine andere Blutkrankheit vorstellen,die zum Tod durch den Stich eines Rosendorns führen würde.«
Unwillkürlich kamen Jury einpaar Gedichtzeilen in den Sinn: O Rose, so betrübt! Der verborgeneWurm...William Blake. Das würde er Wiggins gegenüberaber nicht erwähnen. Ein Rosentod pro Vormittag genügte. Wigginsließ nicht locker. »Ein kleiner Pieks führt dazu, dass so viel Blut fließt? Ichmeine, daran konnte der Kerl doch wohl kaum verbluten.«Er runzelte die Stirn, trank nachdenklich seinen Tee. »Die Antwort müsste icheigentlich wissen.« »Wieso? Dafür gibt es dochPolizeiärzte. Rufen Sie in der Gerichtsmedizin an, wenn Sie es unbedingt wissenwollen.« Der die Nacht durchpflügt/Im heulenden Sturm.Jury klappte den Ordner über der Aufnahme mit den Skelettresten zu und blicktezum Fenster hinaus. Draußen fiel leichter Schnee. Es reichte kaum, um denGehweg zu überziehen, geschweige denn für einen Skihang. Ach, hatte ervielleicht vor, in Islington Ski zu laufen? Er könnteja nach High Wycombe fahren, dort lag das ganze Jahrüber genug Schnee. Wie deprimierend! In zwei Wochen war Weihnachten. Nochdeprimierender! »Fahren Sie über Weihnachten nach Manchester, Wiggins?« »Ja, zu meiner Schwesterund ihrer Brut. Und Sie, Sir?« »Ob ich nach Newcastlefahre? Nein.« Dass er seine Cousine (und ihre Brut) in diesem Jahr nichtbesuchen würde, erfüllte ihn mit einem derart köstlichen Gefühl der Genugtuung,dass er sich fragte, ob das Glück denn nicht einfach darin lag, etwas nicht zutun, statt es zu tun. Wiggins wartete offenbardarauf, dass Jury ihn über seine Weihnachtspläne informierte. Wenn Newcastle nicht zur Debatte stand, was dann? Als Jury mitnichts Besserem aufwartete, bohrte Wiggins auch nichtweiter nach. Er kehrte einfach zum Tod und den Gegenmittelchen zurück, wovoneinige Fläschchen auf seinem Schreibtisch aufgereiht standen. Wiggins begutachtete seine Sammlung in aller Ruhe, entschiedsich für eine zähe, rosafarbene Flüssigkeit und drückte ein paar Tröpfchendavon in ein halbes Glas Wasser, was er sodann mit leicht kreisenden Bewegungenvermengte.
»Wir haben Weihnachtendoch Dienst, zumindest am Weihnachtsmorgen«, sagte er. »Ich bin wahrscheinlicherst zum Abendessen in Manchester.« »Mann, fahren Siedoch einfach los. Ich kann doch für Sie einspringen.« Wiggins schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, das wäre nichtfair. Nein, ich bleibe schon hier. Weihnachten ist vielleicht der Teufel los,wenn die Leute beschließen, sich gegenseitig die Nase einzuschlagen. MancheKerle wissen nichts Besseres mit einem Feiertag anzufangen, als sich eineKnarre zu schnappen.« Jury lachte. »Stimmt. Vielleichthaben wir ja am Weihnachtstag Zeit für ein tolles Mittagessen bei Danny Wu. Der hat feiertags nie geschlossen.«Ruiyi war das beste Restaurant in Soho. Es wurdestill, lautlos fiel der Schnee. Jury überlegte, was er Wigginsschenken sollte. Irgendein medizinisches Fachbuch, in dem womöglich sogar Rilkes»Blutkrankheit« beschrieben war, sofern dieser überhaupt daran erkrankt war.Ein Dornenstich. O Rose, so betrübt! Er versuchte, sich an die letzten vierZeilen dieses kurzen Gedichts zu erinnern, doch sie wollten ihm einfach nichtmehr einfallen.
Wiggins hatte sich wieder der Zeitung zugewandt. »Jetztwollen sie die alten Gaswerke in Greenwich abreißen. Um dieses Riesendinghochzuziehen, den Millennium Dome, von dem jetzt andauernd die Rede ist.« Jurywollte nichts davon hören und auch nicht darüber reden. Wigginswar ganz versessen auf das Thema. »Das dauert noch, Wiggins.Warten wir's ab und lassen wir uns überraschen.« Wiggins musterte ihn skeptisch, nicht wissend, was er vondiesem rätselhaften Kommentar halten sollte. Jury stand auf, zog seinen Mantelan und nahm den Ordner mit Haggertys Bericht vomSchreibtisch. »Ich fahre in die City. Falls Sie mich brauchen, ich bin beiMickey Haggerty auf der Polizeistation Snow Hill.»Ist gut.« Wiggins trank sein rosa Zeug und wandte sich zum Fenster.Als Jury schon fast draußen war, sagte Wiggins vorsich hin: »Klingt fast wie aus einem Märchen.« »Wasdenn? Der Millennium Dome?« »Nein, nein, nein. Diesen Rilke meine ich. Wie diePrinzessin, die sich beim Spinnen in den Finger gestochen hat und in einentiefen, tiefen Schlaf fällt. Am Stich eines Rosendorns zu sterben.« Er sah Jury an. »Irgendwie ein atemberaubender Tod,nicht?« »Darauf könnte ich gut und gerne verzichten, Wiggins.Bis dann.«
(C) Goldmann Verlag
Übersetzung: Cornelia C.Walter
Autoren-Porträt von Martha Grimes
Martha Grimes wurde in Pittsburgh geboren und studierte an derUniversity of Maryland. Sie unterrichtete lange Zeit kreatives Schreiben an derJohns-Hopkins-University und lebt heute abwechselndin Washington, D.C., und in Santa Fe, New Mexico.
- Autor: Martha Grimes
- 2003, 2. Aufl., 478 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Walter, Cornelia C.
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442309751
- ISBN-13: 9783442309757
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