Die Wunderkur
Roman. Deutsche Erstveröffentlichung
"Unterhaltsamer und besser geschrieben als jedes Coelho-Buch." -- Svenska Dagbladet
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
"Ein zeitgemäßer Roman...
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Wunderkur “
"Unterhaltsamer und besser geschrieben als jedes Coelho-Buch." -- Svenska Dagbladet
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
"Ein zeitgemäßer Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, der große wie kleine Probleme behandelt - zerbrechende Ehen, Kinderlosigkeit, Diätwahn, die Suche nach Gott und den Hunger nach Süßem." -- Schwedischer Rundfunk
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
"Ein zeitgemäßer Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, der große wie kleine Probleme behandelt - zerbrechende Ehen, Kinderlosigkeit, Diätwahn, die Suche nach Gott und den Hunger nach Süßem." -- Schwedischer Rundfunk
Klappentext zu „Die Wunderkur “
Woody Allen auf Schwedisch: Ein Therapeutenpärchen und ihre "Wunderkur" per Internet ...Heilung per Internet: Das Therapeutenpaar Jelena und Tim betreibt seit einiger Zeit gemeinsam mit Ärztefreund Lars ein florierendes Beratungsunternehmen. Unter Lebenskunst.com bieten sie all jenen, denen Sigmund Freud zu verstaubt, C.G. Jung zu konstruiert und der esoterische Dschungel zu undurchsichtig ist, die ideale Therapie an: wissenschaftlich fundiert, mit einem Schuss Spiritualität versetzt. Alles läuft glatt, doch dann sind sie gezwungen, sich einen neuen Geschäftspartner zu suchen, weil Lars eine Midlife-Krise durchlebt und der Neuzugang, ein charismatischer Priester, von dem es heißt, er könne Wunder bewirken, ist so charmant wie unzuverlässig
"Unterhaltsamer und besser geschrieben als jedes Coelho-Buch." -- Svenska Dagbladet
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
"Ein zeitgemäßer Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, der große wie kleine Probleme behandelt - zerbrechende Ehen, Kinderlosigkeit, Diätwahn, die Suche nach Gott und den Hunger nach Süßem." -- Schwedischer Rundfunk
"Eine wilde Komödie, die es in sich hat! Da ist alles drin: Liebe, Erotik, die Sehnsucht nach Gott!" -- Aftonbladet
"Ein zeitgemäßer Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, der große wie kleine Probleme behandelt - zerbrechende Ehen, Kinderlosigkeit, Diätwahn, die Suche nach Gott und den Hunger nach Süßem." -- Schwedischer Rundfunk
Lese-Probe zu „Die Wunderkur “
Die beiden waren kaum aus der Tür hinaus, da ging ich auch schon an die Decke.Sie spazierten Hand in Hand aus dem Restaurant - ihre schmalen, mädchenhaften Finger mit den abgeknabberten Nägeln in seiner breiten, rauen Pranke, auf der die Adern deutlich hervortraten.
Wir blieben sitzen, mein Mann Tim und ich, tranken unseren Kaffee und warteten auf die Rechnung. Das war der Moment, in dem ich uns schrecklich blamierte. Ich schimpfte so laut, dass es im ganzen Lokal zu hören war:
"Warum hat er sie eigentlich hierhergebracht? Was ging sie die ganze Sache an? Sie hat die ganze Zeit doch nur dagesessen und blöd geglotzt!"
"Du bist peinlich", zischte Tim. "Beruhige dich."
Ich senkte die Stimme, hörte aber nicht auf, den ganzen Frust herauszulassen, der sich während des Essens in mir aufgestaut hatte.
Unser Kompagnon Lars wollte sein weiteres Engagement in unserer gemeinsamen Firma erörtern.
Natürlich wusste ich, dass er sich gerade von seiner Frau getrennt hatte. Wie hätte mir das entgehen sollen, wenn Tuulia mehrmals am Tag anrief und mir von ihrer Verzweiflung, ihrem Zorn und ihrer Eifersucht erzählte - und von allen Stadien, in denen sie diese Gefühle durchlebte?
Sie verlangte Aufmerksamkeit, Trost und Verständnis, und ich leistete Erste Hilfe, da es mehr als offensichtlich war, dass sie innerlich verblutete. Aber Arbeit ist Arbeit. Tuulia versuchte zwar, Lars zu bestrafen, indem sie uns, ihren gemeinsamen Freunden und Bekannten, heilige Versprechen abnahm, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch mein Mann und ich hatten legitime und zwingende Gründe, uns mit ihm zu treffen. Lars besaß zwanzig Prozent der Aktien von www.lebenskunst.com.
Ich musste mich also seinetwegen über meine Loyalität zu einer anderen Frau hinwegsetzen - und dann tut er mir das an! Taucht mit seiner neuen Flamme auf, die halb so alt ist wie seine Frau, die Hälfte von dem wiegt, was sie wiegt und außerdem ein Zehntel von der Intelligenz seiner Frau besitzt. Und dann haben die
... mehr
beiden die Frechheit, sich anzufunkeln, während wir versuchen, über unseren Umsatz, unser Marketing, ja, unsere gesamte Zukunft zu diskutieren! Und den Bart hat er sich abrasiert, den Bart, den er in all den Jahren, die wir ihn kennen, getragen hat!
"Ich will nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten", sagte ich. "Es ist nicht recht, dass ein Mann auf seine Ehe und seine Kinder pfeifen und einfach den flotten Jüngling mimen kann. Ich verstehe nicht, weshalb ich an einer Beziehung arbeiten soll, wenn man offenbar einfach ab- hauen kann, wie gewisse Leute. Wenn man sich einfach unbekümmert aus dem Staub machen kann!"
"Sag Bescheid, wenn die moralische Viertelstunde vorbei ist", zischte mein Mann, bevor er zahlte und wir nach Hause fuhren.
Den Rest des Tages verbrachten wir schweigend.
Offenbar hatte meine moralische Viertelstunde ihre eigene Zeitrechnung.
Am nächsten Morgen war alles wieder wie gehabt. Es war ein Mittwoch.
Ich war spät in der Nacht eingeschlafen und wachte dementsprechend spät auf, mit Kopfschmerzen und einem Unwohlsein im Körper, das ich auf dem psychosomatischen Konto verbuchte. Ich war allein zu Hause. Tim war ins Büro gefahren.
Ich machte mir zum Frühstück vier Schnitten aus gesundem, ungesüßtem, ballaststoffreichem Brot mit Quark und Lachs, schenkte mir ein Riesenglas Orangensaft ein und blätterte in der Tageszeitung. Aber als sie durchgelesen und die Schnitten aufgegessen waren, kam das seelische Unwohlsein zurück. Ich blieb eine Weile am Frühstückstisch sitzen und ängstigte mich vor all der Arbeit, die sich angesammelt hatte, und vor all dem Geld, das uns fehlte, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Computer anzuschalten.
Ich rief Wilma auf ihrem Handy an. Überraschenderweise meldete sie sich sofort. Sie war schon am Arbeitsplatz, hatte aber noch nicht losgelegt.
Wilma war Maklerin. Nach vielen Jahren als Angestellte hatte sie sich gerade selbständig gemacht, und selbst durchs Telefon konnte ich förmlich die brodelnde Geschäftigkeit spüren, die in dem neuen Büro herrschte. Trotzdem hatte sie Zeit, mit mir zu sprechen.
Sie ist in der Tat eine richtig gute Freundin. Wir kennen uns schon ewig lange und nicht immer war zwischen uns immer alles Friede und Freude. Ehrlich gesagt ist es noch gar nicht lange her, seit wir nach einer ziemlich langen Funkpause den Kontakt wiederaufgenommen haben.
Ich erzählte von dem katastrophalen Geschäftsessen des gestrigen Tages, und Wilma seufzte an den richtigen Stellen. Dann sagte sie:
"Weißt du, so was trifft uns letztlich alle. Was Lars uns, also sämtlichen gleichaltrigen Frauen aus seinem Bekanntenkreis, an den Kopf wirft, ist doch in etwa das: Ich will keine von euch. Ich bringe lieber eine junge Frau ins Spiel. Ihr könnt mir gestohlen bleiben mit euren weiblichen Formen und akademischen Titeln und eurer Lebensweisheit, weil nichts von alldem ein bisschen festes Fleisch aufwiegt."
"Und warum war Tim dann mit mir böse?"
"Weil sich für ihn die ganze Sache anders darstellt. Lars' Verhalten ist doch keine Bedrohung seiner Männlichkeit, oder?", erklärte Wilma vernünftig. "Im Gegenteil. Tim wird darin bestätigt, dass das Leben weitergeht, dass alles für ihn noch drin ist, auch wenn man einen schlafferen Hintern und grauere Haare und Tränensäcke bekommt. Nicht einmal kleinere Potenzschwächen können einen gewissen Typ von jungen Frauen von diesen glamourösen älteren Herren fernhalten. Diese Frauen sind fasziniert von der Aura der Macht."
"Macht", schnaubte ich. "Was für eine Macht hat denn Tim? Unangenehme Arbeitszeiten und nicht viel Einkommen, das ist alles, was er hat."
"Tja", sagte Wilma, "vielleicht Macht über die Seelen? Oder über die Psyche oder wie man das nennen soll."
"Aber in dem Fall hätte ich ja dieselbe Macht wie er und Lars", wandte ich ein. "Ich bin auch Therapeutin, und sehr erfolgreich noch dazu. Trotzdem sehe ich keine schmachtenden, gut gebauten Jünglinge vor meiner Tür Schlange stehen. Ja, ja, du musst nichts sagen, ich weiß, ich bin eine Frau. Aber ich hätte mehr Respekt vor Lars, wenn er eine Frau in seinem Alter und nicht zuletzt in seiner Gewichtsklasse gefunden hätte."
Wilma lachte, und wir sagten Tschüß und legten auf.
Wilma war schlank. An der Grenze zur Anorexie, fand ich. Aber ich hatte kein Recht, darüber zu urteilen, nachdem mein eigenes Gewicht schon längst alle BMI-Grenzen gesprengt hatte. Ich wog nämlich achtzig Kilo.
Angesichts meiner Größe, die etwas unter dem schwedischen Durchschnitt lag, hatte ich etwa zwanzig Kilo zu viel drauf.
Vielleicht meint jemand, das seien nur trockene Zahlen. Aber wenn man darüber nachzudenken beginnt, wie viel zwanzig Kilo eigentlich sind, kann man nicht anders als einen Heidenrespekt empfinden vor der Aufgabe, das alles wieder abzuspecken. Ein gesundes vierjähriges Kind wiegt beispielsweise zwanzig Kilo. Ich müsste also das Gewicht eines kräftigen Vierjährigen verlieren, um wieder in meine alten Jeans zu passen.
Nun kann man sich natürlich fragen, warum jemand überhaupt den Wunsch haben sollte, seine alten Klamotten anzuziehen und so viel abzunehmen, wie ein Vierjähriger wiegt. Stattdessen könnte man doch auch einfach versuchen, sich mit seinem neuen Gewicht wohlzufühlen, neue Sachen bei Big Is Beautiful kaufen und damit aufhören, sich um ein paar Kilo Übergewicht zu sorgen?
Hätte ich im Barock gelebt, hätte ich als schön gegolten. Oder ich hätte Europa einfach den Rücken kehren und mich in Afrika niederlassen sollen. Von dem, den man liebt, kann man dort bekanntlich nicht genug haben.
Aber nun wohnte ich nicht in Gaborone, sondern in Schweden, wo sich dicke Männer mittleren Alters ohne Weiteres mit gertenschlanken Frauen zusammentaten, die gerade aus dem Backfischalter heraus waren.
Natürlich war es unter meiner Würde, den von den Boulevardblättern propagierten Schlankheitswahn mitzumachen. Außerdem - wie würde ich aussehen, wenn zwanzig Kilo von meinem Körper verschwanden? Was würde übrig bleiben? Oder wer? Wäre ich das?
Ein unangenehmes Gefühl des Ausgeliefertseins beschlich mich. Ich hatte schon lange geahnt, dass mein Fett eher Schutz als Bürde war. Das Fett umschloss mich wie ein Schild, es vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit. Nichts Böses konnte mir geschehen, solange diese weiche, geschmeidige Hülle um mich herum war.
Aber welche Gefahr drohte mir? Wogegen musste ich mich wehren?
Nein, es gab keine einfache Lösung für mein Dilemma. Ich war nicht nur der Geist in der Flasche. Ich war sowohl der Geist als auch die Flasche, in welcher der Geist eingesperrt war. Um mich zu befreien, müsste ich mich selbst zerschlagen.
Ich überlegte, ob ich Tuulia anrufen sollte, entschied mich aber dagegen.
Ich hing sowieso viel zu oft am Telefon und durfte diese Gewohnheit nicht noch mehr einreißen lassen.
Stattdessen stellte ich den Computer an.
Auch im Internet war ich viel zu oft, aber in diesem Fall konnte ich mich wenigstens damit herausreden, dass ich mir so meine Brötchen verdiente. Nun ja, vielleicht eher trockenen Zwieback, aber immerhin.
Es wird Zeit, dass ich ein wenig von unserer Firma erzähle: www.lebenskunst.com.
Unsere Geschäftsidee war ziemlich einfach - wir wollten einzelnen Personen und Unternehmen psychologische Hilfe und Beratung im Internet anbieten. Tim und ich waren beide ausgebildete Therapeuten, und nach den erforderlichen Fronjahren im öffentlichen Sektor haben wir uns entschlossen, eine eigene Firma zu gründen.
Es hatte viel Hin und Her gegeben, ehe wir den Entschluss fassten, aber es ist langweilig und überflüssig, für jeden kleinen Grund Rechenschaft darüber abzulegen, dass wir taten, was wir taten. Es reicht zu sagen, dass wir uns auf die Weise größere Handlungsfreiheit verschafften, in ein billigeres Haus auf dem Land ziehen konnten, wo die Luft gesünder war, und außerdem mehr Zeit füreinander hatten.
www.lebenskunst.com wandte sich an Menschen mittleren Alters, Männer und Frauen, die schon mehrere Therapieversuche hinter sich hatten, sich aber immer noch schlecht fühlten. Menschen, die sich nach mehr sehnten als nach synthetischen psychodynamischen Kindheitserinnerungsmodellen und klapprigen jungianischen Konstruktionen, sich aber zu gut waren für den esoterischen Wildwuchs. Menschen, die sich weigerten, Heilsteine zu reiben und verschwommene Fotografien zu analysieren, die angeblich ihre Aura abbilden sollten.
Wir boten ihnen die Quadratur des Kreises: eine wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethode mit einem Schuss Spiritualität versetzt. Eine Wunderkur.
Ich erinnere mich an den Moment, in dem unsere Idee geboren wurde - es war ein Montagabend.
Wir trafen uns jeden Montag mit ein paar Bekannten zum Essen, und dabei formulierten wir unser Konzept. Wie gewöhnlich, wenn ein angeregtes Gespräch mit vielen Leuten im Gang ist, die reden wie ein Wasserfall und einander ständig ins Wort fallen, ist es schwierig, im Nachhinein festzustellen, von wem die brillanteste Formulierung kam, aber das spielt keine Rolle. Der Gedanke, der sich beim Kaffee herauskristallisierte, war verführerisch einfach.
Die moderne Heilkunde geht ja davon aus, dass unser Lebensstil nicht ohne Einfluss auf unsere Gesundheit ist. Wenn wir uns falsch ernähren, wenn wir rauchen, trinken und Drogen nehmen oder wenn wir uns nicht genug bewegen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir erkranken oder eine bereits bestehende Krankheit sich verschlimmert.
Der Begriff psychosomatische Erkrankung ist umstrittener, weil er sich auf den Gedanken gründet, dass auch unsere Gefühle und Erlebnisse die Gesundheit negativ beeinflussen. Wenn unsere Gedanken eine soma- tische, körperliche Krankheit verschlimmern können, müsste andererseits auch das Umgekehrte gelten: dass wir, indem wir unsere Gefühlslage oder Gedankenmuster ändern, unsere Genesung beschleunigen. Einfach gesagt sollte es theoretisch möglich sein, sich gesund zu denken. Das ist an sich nichts Neues. Es gibt eine Unmenge von esoterischen Propheten, die im Sinn von Deepak Chopra behaupten, wir könnten uns selbst mit positivem Denken heilen.
Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir.
Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber wir hatten kein Licht gemacht. Der Tisch wurde von einem riesigen Silberkandelaber erleuchtet, und hin und wieder streiften die Scheinwerfer der vorüberfahrenden Autos durchs Zimmer. Das Reklameschild am Haus gegenüber trug mit seiner Neonschrift zur urbanen Beleuchtung bei.
Unsere Gastgeberin war Inger, eine Psychologin in den Fünfzigern, eine charismatische Frau mit einem ziemlich komplizierten Privatleben, zu dem unter anderem ein Liebhaber gehörte, der das halbe Jahr in Sri Lanka lebte.
Außer ihr, Tim und mir bestand unsere Runde aus Lars, der Arzt war, und seiner Frau Tuulia, welche die byzantinische Literatur erforschte. Damals galten sie als das perfekte, unzertrennliche Paar, das mit Alleskleber zusammengefügt zu sein schien. Auch die Gründer unserer "Montagsessen" waren an diesem Abend dabei: die Dokumentarfilmerin Annika und ihr Exmann Ulf, der als Steuerberater arbeitete und deshalb etwas aus dem Rahmen fiel.
Annika hatte einen Kurzfilm über Inger gemacht, so hatten sie sich kennengelernt. Sie hatte in der Nachbarschaft von Tuulia gewohnt. Tim und ich waren über Inger zu der Gruppe gestoßen. Wir waren ja Kolleginnen. Es gab noch ein weiteres Mitglied, Annikas geheimnisvoller kleiner Bruder Ludvig, aber der fehlte an jenem Abend. Wie üblich hatte er nicht abgesagt, aber daran waren wir gewöhnt. Wir hatten gelernt, seine Anwesenheit als angenehme Überraschung zu akzeptieren. Sich im Voraus auf Ludvig freuen, tat man besser nicht.
Am Tisch wurde es auf einmal still. Lars spielte mit dem Serviettenring. Tuulia legte ihre Hand beschützend auf seine. Annika stand auf und ging zum Fenster, und Ulf streckte sich nach der Kaffeekanne. Inger holte eine Zigarette heraus, und Tim beugte sich vor, um ihr Feuer zu geben.
Ich weiß nicht, woran jeder von ihnen in diesem Moment dachte. Ulf war es, der das Schweigen brach.
"Gibt es keine Forschung auf diesem Gebiet?", fragte er.
Lars, der immer gern dozierte, fühlte sich zu einer Entgegnung aufgerufen.
"Doch! Es gibt eine Menge Forschungsarbeiten über psychosomatische Krankheiten und wie sie entstehen Weiter kam er nicht. Tuulia fiel ihm ins Wort:
"Aber gibt es auch Forschungsarbeiten über das Gegenteil - also darüber, ob Krankheiten mit Hilfe der richtigen Einstellung gemildert werden können?"
Inger nahm einen tiefen Lungenzug und sagte:
"Jetzt befinden wir uns auf dem Boden der fortschrittlichen Theologie. Wenn dein Glaube stark genug ist, wirst du in diesem Leben Erfolg haben. Aber wenn du zweifelst, straft dich Gott. Ich habe Patienten gehabt, die geglaubt haben, ihre Kinder seien gestorben, weil sie ihre Sünden nicht genügend bereut oder nicht richtig gebetet haben. Ich meine, die Idee, dass wir uns gesund glauben können, scheint ansprechend, hat tatsächlich aber eine Kehrseite: Was ist mit allen, die scheitern?"
"Meinst du im Gegensatz zu allen, die Erfolg haben?", parierte Ulf mit einem Lächeln. "Wie war das mit der wissenschaftlichen Forschung, Lars?"
Lars warf einen Seitenblick auf Tuulia, bevor er fortfuhr:
"Ich glaube, dass im Karolinska-Krankenhaus ein großes Projekt starten soll. Sie haben kürzlich Geld von einer amerikanischen Stiftung erhalten, aber es wird ein großes Geheimnis darum gemacht. Kontrovers, könnte man sagen. Wenn ihr wollt, kann ich das bis zum nächsten Mal recherchieren."
"Es gibt", sagte ich, "einen russischen Guru, der da drüben zur Zeit unheimlich populär ist."
Tim lehnte sich auf der Küchenbank zurück.
"Passt auf", warnte er, "jetzt kommt gleich etwas über die magnetischen Stürme."
Tim liebte es, mich mit meinem russischen Hintergrund zu ärgern. Manchmal war ich unsicher, ob die Betonung auf "lieben" oder "ärgern" lag, aber meistens waren seine Sticheleien charmant und liebevoll. Der Scherz über die magnetischen Stürme hatte einen wahren Hintergrund; eine Zeitlang gehörten Warnungen vor magnetischen Stürmen zu den gewöhnlichen Nachrichten in Russland, zwischen dem Sport und dem Wetterbericht. Die Autofahrer wurden ermahnt, besonders vorsichtig zu sein, und die Herzkranken, Stress zu meiden.
Ich wurde in Russland geboren, zog aber Mitte der siebziger Jahre, als das Austauschprogramm von sowjetischen Juden gegen westliche Technologie auf Hochtouren lief, nach Schweden. Die meisten russischen Juden landeten in Israel oder den USA, nur ein kleiner Teil gelangte in den nahe gelegenen Norden. Im Unterschied zu den Gastarbeitern wurden wir, die wir aus dem Reich des Bösen geflohen waren und die Sprache Tolstois und Dostojewskis sprachen, vom schwedischen Volk im Allgemeinen und von den Intellektuellen im Besonderen mit offenen Armen aufgenommen. Ich durchlief das Gymnasium (mehr oder weniger) reibungslos, glitt genauso leicht durchs Universitätsstudium und war jetzt, knapp dreißig Jahre später, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, das nur durch einen schwachen Akzent auffiel (viel weniger merkbar als bei der Königin) und durch einen etwas eigenartigen Humor.
Meine Bindungen an Russland waren schwach - außer meiner Mutter und meinem Vater, die in Stockholm wohnten, hatte auch mein Onkel mit seiner Familie hier eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, und jetzt hatte ich nur noch entfernte Verwandte in dem großen Land, das im Übrigen bedenklich geschrumpft war, seit ich es verlassen hatte.
Aber es gefiel mir, Russisch zu sprechen und zu lesen. Mit meiner Mutter telefonierte ich jeden Tag, mit meinen Vettern und Kusinen mindestens einmal pro Woche. Ich las russische Zeitungen, die im Unterschied zu den schwedischen von aller politischen Korrektheit herrlich frei waren. Und während meine ersten Jahre in Schweden ein verzweifelter Kampf um Anpassung waren, wurde ich mit der Zeit immer lockerer. Je mehr ich hier etabliert war, desto "russischer" konnte ich mir erlauben zu sein.
"In Russland gibt es einen Guru", sagte ich also. "Er heißt Feinstein. Er sagt unter anderem, dass wir Misserfolge in jeder Form willkommen heißen sollen, Beleidigungen, Verrat und Krankheiten. Er sagt, dass wir uns auf einer äußeren Ebene natürlich wehren müssen, wenn wir beleidigt und verraten werden, und selbstverständlich einen Arzt aufsuchen sollen, wenn wir krank werden. Dass wir aber auf einer inneren, viel tieferen Ebene Misserfolgen mit einer Art . ^ wie sagt man auf Schwedisch ^ Gutmütigkeit begegnen sollen. Gutmütigkeit. Ja, das ist das richtige Wort. Gutmütigkeit. Und diese Gutmütigkeit soll man bewusst pflegen. Denn wenn wir den Misserfolgen nicht auf die richtige Art begegnen, werden sie uns verfolgen, bis wir unsere Lektion gelernt haben."
"Gutmütigkeit", wiederholte Lars langsam. "Ich mag diesen Russen. Was sagt er denn sonst noch?"
"Er spricht von etwas, das er >das System der Liebe< nennt, einem Prozess, der aus ganz bestimmten Schritten besteht, die in allen Kulturen gleich sind. Wenn du ein Problem hast oder eine Krankheit bekommst, sollst du darüber nachdenken, woran genau diese Krankheit oder Situation dich hindert. Diese Sache ist gefährlich für dich, weil du sie womöglich überbewertest. Du hängst dein Leben daran auf - und zwar auf eine Art, die den Fluss der Liebe hemmt. Erst wenn du gelernt hast, mit diesen, wie soll ich sagen, Versuchungen richtig umzugehen, verschwindet die Krankheit. Die Krankheit ist also so etwas wie ein Schutz. Er hat eine Internetseite, auf der er alle möglichen Fragen beantwortet, und er hat eine Praxis in Moskau, und außerdem reist er im Land herum und hält Vorträge, die ungeheuer gut besucht sind."
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Tims Augen aufleuchteten. Jetzt befand ich mich auf dem Gebiet der Seele, das ihn brennend interessierte und wo er an die Kraft einer allumfassenden, heilenden Gemeinschaft glaubte. Und er sagte:
"Warum machen wir nicht das Gleiche?"
Und da keiner von uns ein ausreichend gutes Gegenargument hatte, gründeten wir www.lebenskunst.com. Wir, das waren Tim und ich - und Lars.
Ulf engagierte sich ebenfalls. Er investierte zwar kein Geld, half uns aber, das Unternehmen zu gründen und einen soliden Geschäftsplan auszuarbeiten. Er stellte uns seiner Kontaktperson in der Bank vor und empfahl uns eine ausgezeichnete PR-Firma, die zu einem sehr vernünftigen Preis unser Marketing übernahm. Ohne Ulfs Hilfe hätten wir nie den komplizierten Prozess von der Ähre zum Brot, von der Idee zum Resultat geschafft.
Um der Gerechtigkeit willen muss ich sagen, dass wir es auch nicht ohne Lars geschafft hätten. Dass er Arzt war, verlieh unserem Unternehmen Gewicht und Renommee. Tim und ich waren zwar ausgebildete Therapeuten, doch ein Arzt stand klar höher im Kurs.
Mein Beitrag war eine Übersetzung des großen Werks des russischen Gurus, "Das System der Liebe und die Strukturen der Seele", das wir alle vier studierten und das uns gleichermaßen begeisterte und erschreckte (unter anderem behauptete Feinstein, Inzestopfer sollten nicht nur, sondern müssten sogar eine Bindung an den Täter anerkennen).
Tim war der große Organisator, der alle Fäden in der Hand hielt.
Wir reisten alle vier nach Moskau, um an einem von Feinsteins Seminaren teilzunehmen, die auf Englisch gehalten wurden und sich an Menschen wie uns richteten: professionelle Heiler mit der Sehnsucht nach mehr als trockenen Theorien und starren Schablonen. Wir wollten die Augen schließen und springen, durch die Luft schweben und aufgefangen werden.
Wir öffneten uns vollständig fremden Menschen auf eine Weise, wie wir es noch nie getan hatten.
Wir weinten hemmungslos, wenn wir sahen, wie Menschen von jahrelangem Leid erlöst wurden.
Als wir wieder nach Hause kamen, waren wir für alles gerüstet.
Auf unsere Werbung hin wurden wir mit Klienten nur so überschwemmt. Die seelische Not im schwedischen Volksheim schwappte übers Breitband in unser Wohnzimmer, auf unserem Monitor blühten die wunderlichsten Schmerzen auf.
Kranke, behinderte, schräge und verquere, verwirrte und verzweifelte Stimmen strömten zu uns - mitunter anonym, das erlaubten wir -, meist jedoch mit vollständigem Namen und Adresse, bis hin zur letzten Ziffer der Postleitzahl.
Und wir schrieben und schrieben uns die Finger wund.
Heute war ein Arbeitstag, ich war an der Reihe, die Post durchzusehen.
Ich stellte den Computer an und ging in die Küche, um mir etwas Kaffee aufzubrühen. Ich hatte immer eine Tasse neben mir, wenn ich arbeitete, und hörte gern Musik dabei. Es half mir, mich zu konzentrieren.
"Ich will nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten", sagte ich. "Es ist nicht recht, dass ein Mann auf seine Ehe und seine Kinder pfeifen und einfach den flotten Jüngling mimen kann. Ich verstehe nicht, weshalb ich an einer Beziehung arbeiten soll, wenn man offenbar einfach ab- hauen kann, wie gewisse Leute. Wenn man sich einfach unbekümmert aus dem Staub machen kann!"
"Sag Bescheid, wenn die moralische Viertelstunde vorbei ist", zischte mein Mann, bevor er zahlte und wir nach Hause fuhren.
Den Rest des Tages verbrachten wir schweigend.
Offenbar hatte meine moralische Viertelstunde ihre eigene Zeitrechnung.
Am nächsten Morgen war alles wieder wie gehabt. Es war ein Mittwoch.
Ich war spät in der Nacht eingeschlafen und wachte dementsprechend spät auf, mit Kopfschmerzen und einem Unwohlsein im Körper, das ich auf dem psychosomatischen Konto verbuchte. Ich war allein zu Hause. Tim war ins Büro gefahren.
Ich machte mir zum Frühstück vier Schnitten aus gesundem, ungesüßtem, ballaststoffreichem Brot mit Quark und Lachs, schenkte mir ein Riesenglas Orangensaft ein und blätterte in der Tageszeitung. Aber als sie durchgelesen und die Schnitten aufgegessen waren, kam das seelische Unwohlsein zurück. Ich blieb eine Weile am Frühstückstisch sitzen und ängstigte mich vor all der Arbeit, die sich angesammelt hatte, und vor all dem Geld, das uns fehlte, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Computer anzuschalten.
Ich rief Wilma auf ihrem Handy an. Überraschenderweise meldete sie sich sofort. Sie war schon am Arbeitsplatz, hatte aber noch nicht losgelegt.
Wilma war Maklerin. Nach vielen Jahren als Angestellte hatte sie sich gerade selbständig gemacht, und selbst durchs Telefon konnte ich förmlich die brodelnde Geschäftigkeit spüren, die in dem neuen Büro herrschte. Trotzdem hatte sie Zeit, mit mir zu sprechen.
Sie ist in der Tat eine richtig gute Freundin. Wir kennen uns schon ewig lange und nicht immer war zwischen uns immer alles Friede und Freude. Ehrlich gesagt ist es noch gar nicht lange her, seit wir nach einer ziemlich langen Funkpause den Kontakt wiederaufgenommen haben.
Ich erzählte von dem katastrophalen Geschäftsessen des gestrigen Tages, und Wilma seufzte an den richtigen Stellen. Dann sagte sie:
"Weißt du, so was trifft uns letztlich alle. Was Lars uns, also sämtlichen gleichaltrigen Frauen aus seinem Bekanntenkreis, an den Kopf wirft, ist doch in etwa das: Ich will keine von euch. Ich bringe lieber eine junge Frau ins Spiel. Ihr könnt mir gestohlen bleiben mit euren weiblichen Formen und akademischen Titeln und eurer Lebensweisheit, weil nichts von alldem ein bisschen festes Fleisch aufwiegt."
"Und warum war Tim dann mit mir böse?"
"Weil sich für ihn die ganze Sache anders darstellt. Lars' Verhalten ist doch keine Bedrohung seiner Männlichkeit, oder?", erklärte Wilma vernünftig. "Im Gegenteil. Tim wird darin bestätigt, dass das Leben weitergeht, dass alles für ihn noch drin ist, auch wenn man einen schlafferen Hintern und grauere Haare und Tränensäcke bekommt. Nicht einmal kleinere Potenzschwächen können einen gewissen Typ von jungen Frauen von diesen glamourösen älteren Herren fernhalten. Diese Frauen sind fasziniert von der Aura der Macht."
"Macht", schnaubte ich. "Was für eine Macht hat denn Tim? Unangenehme Arbeitszeiten und nicht viel Einkommen, das ist alles, was er hat."
"Tja", sagte Wilma, "vielleicht Macht über die Seelen? Oder über die Psyche oder wie man das nennen soll."
"Aber in dem Fall hätte ich ja dieselbe Macht wie er und Lars", wandte ich ein. "Ich bin auch Therapeutin, und sehr erfolgreich noch dazu. Trotzdem sehe ich keine schmachtenden, gut gebauten Jünglinge vor meiner Tür Schlange stehen. Ja, ja, du musst nichts sagen, ich weiß, ich bin eine Frau. Aber ich hätte mehr Respekt vor Lars, wenn er eine Frau in seinem Alter und nicht zuletzt in seiner Gewichtsklasse gefunden hätte."
Wilma lachte, und wir sagten Tschüß und legten auf.
Wilma war schlank. An der Grenze zur Anorexie, fand ich. Aber ich hatte kein Recht, darüber zu urteilen, nachdem mein eigenes Gewicht schon längst alle BMI-Grenzen gesprengt hatte. Ich wog nämlich achtzig Kilo.
Angesichts meiner Größe, die etwas unter dem schwedischen Durchschnitt lag, hatte ich etwa zwanzig Kilo zu viel drauf.
Vielleicht meint jemand, das seien nur trockene Zahlen. Aber wenn man darüber nachzudenken beginnt, wie viel zwanzig Kilo eigentlich sind, kann man nicht anders als einen Heidenrespekt empfinden vor der Aufgabe, das alles wieder abzuspecken. Ein gesundes vierjähriges Kind wiegt beispielsweise zwanzig Kilo. Ich müsste also das Gewicht eines kräftigen Vierjährigen verlieren, um wieder in meine alten Jeans zu passen.
Nun kann man sich natürlich fragen, warum jemand überhaupt den Wunsch haben sollte, seine alten Klamotten anzuziehen und so viel abzunehmen, wie ein Vierjähriger wiegt. Stattdessen könnte man doch auch einfach versuchen, sich mit seinem neuen Gewicht wohlzufühlen, neue Sachen bei Big Is Beautiful kaufen und damit aufhören, sich um ein paar Kilo Übergewicht zu sorgen?
Hätte ich im Barock gelebt, hätte ich als schön gegolten. Oder ich hätte Europa einfach den Rücken kehren und mich in Afrika niederlassen sollen. Von dem, den man liebt, kann man dort bekanntlich nicht genug haben.
Aber nun wohnte ich nicht in Gaborone, sondern in Schweden, wo sich dicke Männer mittleren Alters ohne Weiteres mit gertenschlanken Frauen zusammentaten, die gerade aus dem Backfischalter heraus waren.
Natürlich war es unter meiner Würde, den von den Boulevardblättern propagierten Schlankheitswahn mitzumachen. Außerdem - wie würde ich aussehen, wenn zwanzig Kilo von meinem Körper verschwanden? Was würde übrig bleiben? Oder wer? Wäre ich das?
Ein unangenehmes Gefühl des Ausgeliefertseins beschlich mich. Ich hatte schon lange geahnt, dass mein Fett eher Schutz als Bürde war. Das Fett umschloss mich wie ein Schild, es vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit. Nichts Böses konnte mir geschehen, solange diese weiche, geschmeidige Hülle um mich herum war.
Aber welche Gefahr drohte mir? Wogegen musste ich mich wehren?
Nein, es gab keine einfache Lösung für mein Dilemma. Ich war nicht nur der Geist in der Flasche. Ich war sowohl der Geist als auch die Flasche, in welcher der Geist eingesperrt war. Um mich zu befreien, müsste ich mich selbst zerschlagen.
Ich überlegte, ob ich Tuulia anrufen sollte, entschied mich aber dagegen.
Ich hing sowieso viel zu oft am Telefon und durfte diese Gewohnheit nicht noch mehr einreißen lassen.
Stattdessen stellte ich den Computer an.
Auch im Internet war ich viel zu oft, aber in diesem Fall konnte ich mich wenigstens damit herausreden, dass ich mir so meine Brötchen verdiente. Nun ja, vielleicht eher trockenen Zwieback, aber immerhin.
Es wird Zeit, dass ich ein wenig von unserer Firma erzähle: www.lebenskunst.com.
Unsere Geschäftsidee war ziemlich einfach - wir wollten einzelnen Personen und Unternehmen psychologische Hilfe und Beratung im Internet anbieten. Tim und ich waren beide ausgebildete Therapeuten, und nach den erforderlichen Fronjahren im öffentlichen Sektor haben wir uns entschlossen, eine eigene Firma zu gründen.
Es hatte viel Hin und Her gegeben, ehe wir den Entschluss fassten, aber es ist langweilig und überflüssig, für jeden kleinen Grund Rechenschaft darüber abzulegen, dass wir taten, was wir taten. Es reicht zu sagen, dass wir uns auf die Weise größere Handlungsfreiheit verschafften, in ein billigeres Haus auf dem Land ziehen konnten, wo die Luft gesünder war, und außerdem mehr Zeit füreinander hatten.
www.lebenskunst.com wandte sich an Menschen mittleren Alters, Männer und Frauen, die schon mehrere Therapieversuche hinter sich hatten, sich aber immer noch schlecht fühlten. Menschen, die sich nach mehr sehnten als nach synthetischen psychodynamischen Kindheitserinnerungsmodellen und klapprigen jungianischen Konstruktionen, sich aber zu gut waren für den esoterischen Wildwuchs. Menschen, die sich weigerten, Heilsteine zu reiben und verschwommene Fotografien zu analysieren, die angeblich ihre Aura abbilden sollten.
Wir boten ihnen die Quadratur des Kreises: eine wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethode mit einem Schuss Spiritualität versetzt. Eine Wunderkur.
Ich erinnere mich an den Moment, in dem unsere Idee geboren wurde - es war ein Montagabend.
Wir trafen uns jeden Montag mit ein paar Bekannten zum Essen, und dabei formulierten wir unser Konzept. Wie gewöhnlich, wenn ein angeregtes Gespräch mit vielen Leuten im Gang ist, die reden wie ein Wasserfall und einander ständig ins Wort fallen, ist es schwierig, im Nachhinein festzustellen, von wem die brillanteste Formulierung kam, aber das spielt keine Rolle. Der Gedanke, der sich beim Kaffee herauskristallisierte, war verführerisch einfach.
Die moderne Heilkunde geht ja davon aus, dass unser Lebensstil nicht ohne Einfluss auf unsere Gesundheit ist. Wenn wir uns falsch ernähren, wenn wir rauchen, trinken und Drogen nehmen oder wenn wir uns nicht genug bewegen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir erkranken oder eine bereits bestehende Krankheit sich verschlimmert.
Der Begriff psychosomatische Erkrankung ist umstrittener, weil er sich auf den Gedanken gründet, dass auch unsere Gefühle und Erlebnisse die Gesundheit negativ beeinflussen. Wenn unsere Gedanken eine soma- tische, körperliche Krankheit verschlimmern können, müsste andererseits auch das Umgekehrte gelten: dass wir, indem wir unsere Gefühlslage oder Gedankenmuster ändern, unsere Genesung beschleunigen. Einfach gesagt sollte es theoretisch möglich sein, sich gesund zu denken. Das ist an sich nichts Neues. Es gibt eine Unmenge von esoterischen Propheten, die im Sinn von Deepak Chopra behaupten, wir könnten uns selbst mit positivem Denken heilen.
Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir.
Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber wir hatten kein Licht gemacht. Der Tisch wurde von einem riesigen Silberkandelaber erleuchtet, und hin und wieder streiften die Scheinwerfer der vorüberfahrenden Autos durchs Zimmer. Das Reklameschild am Haus gegenüber trug mit seiner Neonschrift zur urbanen Beleuchtung bei.
Unsere Gastgeberin war Inger, eine Psychologin in den Fünfzigern, eine charismatische Frau mit einem ziemlich komplizierten Privatleben, zu dem unter anderem ein Liebhaber gehörte, der das halbe Jahr in Sri Lanka lebte.
Außer ihr, Tim und mir bestand unsere Runde aus Lars, der Arzt war, und seiner Frau Tuulia, welche die byzantinische Literatur erforschte. Damals galten sie als das perfekte, unzertrennliche Paar, das mit Alleskleber zusammengefügt zu sein schien. Auch die Gründer unserer "Montagsessen" waren an diesem Abend dabei: die Dokumentarfilmerin Annika und ihr Exmann Ulf, der als Steuerberater arbeitete und deshalb etwas aus dem Rahmen fiel.
Annika hatte einen Kurzfilm über Inger gemacht, so hatten sie sich kennengelernt. Sie hatte in der Nachbarschaft von Tuulia gewohnt. Tim und ich waren über Inger zu der Gruppe gestoßen. Wir waren ja Kolleginnen. Es gab noch ein weiteres Mitglied, Annikas geheimnisvoller kleiner Bruder Ludvig, aber der fehlte an jenem Abend. Wie üblich hatte er nicht abgesagt, aber daran waren wir gewöhnt. Wir hatten gelernt, seine Anwesenheit als angenehme Überraschung zu akzeptieren. Sich im Voraus auf Ludvig freuen, tat man besser nicht.
Am Tisch wurde es auf einmal still. Lars spielte mit dem Serviettenring. Tuulia legte ihre Hand beschützend auf seine. Annika stand auf und ging zum Fenster, und Ulf streckte sich nach der Kaffeekanne. Inger holte eine Zigarette heraus, und Tim beugte sich vor, um ihr Feuer zu geben.
Ich weiß nicht, woran jeder von ihnen in diesem Moment dachte. Ulf war es, der das Schweigen brach.
"Gibt es keine Forschung auf diesem Gebiet?", fragte er.
Lars, der immer gern dozierte, fühlte sich zu einer Entgegnung aufgerufen.
"Doch! Es gibt eine Menge Forschungsarbeiten über psychosomatische Krankheiten und wie sie entstehen Weiter kam er nicht. Tuulia fiel ihm ins Wort:
"Aber gibt es auch Forschungsarbeiten über das Gegenteil - also darüber, ob Krankheiten mit Hilfe der richtigen Einstellung gemildert werden können?"
Inger nahm einen tiefen Lungenzug und sagte:
"Jetzt befinden wir uns auf dem Boden der fortschrittlichen Theologie. Wenn dein Glaube stark genug ist, wirst du in diesem Leben Erfolg haben. Aber wenn du zweifelst, straft dich Gott. Ich habe Patienten gehabt, die geglaubt haben, ihre Kinder seien gestorben, weil sie ihre Sünden nicht genügend bereut oder nicht richtig gebetet haben. Ich meine, die Idee, dass wir uns gesund glauben können, scheint ansprechend, hat tatsächlich aber eine Kehrseite: Was ist mit allen, die scheitern?"
"Meinst du im Gegensatz zu allen, die Erfolg haben?", parierte Ulf mit einem Lächeln. "Wie war das mit der wissenschaftlichen Forschung, Lars?"
Lars warf einen Seitenblick auf Tuulia, bevor er fortfuhr:
"Ich glaube, dass im Karolinska-Krankenhaus ein großes Projekt starten soll. Sie haben kürzlich Geld von einer amerikanischen Stiftung erhalten, aber es wird ein großes Geheimnis darum gemacht. Kontrovers, könnte man sagen. Wenn ihr wollt, kann ich das bis zum nächsten Mal recherchieren."
"Es gibt", sagte ich, "einen russischen Guru, der da drüben zur Zeit unheimlich populär ist."
Tim lehnte sich auf der Küchenbank zurück.
"Passt auf", warnte er, "jetzt kommt gleich etwas über die magnetischen Stürme."
Tim liebte es, mich mit meinem russischen Hintergrund zu ärgern. Manchmal war ich unsicher, ob die Betonung auf "lieben" oder "ärgern" lag, aber meistens waren seine Sticheleien charmant und liebevoll. Der Scherz über die magnetischen Stürme hatte einen wahren Hintergrund; eine Zeitlang gehörten Warnungen vor magnetischen Stürmen zu den gewöhnlichen Nachrichten in Russland, zwischen dem Sport und dem Wetterbericht. Die Autofahrer wurden ermahnt, besonders vorsichtig zu sein, und die Herzkranken, Stress zu meiden.
Ich wurde in Russland geboren, zog aber Mitte der siebziger Jahre, als das Austauschprogramm von sowjetischen Juden gegen westliche Technologie auf Hochtouren lief, nach Schweden. Die meisten russischen Juden landeten in Israel oder den USA, nur ein kleiner Teil gelangte in den nahe gelegenen Norden. Im Unterschied zu den Gastarbeitern wurden wir, die wir aus dem Reich des Bösen geflohen waren und die Sprache Tolstois und Dostojewskis sprachen, vom schwedischen Volk im Allgemeinen und von den Intellektuellen im Besonderen mit offenen Armen aufgenommen. Ich durchlief das Gymnasium (mehr oder weniger) reibungslos, glitt genauso leicht durchs Universitätsstudium und war jetzt, knapp dreißig Jahre später, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, das nur durch einen schwachen Akzent auffiel (viel weniger merkbar als bei der Königin) und durch einen etwas eigenartigen Humor.
Meine Bindungen an Russland waren schwach - außer meiner Mutter und meinem Vater, die in Stockholm wohnten, hatte auch mein Onkel mit seiner Familie hier eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, und jetzt hatte ich nur noch entfernte Verwandte in dem großen Land, das im Übrigen bedenklich geschrumpft war, seit ich es verlassen hatte.
Aber es gefiel mir, Russisch zu sprechen und zu lesen. Mit meiner Mutter telefonierte ich jeden Tag, mit meinen Vettern und Kusinen mindestens einmal pro Woche. Ich las russische Zeitungen, die im Unterschied zu den schwedischen von aller politischen Korrektheit herrlich frei waren. Und während meine ersten Jahre in Schweden ein verzweifelter Kampf um Anpassung waren, wurde ich mit der Zeit immer lockerer. Je mehr ich hier etabliert war, desto "russischer" konnte ich mir erlauben zu sein.
"In Russland gibt es einen Guru", sagte ich also. "Er heißt Feinstein. Er sagt unter anderem, dass wir Misserfolge in jeder Form willkommen heißen sollen, Beleidigungen, Verrat und Krankheiten. Er sagt, dass wir uns auf einer äußeren Ebene natürlich wehren müssen, wenn wir beleidigt und verraten werden, und selbstverständlich einen Arzt aufsuchen sollen, wenn wir krank werden. Dass wir aber auf einer inneren, viel tieferen Ebene Misserfolgen mit einer Art . ^ wie sagt man auf Schwedisch ^ Gutmütigkeit begegnen sollen. Gutmütigkeit. Ja, das ist das richtige Wort. Gutmütigkeit. Und diese Gutmütigkeit soll man bewusst pflegen. Denn wenn wir den Misserfolgen nicht auf die richtige Art begegnen, werden sie uns verfolgen, bis wir unsere Lektion gelernt haben."
"Gutmütigkeit", wiederholte Lars langsam. "Ich mag diesen Russen. Was sagt er denn sonst noch?"
"Er spricht von etwas, das er >das System der Liebe< nennt, einem Prozess, der aus ganz bestimmten Schritten besteht, die in allen Kulturen gleich sind. Wenn du ein Problem hast oder eine Krankheit bekommst, sollst du darüber nachdenken, woran genau diese Krankheit oder Situation dich hindert. Diese Sache ist gefährlich für dich, weil du sie womöglich überbewertest. Du hängst dein Leben daran auf - und zwar auf eine Art, die den Fluss der Liebe hemmt. Erst wenn du gelernt hast, mit diesen, wie soll ich sagen, Versuchungen richtig umzugehen, verschwindet die Krankheit. Die Krankheit ist also so etwas wie ein Schutz. Er hat eine Internetseite, auf der er alle möglichen Fragen beantwortet, und er hat eine Praxis in Moskau, und außerdem reist er im Land herum und hält Vorträge, die ungeheuer gut besucht sind."
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Tims Augen aufleuchteten. Jetzt befand ich mich auf dem Gebiet der Seele, das ihn brennend interessierte und wo er an die Kraft einer allumfassenden, heilenden Gemeinschaft glaubte. Und er sagte:
"Warum machen wir nicht das Gleiche?"
Und da keiner von uns ein ausreichend gutes Gegenargument hatte, gründeten wir www.lebenskunst.com. Wir, das waren Tim und ich - und Lars.
Ulf engagierte sich ebenfalls. Er investierte zwar kein Geld, half uns aber, das Unternehmen zu gründen und einen soliden Geschäftsplan auszuarbeiten. Er stellte uns seiner Kontaktperson in der Bank vor und empfahl uns eine ausgezeichnete PR-Firma, die zu einem sehr vernünftigen Preis unser Marketing übernahm. Ohne Ulfs Hilfe hätten wir nie den komplizierten Prozess von der Ähre zum Brot, von der Idee zum Resultat geschafft.
Um der Gerechtigkeit willen muss ich sagen, dass wir es auch nicht ohne Lars geschafft hätten. Dass er Arzt war, verlieh unserem Unternehmen Gewicht und Renommee. Tim und ich waren zwar ausgebildete Therapeuten, doch ein Arzt stand klar höher im Kurs.
Mein Beitrag war eine Übersetzung des großen Werks des russischen Gurus, "Das System der Liebe und die Strukturen der Seele", das wir alle vier studierten und das uns gleichermaßen begeisterte und erschreckte (unter anderem behauptete Feinstein, Inzestopfer sollten nicht nur, sondern müssten sogar eine Bindung an den Täter anerkennen).
Tim war der große Organisator, der alle Fäden in der Hand hielt.
Wir reisten alle vier nach Moskau, um an einem von Feinsteins Seminaren teilzunehmen, die auf Englisch gehalten wurden und sich an Menschen wie uns richteten: professionelle Heiler mit der Sehnsucht nach mehr als trockenen Theorien und starren Schablonen. Wir wollten die Augen schließen und springen, durch die Luft schweben und aufgefangen werden.
Wir öffneten uns vollständig fremden Menschen auf eine Weise, wie wir es noch nie getan hatten.
Wir weinten hemmungslos, wenn wir sahen, wie Menschen von jahrelangem Leid erlöst wurden.
Als wir wieder nach Hause kamen, waren wir für alles gerüstet.
Auf unsere Werbung hin wurden wir mit Klienten nur so überschwemmt. Die seelische Not im schwedischen Volksheim schwappte übers Breitband in unser Wohnzimmer, auf unserem Monitor blühten die wunderlichsten Schmerzen auf.
Kranke, behinderte, schräge und verquere, verwirrte und verzweifelte Stimmen strömten zu uns - mitunter anonym, das erlaubten wir -, meist jedoch mit vollständigem Namen und Adresse, bis hin zur letzten Ziffer der Postleitzahl.
Und wir schrieben und schrieben uns die Finger wund.
Heute war ein Arbeitstag, ich war an der Reihe, die Post durchzusehen.
Ich stellte den Computer an und ging in die Küche, um mir etwas Kaffee aufzubrühen. Ich hatte immer eine Tasse neben mir, wenn ich arbeitete, und hörte gern Musik dabei. Es half mir, mich zu konzentrieren.
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Autoren-Porträt von Inga-Lina Lindqvist
Inga-Lina Lindqvist, 1964 geboren, wuchs in Litauen und Weißrussland auf und kam als 15jährige nach Schweden. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben, arbeitet als Literaturkritikerin für "Aftonbladet" und hat bereits mehrere hochgelobte Gedichtbände und Erzählsammlungen vorgelegt.Verena Reichel, geboren 1945 in Grimma, Sachsen, wuchs zweisprachig in Stockholm und in Süddeutschland auf. Nachdem sie eine Ausbildung an einer Journalistenschule absolviert hatte, studierte sie Skandinavistik, Germanistik und Theaterwissenschaft. Seit 1972 arbeitet sie als freie Übersetzerin von Prosa, Lyrik und Theaterstücken aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen.Verena Reichel ist Mitglied im Verband Deutschsprachiger Übersetzer Literarischer und Wissenschaftlicher Werke im Verband Deutscher Schriftsteller. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen: 1987 den Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie, 1992 den Helmut-M.-Braem-Preis, 1995 den Petrarca-Preis und den Nossack-Akademiepreis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (zusammen mit Lars Gustafsson), 1998 den Übersetzerpreis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung sowie 2008 den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Inga-Lina Lindqvist
- 2010, 319 Seiten, Maße: 11,6 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Reichel, Verena
- Übersetzer: Verena Reichel
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442741548
- ISBN-13: 9783442741540
Rezension zu „Die Wunderkur “
"Ein zeitgemäßer Roman über zwischenmenschliche Beziehungen, der große wie kleine Probleme behandelt - zerbrechende Ehen, Kinderlosigkeit, Diätwahn, die Suche nach Gott und den Hunger nach Süßem."
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