Die Zufällige
Roman. Ausgezeichn. mit d. 'Whitbread Novel Award 2006'. Auf der Auswahlliste für d. 'Man Booker Prize 2005'
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award! Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich wie gewohnt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolgreiche Autorin, versucht, ihre...
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Produktinformationen zu „Die Zufällige “
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award! Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich wie gewohnt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolgreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Die Kinder Magnus und Astrid leben in ihrer eigenen abgeschotteten Welt. Bis plötzlich Amber auftaucht, eine geheimnisvolle, charismatische Fremde. Sie bringt das Leben dieser ganz normalen neurotischen Familie gehörig durcheinander... »Ali Smith ist umwerfend!« (Jonathan Safran Foer)
Klappentext zu „Die Zufällige “
Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk, wie immer. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich ab und zu in der Stadt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Der 17-jährige Magnus verkriecht sich, weil er glaubt, am Selbstmord einer Mitschülerin schuld zu sein. Die 12-jährige Astrid beschäftigt sich mit ihren Gedanken und sieht sich das Leben durch ihre Digicam an. Alles ganz normal also bis plötzlich Amber auftaucht, barfuß, geheimnisvoll, charismatisch. Keiner kennt sie, aber jeder denkt, sie sei eine Freundin der anderen. Man fragt nicht nach, man ist ja so cool. Und Amber, die eigentlich Alhambra heißt, nach dem Kino in einem fernen Land, in dem sie gezeugt wurde, lügt sich ihren Weg in die Familie hinein. Sie ist exotisch, ungewöhnlich, unübersehbar. Sie wirft Astrids Digicam weg, verführt Magnus, sagt Michael die Meinung und küsst Eve auf den Mund. Sie bringt das feste Gefüge der aneinander vorbeilebenden durchschnittsneurotischen Familie ins Wanken, und als sie wieder verschwindet, ist jeder der Vier ein anderer geworden.Witz, Alltag, Zufall, Wahrheit, das Leben im 21. Jahrhundert, Allegorien und Mathematik diese Autorin zieht alle Register, und ihre sprühende Phantasie wie ihre Sprachmagie sind einzigartig. Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award 2005 für den besten Roman.
Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich wie gewohnt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Die Kinder Magnus und Astrid leben in ihrer eigenen abgeschotteten Welt. Bis plötzlich Amber auftaucht, eine geheimnisvolle, charismatische Fremde, und das Leben dieser ganz normalen neurotischen Familie gehörig durcheinanderbringt.
Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk, wie immer. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich ab und zu in der Stadt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Der 17-jährige Magnus verkriecht sich, weil er glaubt, am Selbstmord einer Mitschülerin schuld zu sein. Die 12-jährige Astrid beschäftigt sich mit ihren Gedanken und sieht sich das Leben durch ihre Digicam an. Alles ganz normal also - bis plötzlich Amber auftaucht, barfuß, geheimnisvoll, charismatisch. Keiner kennt sie, aber jeder denkt, sie sei eine Freundin der anderen. Man fragt nicht nach, man ist ja so cool. Und Amber, die eigentlich Alhambra heißt, nach dem Kino in einem fernen Land, in dem sie gezeugt wurde, lügt sich ihren Weg in die Familie hinein. Sie ist exotisch, ungewöhnlich, unübersehbar. Sie wirft Astrids Digicam weg, verführt Magnus, sagt Michael die Meinung und küsst Eve auf den Mund. Sie bringt das feste Gefüge der aneinander vorbeilebenden durchschnittsneurotischen Familie ins Wanken, und als sie wieder verschwindet, ist jeder der Vier ein anderer geworden.
Witz, Alltag, Zufall, Wahrheit, das Leben im 21. Jahrhundert, Allegorien und Mathematik - diese Autorin zieht alle Register, und ihre sprühende Phantasie wie ihre Sprachmagie sind einzigartig.
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award 2005 für den besten Roman.
"Dieser Roman der 1962 in Schottland geborenen, in Cambridge lebenden Schriftstellerin Ali Smith - bitte nicht mit Zadie Smith verwechseln! - ist eine wunderbar lässige, unwiderstehliche, literarisch funkensprühende Verführung zur Gegenwart. (...) Den Bann der Geschichte und Zeitgeschichte, des Sex und der Medien löst dieser Roman mit seinem eigenen Zauber: durch sein (auch in der Übersetzung) freies, unerschrockenes, einfallsreiches Erzählen, durch seine große Sprachlust." - Süddeutsche Zeitung
"Ein kraftvoller Appell an die Experimentierlust in der Literatur wie im Leben." - Facts
"Ein Roman aus England, bei dem man an französisches Kino denken muß - er ist sexy, lustig, und alle Figuren sind irgendwie neurotisch." - Glamour
Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk, wie immer. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich ab und zu in der Stadt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Der 17-jährige Magnus verkriecht sich, weil er glaubt, am Selbstmord einer Mitschülerin schuld zu sein. Die 12-jährige Astrid beschäftigt sich mit ihren Gedanken und sieht sich das Leben durch ihre Digicam an. Alles ganz normal also - bis plötzlich Amber auftaucht, barfuß, geheimnisvoll, charismatisch. Keiner kennt sie, aber jeder denkt, sie sei eine Freundin der anderen. Man fragt nicht nach, man ist ja so cool. Und Amber, die eigentlich Alhambra heißt, nach dem Kino in einem fernen Land, in dem sie gezeugt wurde, lügt sich ihren Weg in die Familie hinein. Sie ist exotisch, ungewöhnlich, unübersehbar. Sie wirft Astrids Digicam weg, verführt Magnus, sagt Michael die Meinung und küsst Eve auf den Mund. Sie bringt das feste Gefüge der aneinander vorbeilebenden durchschnittsneurotischen Familie ins Wanken, und als sie wieder verschwindet, ist jeder der Vier ein anderer geworden.
Witz, Alltag, Zufall, Wahrheit, das Leben im 21. Jahrhundert, Allegorien und Mathematik - diese Autorin zieht alle Register, und ihre sprühende Phantasie wie ihre Sprachmagie sind einzigartig.
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award 2005 für den besten Roman.
"Dieser Roman der 1962 in Schottland geborenen, in Cambridge lebenden Schriftstellerin Ali Smith - bitte nicht mit Zadie Smith verwechseln! - ist eine wunderbar lässige, unwiderstehliche, literarisch funkensprühende Verführung zur Gegenwart. (...) Den Bann der Geschichte und Zeitgeschichte, des Sex und der Medien löst dieser Roman mit seinem eigenen Zauber: durch sein (auch in der Übersetzung) freies, unerschrockenes, einfallsreiches Erzählen, durch seine große Sprachlust." - Süddeutsche Zeitung
"Ein kraftvoller Appell an die Experimentierlust in der Literatur wie im Leben." - Facts
"Ein Roman aus England, bei dem man an französisches Kino denken muß - er ist sexy, lustig, und alle Figuren sind irgendwie neurotisch." - Glamour
Lese-Probe zu „Die Zufällige “
Meinen Anfang machte meine Mutter eines Abends 1968 an einem Tisch in dem Café des einzigen Kinos der Stadt. Ein paar Stufen weiter oben, hinter dem fadenscheinigen roten Samt des Logenvorhangs, gähnte die Platzanweiserin, ließ ihre ausgeschaltete Taschenlampe locker baumeln, beugte sich, auf die Ellbogen gestützt, über das Geraschel und Geknutsche in der hinteren Reihe, pulte an dem Holz der Trennwand und schnipste kleine Splitter davon auf die im Dunkeln sitzenden Kleinstadtköpfe. Der Film auf der Leinwand vor ihnen war Geküßt und geschlagen mit Terence Stamp, einem Schauspieler von solcher Numinosität, daß meine Mutter - jung, schick, schlank und anmaßend -, die den Film in der Woche schon zum dritten Mal gesehen hatte, aufstand, woraufhin der Sitz hinter ihr mit dumpfem Laut hochklappte, sich an den Beinen der Leute in ihrer Reihe vorbeizwängte, durch den schmuddeligen Gang dem Ausgang zustrebte und durch den Vorhang ins Licht hinaustrat.Das Café war bis auf den Knaben, der Stühle auf die Tische stellte, leer. Wir schließen, sagte er zu ihr. Meine Mutter, noch blinzelnd nach dem Dunkel, bahnte sich einen Weg durch die abgewetzten roten Stühle. Sie nahm ihm den Stuhl, den er gerade hielt, aus der Hand, und legte ihn, immer noch verkehrt herum, auf den Boden. Stieg aus ihren Schuhen. Knöpfte ihren Mantel auf.
Hinter der Kasse drehten die umspülten Orangen in dem Orangensaftbereiter ihre Kreise, und der Bodensatz am Grunde des Tanks stieg hoch und ging wieder nieder, stieg hoch und ging nieder. Die Stühle auf den Tischen reckten ihre Beine in die Luft, die über den Teppich verstreuten Kuchenkrümel warteten passiv auf die Staubsaugerdüse. An der großen, zur Straße hinausführenden Haupttreppe, die meine Mutter in ein paar Minuten hinabstieg, die Nylonstrümpfe zu einem warmen Knäuel zusammengerollt in der Manteltasche, die Schuhe an den Fesselriemchen in der Hand schwenkend, lächelten in dem grellen, die Treppe ins Dunkel tauchenden Licht Julie Andrews und
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Christopher Plummer aus ihren Rahmen heraus, nicht anders, als sie es, verblichen in ihrem Glanz und schon seit einem Jahrzehnt aus der Mode, fünf Jahre später immer noch taten, als der junge Vorführer (aus einem Job gedrängt, den er sicher zu haben glaubte; das Management hatte einen neuen Vorführer aus der Stadt eingestellt, nachdem der alte gestorben war) das Gebäude mit einer Dose Kreosot und dem Zigarettenstummel, den er auf den Boden warf, in Brand steckte.
Die teuren Balkonplätze, auf denen das Rauchen verboten war? In Rauch aufgegangen. Die durchgesessenen, nach Leder riechenden Plätze im Sperrsitz? Für immer dahin. Die Samtvorhänge, der Kandelaber aus Glas, rund wie eine Schüssel? Verwehte Asche, ein Gefunkel aus winzigen zerbrochenen Scherben auf dem Boden lokaler Geschichte. Die Zeitungen tags darauf waren eisern: ein Unfall. Der Mann, dem das Kino gehörte, ließ sich von der Versicherung den Schaden erstatten und verkaufte den zerstörten Bau an einen Mitnahme-Markt mit dem eher phantasielosen Namen Mackay's Mitnahme-Markt.
In jener Nacht im Jahre 1968 aber dröhnten in dem fast geschlossenen Café die Stimmen hinter den Wänden noch von moderner Liebe. Die Musik erhob sich noch von irgendwoher. Kurz vor der Szene, als das Gesindel Terence Stamp kriegt und ihn dahin schafft, wohin er gehört, hatte sie ihre Beine hinter seinem Rücken verschlungen, und mein Vater hatte sich überrascht stöhnend in sie geschoben und sie mit buchstäblich einer Million Möglichkeiten beschenkt, von denen sie sich nur für eine entschied.
Hallo.
Ich bin Alhambra, benannt nach dem Ort meiner Empfängnis. Glauben Sie mir. Alles ist so gewollt.
Von seiten meiner Mutter: ein Anschlag auf die Anständigkeit; der Einsatz des Geheimnisvollen; wie kriege ich das, was ich will. Von seiten meines Vaters: wie setze ich mich ab, wie stelle ich es an, daß ich gar nicht existiere.
Der Anfang
von etwas - wann genau ist das? Astrid Smart möchte es wissen. (Astrid Smart. Astrid Berenski. Astrid Smart. Astrid Berenski.) 5:04 auf dem mickrigen Radiowecker. Denn warum sagen die Leute immer, jetzt fängt der Tag an? Genaugenommen tut er das ja mitten in der Nacht, in einem Bruchteil der ersten Sekunde nach Mitternacht. Angefangen soll er aber nicht vor Morgengrauen haben, das Dunkel gehört noch zur vorigen Nacht, und Morgen wird es erst mit dem Licht, dabei war es genaugenommen Morgen, sobald es eben den Bruchteil der ersten Sekunde nach zwölf war, i. e. das Experiment, wo man etwas immer weiter verkleinert, etwa den Abstand zwischen dem Boden und einem Ball, den man darauf dopsen läßt, damit bewiesen werden kann, sagt Magnus, daß der Ball den Boden eigentlich nie berührt. Was Blödsinn ist, weil er selbstverständlich den Boden berührt, sonst würde er ja nicht dopsen, er hätte nichts, wovon er abdopsen könnte, und trotzdem kann man wissenschaftlich wirklich nachweisen, daß er es nicht tut.
Astrid zeichnet Morgengrauen auf. Sonst gibt es hier nichts zu tun. Das Dorf ist ein Dreckloch. Postamt, verwüstetes indisches Restaurant, Pommesbude, kleiner Kaufmannsladen, der nie offen hat, eine Stelle, wo Enten die Straße überqueren können. Die Enten haben doch tatsächlich einen eigenen Wegweiser! Es gibt einen Sofa-Großhändler namens Sofa so gut. Die Kirche hat auch einen eigenen Wegweiser. Außer einer Kirche und ein paar Enten ist hier nichts los, und dieses Haus ist das ultimative Dreckloch. Es ist mickrig. Den ganzen mickrigen Sommer über wird nichts los sein.
Sie hat jetzt neun Morgengrauen nacheinander auf der Mini-Kassette in ihrer Sony-Digicam. Donnerstag, 10. Juli 2003, Freitag,
11. Juli 2003, Samstag, 12., Sonntag, 13., Montag, 14., Dienstag, 15., Mittwoch, 16., Donnerstag, 17. und heute, Freitag, 18. Aber wann genau Morgengrauen ist, läßt sich nur schwer ausmachen. Auf dem Kameraschirm sieht man davon nur, daß die Außenwelt etwas deutlicher sichtbar wird. Bedeutet das dann, daß Anfang etwas damit zu tun hat, daß man etwas erkennt? Daß der Tag anfängt, sobald du aufwachst und die Augen aufmachst? Und wenn Magnus schließlich nachmittags aufsteht und sie ihn in dem Zimmer herumgehen hören, das in dem mickrigen Dreckloch von Haus seines ist, bedeutet das dann, daß der Tag immer noch anfängt? Ist der Anfang für jeden anders? Oder ziehen sich Anfänge nur immer weiter hin, über den ganzen Tag? Vielleicht ziehen sie sich ja auch rückwärts hin. Denn jedesmal, wenn du die Augen aufmachst, gab es ja einen Moment davor, als du sie zugemacht hast, und davor wieder einen anderen Moment, als du sie aufgemacht hast, und so immer weiter rückwärts durch alles Schlafen und alles Wachsein und durch so gewöhnliche Dinge wie Lidschläge bis zurück zum ersten Mal, wo du die Augen aufgemacht hast, was vermutlich ungefähr der Moment deiner Geburt ist.
Astrid kickt ihre Turnschuhe vor sich auf den Boden. Sie rutscht zurück über das gräßliche Bett. Oder womöglich liegt der Anfang sogar noch weiter zurück als bis zu der Zeit, wo man sich im Mutterschoß befindet oder wie das heißt. Vielleicht ist der richtige Anfang der, wenn es damit losgeht, daß du dich zu einem Menschen ausbildest und wenn sich der weiche Stoff, aus dem deine Augen bestehen, gerade in dem harten Stoff bildet, aus dem dein Kopf wird, i.e. dein Schädel.
Sie betastet den Knochenbogen über ihrem linken Auge. Augen passen so genau in die Höhlung, in der sie sitzen, als wäre eins für das andere gemacht, Auge und Höhlung. Einmal hat sie ein Theaterstück gesehen, da war ein Mann, dem wurden die Augen ausgestochen, die Leute auf der Bühne drehten ihn um, damit die Zuschauer es nicht sehen konnten, und stachen ihm die Augen aus, dann rissen sie ihn auf seinem Stuhl wieder herum, er hatte die Hände vorm Gesicht, und als er sie wegzog, waren sie voll mit rotem Zeug, das er auch rings um die Augenhöhlen hatte. Es war Wahnsinn. Das war Gelee oder irgendwas Ähnliches. Seine Töchter haben das gemacht oder seine Söhne. Es war eine von Michaels Tragödien. War trotzdem ziemlich gut. Ja, genau, denn im Theater, da geht der Vorhang hoch, und dann weißt du, jetzt fängt es offenbar an, denn der Vorhang ist ja hochgegangen. Und sowie das Licht ausgeht, werden die Zuschauer still, und sowie der Vorhang hochgegangen ist, wird die Luft, falls du in der Nähe der Bühne sitzt, anders, dann riechst du wirklich eine ganz andere Luft mit dem Staub und Zeugs, was da drin herumschwebt. Genau wie das andere Mal, als sie mit Michael und ihrer Mutter in die andere Tragödie mitgehen mußte, die war komplett verrückt, da dreht eine Frau durch und bringt ihre Kinder um, aber bevor sie das tut, schickt sie die beiden Jungen, noch ganz kleine Jungs, von der Bühne runter, und die kommen wirklich runter zu den Zuschauern und laufen zwischen denen rum, die Mutter hat ihnen vergiftete Klamotten gegeben usw., die sollen sie der Prinzessin schenken, die ihr Vater heiratet, den eigentlich sie heiraten soll, und die Kinder gehen zu einem Haus oder einem Palast irgendwo hinter den Zuschauern, das passiert nicht auf der Bühne, es passiert nirgends, nur in der Geschichte, i.e. in deinem Kopf, aber selbst wenn du weißt, daß es gar nicht passiert, daß es nur ein Theaterstück ist, zieht trotzdem irgendwo hinter dir die Prinzessin die vergifteten Klamotten an und stirbt eines gräßlichen Todes. Ihre Augen zerfließen in ihren Höhlen, und sie kriegt lauter Ausschlag, wie wenn Terroristen in der U-Bahn Keime freigesetzt hätten. Ihre Lunge zerfließt und
Astrid gähnt. Sie hat Hunger.
Sie hat sogar einen Riesenhunger.
Es sind noch Stunden hin bis zu so was wie Frühstück, falls sie in diesem unhygienischen Dreckloch irgendwas verspeisen möchte.
Sie könnte weiterschlafen. Aber - typisch und wie zum Hohn - sie ist hellwach. Draußen ist es jetzt richtig hell, man sieht meilenweit. Nur daß es nichts zu sehen gibt: Bäume und Felder und solche Sachen.
5:16 auf dem mickrigen Radiowecker.
Sie ist eigentlich wach.
Sie könnte aufstehen und losgehen und den Vandalismus filmen. Das macht sie heute, definitiv. Sie wird zu dem Restaurant gehen, später, und den Inder fragen, ob es okay ist. Oder vielleicht wird sie es auch filmen, ohne daß er es weiß, damit er nicht nein sagt. Wenn sie jetzt gleich ginge, wäre niemand dort, und sie könnte es einfach machen. Falls zufällig doch schon jemand um diese Morgenstunde auf und zugange ist (wird nicht, meilenweit ist hier niemand außer ihr wach, aber falls doch, nur mal angenommen), würde derjenige denken, oh, sieh an, eine Zwölfjährige, die mit einer Digicam spielt. Demjenigen würde eventuell auffallen, was für ein gutes Modell die Kamera ist, das heißt, falls er was von Kameras versteht. Sie würde, falls man sie fragt, sagen, daß sie den Sommer über zu Besuch ist (stimmt) und die Gegend filmt (stimmt) oder daß das für ein Schulprojekt (könnte stimmen) über verschiedene Gebäudearten und ihre Nutzung ist (ziemlich gut). Und dann hat sie vielleicht einen lebendigen Beweis auf ihrem Miniband, wenn sie nach Hause kommt, und irgendwann während der Ermittlungen zu dem Akt vandalistischer Zerstörung fällt es einem, der etwas zu sagen hat, plötzlich wieder ein, und der sagt, oh, da war doch diese Zwölfjährige mit ihrer Kamera, vielleicht hat sie irgendwas aufgenommen, was, wie sagen die noch mal, entscheidend sein könnte für unsere Ermittlungen, und dann kommen sie und klopfen an die Tür, bloß was, wenn sie noch nicht hier sind für den Sommer, oder was, wenn sie schon heimgefahren sind, manche Ermittlungen dauern ja ziemlich lange, na, dann stöbern die Behörden sie eben zu Hause auf mit ihren Computern, indem sie Michaels Namen eingeben oder die Leute fragen, denen dieses mickrige Haus gehört, und dank ihrer kommt die Sache dann in Ordnung, und ein Rätsel, nämlich wer für den Vandalismus hier im Curry Palace verantwortlich ist, wird wirklich einmal gelöst.
Es ist ein idealer Ort. Das sagt ihre Mutter immer, sagt es jeden Abend. Es sind aber nicht viele andere Leute hier im Urlaub, obwohl er so ideal ist, vielleicht weil die Urlaubszeit noch nicht richtig angefangen hat, offiziell zumindest nicht. Die Leute im Dorf gaffen dauernd, auch wenn Astrid gar nichts macht, nur herumläuft. Auch wenn sie nicht die Kamera benutzt. Aber es ist schönes Wetter. Sie freut sich, daß sie nicht in der Schule ist. An den meisten Morgengrauen, die sie aufgenommen hat, ist die Sonne herausgekommen. So sieht ein guter Sommer aus. Früher, bevor sie auf die Welt kam, waren die Sommer besser, da gab es anscheinend durchgängig schöne Sommer von Mai bis Oktober. Früher, das ist auch ein anderes Jahrhundert. Sie selber ist wahrscheinlich diejenige, die von den Leuten, die jetzt hier im Haus sind - ihre Mutter, Magnus, sie selbst, Michael -, am längsten in dem neuen Jahrhundert leben wird. Die anderen gehören alle mehr zum vorigen Jahrhundert als sie. Andererseits wieder hat sie selber den größten Teil ihres Lebens im alten Jahrhundert verbracht. Die anderen, so gesehen, allerdings auch, aber prozentual gesehen hat sie immerhin schon fünfundzwanzig Prozent ihres Lebens in dem neuen Jahrhundert erlebt (wenn man mit 2001 zu zählen anfängt und die nächsten sechs Monate dieses Jahres als bereits rum ansieht). Sie ist zu fünfundzwanzig Prozent neu und zu fünfundsiebzig Prozent alt. Magnus hat drei Jahre von siebzehn im neuen gelebt, das macht also, Astrid rechnet es aus, Magnus ist zu siebzehn Prozent oder so neu, zu dreiundachtzig alt. Sie ist zu acht Prozent mehr im neuen als Magnus. Ihre Mutter und Michael liegen weit abgeschlagen mit einem signifikant kleineren Prozentsatz im neuen und einem signifikant höheren Prozentsatz im alten. Ganz genau rechnet sie das später mal aus. Jetzt hat sie dazu keine Lust.
Sie dreht sich auf dem mickrigen Bett auf die andere Seite. Das mickrige Bett knarrt laut. Nach dem Knarren hört sie die Stille im übrigen Haus. Die schlafen alle. Niemand weiß, daß sie wach ist. Niemand ist nur für einen Penny klug. Penny der Kluge klingt wie eine Gestalt aus der Vorgeschichte. Im Jahre 1003 v. Chr. (vor Chrom) wandert Astrid in den Wald, wo Penny der Kluge, der eigentlich von vornehmer Abkunft und ein König ist, es überraschend aber vorzog, ein Niemand zu sein und ein einfaches Leben zu führen, in einer Hütte lebt, nein, in einer Höhle, und die Fragen beantwortet, die die von meilenweit aus dem ganzen Land kommenden Leute ihm stellen (höchstwahrscheinlich doch einem und nicht einer Penny, denn wenn es eine Penny wäre, hätte sie im Kloster landen oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein müssen). Die Leute, die irgendwas beantwortet haben wollen, müssen an die Höhlentür klopfen, gut, eben draußen an den Felsen, sie hebt einen Stein vom Boden auf und schlägt damit auf einen anderen Stein, dadurch weiß Penny der Kluge, daß jemand wartet. Ich habe eine Spende mitgebracht, ruft Astrid in die dunkle Höhle. Die mitgebrachte Spende besteht aus Croissants. Croissants kriegt man im Wald vermutlich zwar nicht, genausowenig wie hier. Beide, Michael und ihre Mutter, beschweren sich schon seit sie in dieses mickrige Dorf gekommen sind, weil es hier keine Croissants gibt, was mal wieder typisch ist und ein Hohn, denn sie waren diejenigen, die unbedingt hierher wollten, und haben sie und Magnus zum Mitkommen gezwungen, und deshalb ist sie jetzt noch komischer, noch weniger wie alle anderen, als sie es sowieso schon war, obwohl, wenn sie Glück hat, haben Lorna Rose und Zelda Howe und Rebecca Callow bis September, wenn die Schule wieder anfängt, längst vergessen, daß Astrid zwei Monate vorher aus der Schule genommen worden ist.
Astrid schlägt sie sich mit Konzentration wieder aus dem Kopf. Sie steht an der Höhlentür. Die Croissants in der Hand. Penny der Kluge ist entzückt. Er bedeutet Astrid durch ein Nicken einzutreten.
Er blinzelt sie durch die dunkle Höhle hindurch an; er ist alt und klug, hat einen väterlichen Blick. Gib mir Antwort auf meine Frage, o verehrtes Orakel, hebt Astrid an.
Aber mehr kann sie nicht sagen, denn sie hat keine Frage. Sie weiß nicht, wonach sie ihn fragen soll und wozu. Ihr fällt keine Frage ein, keine, die sie sich auch nur in Gedanken auszusprechen trauen würde, schon gar nicht laut vor einem vollkommen Fremden, und sei es einer, den sie selbst erfunden hat. (Astrid Smart. Astrid Berenski.)Sie setzt sich auf. Greift nach ihrer Kamera, dreht sie in der Hand um. Klappt den Bildschirm zu, nimmt die Kassette mit den Anfängen heraus, steckt sie in die kleine Hülle und legt sie auf den Tisch. Statt dessen legt sie die andere Kassette in die Kamera ein, die nichts mit Anfängen zu tun hat. Astrid liegt auf dem Rücken, und jetzt dreht sie sich auf den Bauch. Am Ende ihres Urlaubs wird sie einundsechzig Anfänge haben, je nachdem, ob sie am Freitag, Samstag oder Sonntag fahren. Einundsechzig minus neun, i. e. immer noch mindestens zweiundfünfzig, die vor ihr liegen. Astrid seufzt. Ihr Seufzen klingt zu laut. Hier gibt es keinen Verkehrslärm. Vielleicht liegt es an der Geräuschlosigkeit, daß sie so wach ist. Sie ist hellwach. Gleich wird sie gehen und den Vandalismus filmen. Sie macht die Augen zu. Sie befindet sich im Innern einer Haselnuß, paßt genau rein in die Schale, so als wäre sie darin zur Welt gekommen. Die Schale sitzt auf ihrem Kopf wie ein Helm. Sie paßt aber auch genau um die Wölbung ihrer Knie. Sie ist rundherum zu. Es ist ein idealer Raum. Völlig sicher. Niemand kann in ihn eindringen. Da fällt ihr ein - wie soll sie das mit dem Atmen anstellen, wenn die Nuß vollkommen abgeschlossen ist? Sie überlegt, wie sie jetzt atmen soll. Der Luftvorrat in der Nuß, falls es überhaupt einen gibt, ist ja wohl endlich. Und dann beunruhigt sie, daß Lorna Rose und Zelda Howe und Rebecca, sollten die jemals erfahren, daß sie sich mal vorgestellt hat, sie befinde sich in einer Haselnuß, sie für noch lächerlicher halten als sowieso schon, womöglich sogar für geistesgestört. Lorna Rose und Zelda Howe spielen auf einem öffentlichen Platz in einem Park Tennis. Astrid und Rebecca gehen dort vorbei. Rebecca und Astrid sind noch Freundinnen. Lorna Rose kommt an den Zaun gerannt und sagt zu Astrid und Rebecca, sie sollen doch auf dem Platz direkt neben dem spielen, auf dem sie und Zelda Howe gerade sind, und hinterher sollen die Siegerinnen jedes Spiels gegeneinander antreten, damit sie herausfinden, wer von ihnen vieren die beste ist. Astrid schaut zu dem Platz, auf dem sie und Rebecca spielen sollen. Dort liegen lauter Glasscherben auf der Erde. Sie will schon ablehnen, da sagt Rebecca zu. Aber schau dir das Glas an, sagt Astrid, denn das ist Wahnsinn. Feigling, sagt Zelda Howe. Wir wußten, daß du nicht mitmachen würdest. Die beiden haben die Glasscherben absichtlich dahin geworfen, als Test. Wenn du auf Glasscherben spielen willst, bist du ein Idiot, sagt Astrid zu Rebecca. Rebecca geht auf den Tennisplatz und knirscht auf den Scherben herum. Ein Mann erscheint. Es ist einer der Väter. Sie will ihm das von dem Glas sagen, doch bevor sie dazu kommt, ruft er alle, nur sie nicht, an den Zaun und bricht einen Cadbury-Riegel mit Mandeln und Rosinen in vier gleiche Teile. Gibt jedem der Mädchen ein Stück. Sie guckt hin, will sehen, ob er das vierte Stück selber ißt, kann sein Gesicht aber nicht erkennen; er ist zu weit entfernt. Sie hat etwas in der Hand. Ihre Kamera. Wenn sie das auf den Film kriegt, kann sie irgendwem alles zeigen, was hier passiert. Aber sie kann die Kamera nicht heben. Sie ist zu schwer. Ihr Arm macht nicht mit. Eine Türglocke läutet, meilenweit entfernt. Die zu Hause.
Die teuren Balkonplätze, auf denen das Rauchen verboten war? In Rauch aufgegangen. Die durchgesessenen, nach Leder riechenden Plätze im Sperrsitz? Für immer dahin. Die Samtvorhänge, der Kandelaber aus Glas, rund wie eine Schüssel? Verwehte Asche, ein Gefunkel aus winzigen zerbrochenen Scherben auf dem Boden lokaler Geschichte. Die Zeitungen tags darauf waren eisern: ein Unfall. Der Mann, dem das Kino gehörte, ließ sich von der Versicherung den Schaden erstatten und verkaufte den zerstörten Bau an einen Mitnahme-Markt mit dem eher phantasielosen Namen Mackay's Mitnahme-Markt.
In jener Nacht im Jahre 1968 aber dröhnten in dem fast geschlossenen Café die Stimmen hinter den Wänden noch von moderner Liebe. Die Musik erhob sich noch von irgendwoher. Kurz vor der Szene, als das Gesindel Terence Stamp kriegt und ihn dahin schafft, wohin er gehört, hatte sie ihre Beine hinter seinem Rücken verschlungen, und mein Vater hatte sich überrascht stöhnend in sie geschoben und sie mit buchstäblich einer Million Möglichkeiten beschenkt, von denen sie sich nur für eine entschied.
Hallo.
Ich bin Alhambra, benannt nach dem Ort meiner Empfängnis. Glauben Sie mir. Alles ist so gewollt.
Von seiten meiner Mutter: ein Anschlag auf die Anständigkeit; der Einsatz des Geheimnisvollen; wie kriege ich das, was ich will. Von seiten meines Vaters: wie setze ich mich ab, wie stelle ich es an, daß ich gar nicht existiere.
Der Anfang
von etwas - wann genau ist das? Astrid Smart möchte es wissen. (Astrid Smart. Astrid Berenski. Astrid Smart. Astrid Berenski.) 5:04 auf dem mickrigen Radiowecker. Denn warum sagen die Leute immer, jetzt fängt der Tag an? Genaugenommen tut er das ja mitten in der Nacht, in einem Bruchteil der ersten Sekunde nach Mitternacht. Angefangen soll er aber nicht vor Morgengrauen haben, das Dunkel gehört noch zur vorigen Nacht, und Morgen wird es erst mit dem Licht, dabei war es genaugenommen Morgen, sobald es eben den Bruchteil der ersten Sekunde nach zwölf war, i. e. das Experiment, wo man etwas immer weiter verkleinert, etwa den Abstand zwischen dem Boden und einem Ball, den man darauf dopsen läßt, damit bewiesen werden kann, sagt Magnus, daß der Ball den Boden eigentlich nie berührt. Was Blödsinn ist, weil er selbstverständlich den Boden berührt, sonst würde er ja nicht dopsen, er hätte nichts, wovon er abdopsen könnte, und trotzdem kann man wissenschaftlich wirklich nachweisen, daß er es nicht tut.
Astrid zeichnet Morgengrauen auf. Sonst gibt es hier nichts zu tun. Das Dorf ist ein Dreckloch. Postamt, verwüstetes indisches Restaurant, Pommesbude, kleiner Kaufmannsladen, der nie offen hat, eine Stelle, wo Enten die Straße überqueren können. Die Enten haben doch tatsächlich einen eigenen Wegweiser! Es gibt einen Sofa-Großhändler namens Sofa so gut. Die Kirche hat auch einen eigenen Wegweiser. Außer einer Kirche und ein paar Enten ist hier nichts los, und dieses Haus ist das ultimative Dreckloch. Es ist mickrig. Den ganzen mickrigen Sommer über wird nichts los sein.
Sie hat jetzt neun Morgengrauen nacheinander auf der Mini-Kassette in ihrer Sony-Digicam. Donnerstag, 10. Juli 2003, Freitag,
11. Juli 2003, Samstag, 12., Sonntag, 13., Montag, 14., Dienstag, 15., Mittwoch, 16., Donnerstag, 17. und heute, Freitag, 18. Aber wann genau Morgengrauen ist, läßt sich nur schwer ausmachen. Auf dem Kameraschirm sieht man davon nur, daß die Außenwelt etwas deutlicher sichtbar wird. Bedeutet das dann, daß Anfang etwas damit zu tun hat, daß man etwas erkennt? Daß der Tag anfängt, sobald du aufwachst und die Augen aufmachst? Und wenn Magnus schließlich nachmittags aufsteht und sie ihn in dem Zimmer herumgehen hören, das in dem mickrigen Dreckloch von Haus seines ist, bedeutet das dann, daß der Tag immer noch anfängt? Ist der Anfang für jeden anders? Oder ziehen sich Anfänge nur immer weiter hin, über den ganzen Tag? Vielleicht ziehen sie sich ja auch rückwärts hin. Denn jedesmal, wenn du die Augen aufmachst, gab es ja einen Moment davor, als du sie zugemacht hast, und davor wieder einen anderen Moment, als du sie aufgemacht hast, und so immer weiter rückwärts durch alles Schlafen und alles Wachsein und durch so gewöhnliche Dinge wie Lidschläge bis zurück zum ersten Mal, wo du die Augen aufgemacht hast, was vermutlich ungefähr der Moment deiner Geburt ist.
Astrid kickt ihre Turnschuhe vor sich auf den Boden. Sie rutscht zurück über das gräßliche Bett. Oder womöglich liegt der Anfang sogar noch weiter zurück als bis zu der Zeit, wo man sich im Mutterschoß befindet oder wie das heißt. Vielleicht ist der richtige Anfang der, wenn es damit losgeht, daß du dich zu einem Menschen ausbildest und wenn sich der weiche Stoff, aus dem deine Augen bestehen, gerade in dem harten Stoff bildet, aus dem dein Kopf wird, i.e. dein Schädel.
Sie betastet den Knochenbogen über ihrem linken Auge. Augen passen so genau in die Höhlung, in der sie sitzen, als wäre eins für das andere gemacht, Auge und Höhlung. Einmal hat sie ein Theaterstück gesehen, da war ein Mann, dem wurden die Augen ausgestochen, die Leute auf der Bühne drehten ihn um, damit die Zuschauer es nicht sehen konnten, und stachen ihm die Augen aus, dann rissen sie ihn auf seinem Stuhl wieder herum, er hatte die Hände vorm Gesicht, und als er sie wegzog, waren sie voll mit rotem Zeug, das er auch rings um die Augenhöhlen hatte. Es war Wahnsinn. Das war Gelee oder irgendwas Ähnliches. Seine Töchter haben das gemacht oder seine Söhne. Es war eine von Michaels Tragödien. War trotzdem ziemlich gut. Ja, genau, denn im Theater, da geht der Vorhang hoch, und dann weißt du, jetzt fängt es offenbar an, denn der Vorhang ist ja hochgegangen. Und sowie das Licht ausgeht, werden die Zuschauer still, und sowie der Vorhang hochgegangen ist, wird die Luft, falls du in der Nähe der Bühne sitzt, anders, dann riechst du wirklich eine ganz andere Luft mit dem Staub und Zeugs, was da drin herumschwebt. Genau wie das andere Mal, als sie mit Michael und ihrer Mutter in die andere Tragödie mitgehen mußte, die war komplett verrückt, da dreht eine Frau durch und bringt ihre Kinder um, aber bevor sie das tut, schickt sie die beiden Jungen, noch ganz kleine Jungs, von der Bühne runter, und die kommen wirklich runter zu den Zuschauern und laufen zwischen denen rum, die Mutter hat ihnen vergiftete Klamotten gegeben usw., die sollen sie der Prinzessin schenken, die ihr Vater heiratet, den eigentlich sie heiraten soll, und die Kinder gehen zu einem Haus oder einem Palast irgendwo hinter den Zuschauern, das passiert nicht auf der Bühne, es passiert nirgends, nur in der Geschichte, i.e. in deinem Kopf, aber selbst wenn du weißt, daß es gar nicht passiert, daß es nur ein Theaterstück ist, zieht trotzdem irgendwo hinter dir die Prinzessin die vergifteten Klamotten an und stirbt eines gräßlichen Todes. Ihre Augen zerfließen in ihren Höhlen, und sie kriegt lauter Ausschlag, wie wenn Terroristen in der U-Bahn Keime freigesetzt hätten. Ihre Lunge zerfließt und
Astrid gähnt. Sie hat Hunger.
Sie hat sogar einen Riesenhunger.
Es sind noch Stunden hin bis zu so was wie Frühstück, falls sie in diesem unhygienischen Dreckloch irgendwas verspeisen möchte.
Sie könnte weiterschlafen. Aber - typisch und wie zum Hohn - sie ist hellwach. Draußen ist es jetzt richtig hell, man sieht meilenweit. Nur daß es nichts zu sehen gibt: Bäume und Felder und solche Sachen.
5:16 auf dem mickrigen Radiowecker.
Sie ist eigentlich wach.
Sie könnte aufstehen und losgehen und den Vandalismus filmen. Das macht sie heute, definitiv. Sie wird zu dem Restaurant gehen, später, und den Inder fragen, ob es okay ist. Oder vielleicht wird sie es auch filmen, ohne daß er es weiß, damit er nicht nein sagt. Wenn sie jetzt gleich ginge, wäre niemand dort, und sie könnte es einfach machen. Falls zufällig doch schon jemand um diese Morgenstunde auf und zugange ist (wird nicht, meilenweit ist hier niemand außer ihr wach, aber falls doch, nur mal angenommen), würde derjenige denken, oh, sieh an, eine Zwölfjährige, die mit einer Digicam spielt. Demjenigen würde eventuell auffallen, was für ein gutes Modell die Kamera ist, das heißt, falls er was von Kameras versteht. Sie würde, falls man sie fragt, sagen, daß sie den Sommer über zu Besuch ist (stimmt) und die Gegend filmt (stimmt) oder daß das für ein Schulprojekt (könnte stimmen) über verschiedene Gebäudearten und ihre Nutzung ist (ziemlich gut). Und dann hat sie vielleicht einen lebendigen Beweis auf ihrem Miniband, wenn sie nach Hause kommt, und irgendwann während der Ermittlungen zu dem Akt vandalistischer Zerstörung fällt es einem, der etwas zu sagen hat, plötzlich wieder ein, und der sagt, oh, da war doch diese Zwölfjährige mit ihrer Kamera, vielleicht hat sie irgendwas aufgenommen, was, wie sagen die noch mal, entscheidend sein könnte für unsere Ermittlungen, und dann kommen sie und klopfen an die Tür, bloß was, wenn sie noch nicht hier sind für den Sommer, oder was, wenn sie schon heimgefahren sind, manche Ermittlungen dauern ja ziemlich lange, na, dann stöbern die Behörden sie eben zu Hause auf mit ihren Computern, indem sie Michaels Namen eingeben oder die Leute fragen, denen dieses mickrige Haus gehört, und dank ihrer kommt die Sache dann in Ordnung, und ein Rätsel, nämlich wer für den Vandalismus hier im Curry Palace verantwortlich ist, wird wirklich einmal gelöst.
Es ist ein idealer Ort. Das sagt ihre Mutter immer, sagt es jeden Abend. Es sind aber nicht viele andere Leute hier im Urlaub, obwohl er so ideal ist, vielleicht weil die Urlaubszeit noch nicht richtig angefangen hat, offiziell zumindest nicht. Die Leute im Dorf gaffen dauernd, auch wenn Astrid gar nichts macht, nur herumläuft. Auch wenn sie nicht die Kamera benutzt. Aber es ist schönes Wetter. Sie freut sich, daß sie nicht in der Schule ist. An den meisten Morgengrauen, die sie aufgenommen hat, ist die Sonne herausgekommen. So sieht ein guter Sommer aus. Früher, bevor sie auf die Welt kam, waren die Sommer besser, da gab es anscheinend durchgängig schöne Sommer von Mai bis Oktober. Früher, das ist auch ein anderes Jahrhundert. Sie selber ist wahrscheinlich diejenige, die von den Leuten, die jetzt hier im Haus sind - ihre Mutter, Magnus, sie selbst, Michael -, am längsten in dem neuen Jahrhundert leben wird. Die anderen gehören alle mehr zum vorigen Jahrhundert als sie. Andererseits wieder hat sie selber den größten Teil ihres Lebens im alten Jahrhundert verbracht. Die anderen, so gesehen, allerdings auch, aber prozentual gesehen hat sie immerhin schon fünfundzwanzig Prozent ihres Lebens in dem neuen Jahrhundert erlebt (wenn man mit 2001 zu zählen anfängt und die nächsten sechs Monate dieses Jahres als bereits rum ansieht). Sie ist zu fünfundzwanzig Prozent neu und zu fünfundsiebzig Prozent alt. Magnus hat drei Jahre von siebzehn im neuen gelebt, das macht also, Astrid rechnet es aus, Magnus ist zu siebzehn Prozent oder so neu, zu dreiundachtzig alt. Sie ist zu acht Prozent mehr im neuen als Magnus. Ihre Mutter und Michael liegen weit abgeschlagen mit einem signifikant kleineren Prozentsatz im neuen und einem signifikant höheren Prozentsatz im alten. Ganz genau rechnet sie das später mal aus. Jetzt hat sie dazu keine Lust.
Sie dreht sich auf dem mickrigen Bett auf die andere Seite. Das mickrige Bett knarrt laut. Nach dem Knarren hört sie die Stille im übrigen Haus. Die schlafen alle. Niemand weiß, daß sie wach ist. Niemand ist nur für einen Penny klug. Penny der Kluge klingt wie eine Gestalt aus der Vorgeschichte. Im Jahre 1003 v. Chr. (vor Chrom) wandert Astrid in den Wald, wo Penny der Kluge, der eigentlich von vornehmer Abkunft und ein König ist, es überraschend aber vorzog, ein Niemand zu sein und ein einfaches Leben zu führen, in einer Hütte lebt, nein, in einer Höhle, und die Fragen beantwortet, die die von meilenweit aus dem ganzen Land kommenden Leute ihm stellen (höchstwahrscheinlich doch einem und nicht einer Penny, denn wenn es eine Penny wäre, hätte sie im Kloster landen oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein müssen). Die Leute, die irgendwas beantwortet haben wollen, müssen an die Höhlentür klopfen, gut, eben draußen an den Felsen, sie hebt einen Stein vom Boden auf und schlägt damit auf einen anderen Stein, dadurch weiß Penny der Kluge, daß jemand wartet. Ich habe eine Spende mitgebracht, ruft Astrid in die dunkle Höhle. Die mitgebrachte Spende besteht aus Croissants. Croissants kriegt man im Wald vermutlich zwar nicht, genausowenig wie hier. Beide, Michael und ihre Mutter, beschweren sich schon seit sie in dieses mickrige Dorf gekommen sind, weil es hier keine Croissants gibt, was mal wieder typisch ist und ein Hohn, denn sie waren diejenigen, die unbedingt hierher wollten, und haben sie und Magnus zum Mitkommen gezwungen, und deshalb ist sie jetzt noch komischer, noch weniger wie alle anderen, als sie es sowieso schon war, obwohl, wenn sie Glück hat, haben Lorna Rose und Zelda Howe und Rebecca Callow bis September, wenn die Schule wieder anfängt, längst vergessen, daß Astrid zwei Monate vorher aus der Schule genommen worden ist.
Astrid schlägt sie sich mit Konzentration wieder aus dem Kopf. Sie steht an der Höhlentür. Die Croissants in der Hand. Penny der Kluge ist entzückt. Er bedeutet Astrid durch ein Nicken einzutreten.
Er blinzelt sie durch die dunkle Höhle hindurch an; er ist alt und klug, hat einen väterlichen Blick. Gib mir Antwort auf meine Frage, o verehrtes Orakel, hebt Astrid an.
Aber mehr kann sie nicht sagen, denn sie hat keine Frage. Sie weiß nicht, wonach sie ihn fragen soll und wozu. Ihr fällt keine Frage ein, keine, die sie sich auch nur in Gedanken auszusprechen trauen würde, schon gar nicht laut vor einem vollkommen Fremden, und sei es einer, den sie selbst erfunden hat. (Astrid Smart. Astrid Berenski.)Sie setzt sich auf. Greift nach ihrer Kamera, dreht sie in der Hand um. Klappt den Bildschirm zu, nimmt die Kassette mit den Anfängen heraus, steckt sie in die kleine Hülle und legt sie auf den Tisch. Statt dessen legt sie die andere Kassette in die Kamera ein, die nichts mit Anfängen zu tun hat. Astrid liegt auf dem Rücken, und jetzt dreht sie sich auf den Bauch. Am Ende ihres Urlaubs wird sie einundsechzig Anfänge haben, je nachdem, ob sie am Freitag, Samstag oder Sonntag fahren. Einundsechzig minus neun, i. e. immer noch mindestens zweiundfünfzig, die vor ihr liegen. Astrid seufzt. Ihr Seufzen klingt zu laut. Hier gibt es keinen Verkehrslärm. Vielleicht liegt es an der Geräuschlosigkeit, daß sie so wach ist. Sie ist hellwach. Gleich wird sie gehen und den Vandalismus filmen. Sie macht die Augen zu. Sie befindet sich im Innern einer Haselnuß, paßt genau rein in die Schale, so als wäre sie darin zur Welt gekommen. Die Schale sitzt auf ihrem Kopf wie ein Helm. Sie paßt aber auch genau um die Wölbung ihrer Knie. Sie ist rundherum zu. Es ist ein idealer Raum. Völlig sicher. Niemand kann in ihn eindringen. Da fällt ihr ein - wie soll sie das mit dem Atmen anstellen, wenn die Nuß vollkommen abgeschlossen ist? Sie überlegt, wie sie jetzt atmen soll. Der Luftvorrat in der Nuß, falls es überhaupt einen gibt, ist ja wohl endlich. Und dann beunruhigt sie, daß Lorna Rose und Zelda Howe und Rebecca, sollten die jemals erfahren, daß sie sich mal vorgestellt hat, sie befinde sich in einer Haselnuß, sie für noch lächerlicher halten als sowieso schon, womöglich sogar für geistesgestört. Lorna Rose und Zelda Howe spielen auf einem öffentlichen Platz in einem Park Tennis. Astrid und Rebecca gehen dort vorbei. Rebecca und Astrid sind noch Freundinnen. Lorna Rose kommt an den Zaun gerannt und sagt zu Astrid und Rebecca, sie sollen doch auf dem Platz direkt neben dem spielen, auf dem sie und Zelda Howe gerade sind, und hinterher sollen die Siegerinnen jedes Spiels gegeneinander antreten, damit sie herausfinden, wer von ihnen vieren die beste ist. Astrid schaut zu dem Platz, auf dem sie und Rebecca spielen sollen. Dort liegen lauter Glasscherben auf der Erde. Sie will schon ablehnen, da sagt Rebecca zu. Aber schau dir das Glas an, sagt Astrid, denn das ist Wahnsinn. Feigling, sagt Zelda Howe. Wir wußten, daß du nicht mitmachen würdest. Die beiden haben die Glasscherben absichtlich dahin geworfen, als Test. Wenn du auf Glasscherben spielen willst, bist du ein Idiot, sagt Astrid zu Rebecca. Rebecca geht auf den Tennisplatz und knirscht auf den Scherben herum. Ein Mann erscheint. Es ist einer der Väter. Sie will ihm das von dem Glas sagen, doch bevor sie dazu kommt, ruft er alle, nur sie nicht, an den Zaun und bricht einen Cadbury-Riegel mit Mandeln und Rosinen in vier gleiche Teile. Gibt jedem der Mädchen ein Stück. Sie guckt hin, will sehen, ob er das vierte Stück selber ißt, kann sein Gesicht aber nicht erkennen; er ist zu weit entfernt. Sie hat etwas in der Hand. Ihre Kamera. Wenn sie das auf den Film kriegt, kann sie irgendwem alles zeigen, was hier passiert. Aber sie kann die Kamera nicht heben. Sie ist zu schwer. Ihr Arm macht nicht mit. Eine Türglocke läutet, meilenweit entfernt. Die zu Hause.
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Autoren-Porträt von Ali Smith
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt heute in Cambridge. Sie hat bisher drei Romane und drei Erzählbände veröffentlicht und schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen. Sie stand bereits zweimal auf der Shortlist des Booker Prize und einmal auf der Shortlist des Orange Prize.Silvia Morawetz, geb. 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und ist die Übersetzerin von u.a. Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ali Smith
- 2006, 1, 317 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Morawetz, Silvia
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630872336
- ISBN-13: 9783630872339
Rezension zu „Die Zufällige “
"Dem Leser fliegt Ali Smiths wilde Prosa nur so um die Ohren, die ungewöhnlich und aufregend ist." (Brigitte)"Ein kraftvoller Appell an die Experimentierlust in der Literatur wie im Leben." (Facts)
"Ein Roman aus England, bei dem man an französisches Kino denken muß - er ist sexy, lustig, und alle Figuren sind irgendwie neurotisch." (Glamour)
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