Dieses eine Leben
Aufrecht durch dunkle Zeiten
Nach seinen Bestsellern "Niemands Tochter" und "Niemands Mutter" erzählt Gunter Haug nun die Geschichte eines mutigen Gegners des NS-Regimes.
1942: Mit nur 36 Jahren stirbt der überzeugte Sozialdemokrat und NS-Regimegegner...
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Produktinformationen zu „Dieses eine Leben “
Nach seinen Bestsellern "Niemands Tochter" und "Niemands Mutter" erzählt Gunter Haug nun die Geschichte eines mutigen Gegners des NS-Regimes.
1942: Mit nur 36 Jahren stirbt der überzeugte Sozialdemokrat und NS-Regimegegner August Voll im Wehrmachtslazarett in Winnenden. Angeblich durch Selbstmord. Doch noch kurze Zeit vorher schreibt er seiner Familie, dass Selbstmord für ihn nie in Frage käme, um aus dieser Situation zu entfliehen. Gunter Haug beschreibt in dieser Biografie das Leben des mutigen Großvaters seiner Frau und erzählt vom harten Leidensweg der Witwe und der Kinder. Eine berührende Schilderung einer Familie in einer dunklen Zeit.
Lese-Probe zu „Dieses eine Leben “
Dieses eine Leben von Gunter HaugKirchardt: ein Ort irgendwo im nördlichen Baden-Württemberg, im Westen des Landkreises Heilbronn gelegen. In Sichtweite der Autobahn Mannheim-Nürnberg. Keine Gemeinde, die sich von den tausend anderen im Land in irgendeiner Form dramatisch unterscheiden würde - weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Ein Dorf eben - wie es davon viele ähnliche in Deutschland gibt. Durchschnitt sozusagen. Ein Dorf, dessen Gesicht sich seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewaltig verändert hat. Dieselben Entwicklungen wie in all den anderen Dörfern im Umkreis auch. Ausweisung von Gewerbe- und Neubaugebieten, starker Zustrom von ausländischen Neubürgern verschiedenster Religionen. Dazu der alles beherrschende Autoverkehr, der sich in langen Schlangen durch Kirchardt quält, wenn die ohnehin chronisch verstopfte Autobahn wieder einmal völlig „dicht" ist.
Es ist nicht mehr viel zu sehen von dem ehemaligen Bauerndorf. In einem geradezu atemberaubenden Tempo hat sich Kirchardt während der sogenannten Wirtschaftswunderzeiten mehr und mehr in eine Art Kleinstadt verwandelt. Viel zu hastig jedenfalls. Wie überall war diese Entwicklung auch hier begleitet von den bekannten Phänomenen: dass man die Leute im Dorf mittlerweile. nicht mehr mit ihren Namen kennt, dass die Zugezogenen nicht mehr grüßen, wenn sie einem auf der Straße begegnen. Aber dafür gibt es ja jetzt - Zeichen des sogenannten Fortschritts - wenigstens eine Ampel und einen Drogeriemarkt in der Gemeinde. Samt einem Supermarkt am Ortsrand, der dem letzten Kaufladen in der Dorfmitte allmählich die Luft abschnürt. Wie es eben heutzutage so ist. Überall im Land. Nichts Besonderes los also, in Kirchardt. Auf den ersten Blick keiner intensiveren Betrachtung wert. Scheint zumindest so.
Aber der Schein kann trügen. Zumindest
... mehr
ich betrachte Kirchardt seit einigen Jahren mit ganz anderen Augen. Seitdem ich auf die Recherchespur zu dem hier vorliegenden Buch gestoßen bin.
Auf der Spur einer Biografie, die Kirchardt für mich zu einem Musterbeispiel gemacht hat. Wo sich der Verlauf der deutschen Geschichte seit den Jahren ab 1930 in bedrückender Klarheit nachvollziehen lässt. In all seiner grausamen Banalität. Geschehnisse, wie sie vieltausendfach überall im Land in ganz ähnlicher Art und Weise stattgefunden haben. Ein Lebensweg, anhand dessen deutlich wird, wie es überhaupt dazu hat kommen können, wozu es schließlich gekommen ist. Und wie bedrückend einfach alles eigentlich begonnen hat. Wie ein Stein allmählich zur Lawine wird. Schon deshalb, weil erst keiner die Entwicklung ernst genommen hat. Und später, weil dann kaum einer mehr den Mut hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Und was mit den wenigen passiert ist, die meinten, sich dennoch auflehnen zu müssen, das hat man dann ja sehen können ...
Das auf den folgenden Seiten beschriebene Schicksal hat sich im nordbadischen Dorf Kirchardt tatsächlich genau so zugetragen. Die Beschreibungen in diesem Buch sind das Ergebnis langjähriger Recherchen.
Während der vielen Wochen meiner Beschäftigung in Archiven, Behörden und Verwaltungen sowie bei der Durchsicht unzähliger Veröffentlichungen, haben sich mir Sachverhalte eröffnet, die ich noch wenige Tage zuvor für schlechterdings unmöglich gehalten hätte. Neben manch regelrecht schockhaft gewonnener Erkenntnis. Niemals hätte ich all dies für möglich gehalten. Man mag nicht glauben, wie simpel die Mechanismen doch gewesen sind. Vielleicht will man das aber auch ganz einfach nur nicht wahrhaben.
Zahlen, Daten, Auflistungen, nüchterne Fakten, das ist die eine Seite. So lernt man Geschichte in der Schule.
Auch die Geschichte des sogenannten Dritten Reiches. Doch genau diese bloßen Anhäufungen von Ereignissen und Jahreszahlen sind das Problem. Zumeist verstellen sie uns den Blick auf das Wesentliche. Schon deshalb, weil sie persönliche Anteilnahme und Betroffenheit von vornherein unmöglich machen. Wenn man vor einer Wand von Zahlen steht, was soll man da begreifen? Nicht ahnend, welches Schicksal für jede dieser abstrakten Ziffern steht.
Ein einzelner Lebensweg aus dieser Zeit. Es sind solche Biografien, die Geschichte wirklich fassbar machen. Vielleicht auch begreifbar. Das ist am allerwichtigsten. Denn wozu hätte die Beschäftigung mit Geschichte ansonsten einen Sinn?
So habe ich mich also auf eine Spurensuche begeben, die mich mitten hineingeführt hat in die gar nicht allzu ferne Vergangenheit unseres Landes. Eine Vergangenheit, die uns heutzutage so unendlich weit zurückliegend erscheint. Befremdliche Geschichte, von der wir - aller unüberblickbaren Veröffentlichungsflut über diese Thematik zum Trotz - dennoch recht wenig wissen. Beziehungsweise wissen wollen ...
Zwei Lebensläufe sind es, die in dieser wahren Geschichte aufeinandertreffen und sich wenig später unentwirrbar zusammenfügen. Unauflösbar für alle Zeit. Es ist der Abriss eines kurzen, mutigen Lebens. Und es sind die Stationen eines langen Lebens, das im Strudel von Schicksalsschlägen, düsteren Vermutungen, Bitterkeit und niemals beantworteten Fragen nach 88 Jahren sein unruhiges Ende gefunden hat. Ein Lebensweg, der sich nur in seiner geradezu schicksalhaften Verkettung beschreiben lässt, durch die zwei Biografien schließlich verschmelzen in diesem einen Leben.
Es handelt sich um die Familie meiner Frau Karin, in der sich das Geschehen, das ich auf den folgenden Seiten beschreiben will, tatsächlich ereignet hat. Zur Hauptperson
wider Willen ist dabei ihr Großvater August Voll geworden, geboren im Jahr 1906, von Beruf Flaschner und zeit seines kurzen Lebens überzeugter Sozialdemokrat. Ein Großvater, den meine Frau nie gekannt hat. Sie konnte ihn gar nicht kennen. Denn bei Karins Geburt im Jahr 1957 war August Voll schon 15 Jahre lang tot - gestorben 1942 im Alter von nur 36 Jahren. Unter überaus mysteriösen Umständen. Das werden die nächsten Kapitel dieses Buches zeigen. Denn der Flaschner August Voll ist ein Opfer seiner Zeit geworden. Keiner ist ihm damals zu Hilfe gekommen. Es wäre durchaus möglich gewesen. Aber irgendwann war es zu spät dafür. Es hat ihn das Leben gekostet.
Diese Zeit!
Mit den Jahren ab 1933, seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler, hatte sich der Alltag für Menschen vom Schlage des August Voll drastisch gewandelt. Eindeutig zum Schlechteren hin. Spätestens seitdem Hitler es geschafft hatte, sich zum Reichskanzler wählen zu lassen, türmten sich vor mutigen und überzeugten Demokraten immer neue, immer größere Hindernisse auf. Die Welt steckte plötzlich voller Schwierigkeiten und Repressionen. Vor allem dann, wenn einer wie August Voll aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der NSDAP keinerlei Hehl gemacht hat. Menschen wie ihm, die sich von den braun uniformierten Kommandos nicht den Mund haben verbieten lassen und ganz offen ihre Ablehnung geäußert haben, ist es von diesem Zeitpunkt an meist übel ergangen. Erst recht, wenn man sich wie der junge Mann standhaft geweigert hat, die Rechte zum obligatorischen Hitlergruß von sich zu strecken und gleichzeitig ein lautes „Heil Hitler!" auszurufen. Mindestens zweimal ist er deswegen in seinem Heimatort Kirchardt halbtot geprügelt worden. Das eine Mal im Jahr 1938. Damals hatte August Voll bei einem Gasthausbesuch den
Hitlergruß demonstrativ verweigert. Hatte weder den Arm ausgestreckt noch „Heil Hitler" gerufen.
Diese „Gasthausschlägerei" - als solche ist sie bei den älteren Einwohnern von Kirchardt bis auf den heutigen Tag noch ein Begriff. Selbst im örtlichen Archiv finden sich noch Hinweise darauf. Denn die „Gasthausschlägerei" hat in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Kirchardt eine wichtige Rolle gespielt. Es war die Zeit der sogenannten Entnazifizierungsverfahren. All die namentlich bekannten Beteiligten von damals waren durch protokollierte Zeugenaussagen mit diesen Vorgängen konfrontiert worden. Nachdem es sich ja um ein Vorkommnis aus dem Jahr 1938 handelte, konnte man anhand der Rolle, die der eine oder andere dabei gespielt hat, ganz gut erkennen, wer ein klassischer Mitläufer gewesen ist und wer nicht. Wo sich doch spätestens ab 1946 praktisch alle zu harmlosen Mitläufern verwandelt hatten. Auch diejenigen, die seinerzeit das große Wort geführt hatten. Unschuldslämmer. Verführte. Unbedeutende Mitläufer eben. Einer hätte das Gegenteil aussagen können: August Voll, das Opfer dieser Auseinandersetzung. Doch zum Zeitpunkt der Fragestellung war August Voll längst tot. Lag seit vier Jahren schon auf dem Kirchardter Friedhof. Ausgerechnet im Heldengrab hatten sie ihn zur letzten Ruhe gebettet. Eine Grabstätte, die er selbst sich auf das Strikteste verbeten hätte - wenn ihn seinerzeit jemand gefragt hätte. Aber dagegen wehren konnte er sich nicht mehr.
Genauso wenig wie bei der nachträglichen Schönung dieser ominösen „Gasthausschlägerei" vom Jahr 1938. Es ist geradezu atemberaubend, in den Unterlagen des Dorfarchivs mitverfolgen zu müssen, wie es den Hauptbeteiligten der damaligen Vorgänge im weiteren Verlauf der Wirtschaftswunderjahre gelungen ist, die Sache herunterzuspielen. Wie alles, was tatsächlich geschehen war, plötzlich als „nicht politisch, sondern nur im Vollrausch entstanden" abgetan wurde. Eine Formulierung, durch die sämtliche der ehemaligen Parteigenossen und damaligen Mittäter auf einen Streich wieder reingewaschen waren. Und nur allzu gerne ist man damals dieser Argumentation gefolgt. In Kirchardt ebenso wie anderswo. Überall hat man es so praktiziert: landauf - landab. Aus diesen Gründen: zunächst hatten die Amerikaner plötzlich die Lust an einer lückenlosen Aufklärung verloren. Der Kalte Krieg zwischen West und Ost warf erste Schatten auf die Zukunft. Man brauchte Verbündete in Europa. Je mehr, desto besser. Was den Deutschen im Westen natürlich ganz gelegen kam. Und schon zeichnete sich vor den Toren der neu zu gründenden Bundesrepublik ein rasanter Wirtschaftsaufschwung ab. Man hatte nun wahrlich Wichtigeres zu tun, als das alte Stroh von vorgestern zu dreschen. Geschichten aus der düstersten Epoche Deutschlands. Geschichten, von denen man sich nur noch wünschte, sie möglichst rasch hinter sich bringen und ein für alle Mal vergessen zu können. Nein! Es war keine Zeit mehr dafür, sich beständig rückwärtszuwenden. Und die Leute hatten auch weiß Gott keine Lust mehr dazu, sich wieder und wieder dieselben Vorhaltungen anhören zu müssen. Irgendwann musste Schluss sein. Vorbei ist Vorbei!
Glasklar lässt sich aufgrund dieser Logik, die sich wie ein roter Faden durch die Archivunterlagen zieht, die entsprechende Schlussfolgerung rekonstruieren. Wenn man Besseres zu tun hatte, als sich ewig um die alten Geschichten kümmern zu müssen, um die vorwurfsvollen Anklagen, um die Opfer und ihre Angehörigen: Wen interessierten dann eigentlich noch die Täter? Ohne Opfer keine Täter. So einfach ist das. Und genauso einfach war es.
Kirchardt: ein Spiegelbild der deutschen Geschichte. Wie viele andere Dörfer ganz genauso. Nicht mehr - aber auch nicht weniger. Denn große Geschichte spiegelt sich immer im Kleinen. Und nur im Kleinen lassen sich ihre konkreten Auswirkungen auch ablesen.
Wer also war nun August Voll, der unfreiwillige „Held" dieser wahren Geschichte? August Voll wurde am 21. März 1906 im nordbadischen Dorf Kirchardt geboren. Als Sohn des Landwirts und Zigarrenmachers Jakob Voll und dessen Frau Wilhelmine. Von zehn Kindern des Ehepaars sind fünf schon früh gestorben. Wie es eben so war auf dem Land in jenen Zeiten. August Voll hat das Flaschner- beziehungsweise Klempnerhandwerk erlernt und es schließlich sogar zum Meister gebracht. Dadurch war es ihm, der aus eher bescheidenen Verhältnissen stammte, möglich geworden, in seinem Heimatort Kirchardt ein kleines Geschäft zu gründen. Danach die übliche Biografie: in den dreißiger Jahren der Hausbau, Heirat, zwei Kinder, ein Mädchen und ein junge. Und so schien das Leben des Flaschnermeisters August Voll in den ganz normalen bürgerlichen Bahnen zu verlaufen. Aber es gab keine Normalität in diesen Jahren.
11. August 2002
Wir stehen auf dem Friedhof von Kirchardt, einer kleinen Gemeinde im westlichen Landkreis Heilbronn. Das Ehrenmal des Dorfes für die im 2. Weltkrieg gefallenen Soldaten. Auf den Tag genau vor 60 Jahren ist hier August Voll beerdigt worden. Drei Tage zuvor, am 8. August war er im Alter von nur 36 Jahren seinen Heldentod für Führer und Vaterland gestorben.
Heldentod? Heldentod! Sollte man meinen, wollte man glauben machen. Und so glauben es viele auch immer noch - falls es sie heutzutage überhaupt noch interessiert. Denn wen von den jüngeren Kirchardtern „juckt" das denn wirklich? Außer den paar Alten, die am Volkstrauertag immer vor dem Ehrenmal stehen. Und die von Jahr zu Jahr weniger werden.
Das Ehrenmal: Ein großer rötlicher Sandstein, der in den Himmel ragt, darunter einige Gräber inmitten einer steinernen Einfassung. Einzelne Grabsteine darin.
Das zweite Grab von links: an dem in den Stein gemeißelten Namen lässt sich noch ablesen, wer darunter begraben liegt:
„Gefreiter August Voll, geb. 21.3.1906, gest. 8.8.1942". Von 1939-1945 sind viele Dutzend Namen an diesem Ehrenmal verewigt.
Soldaten, die den Heldentod für Volk und Vaterland gestorben sind. Wie man das eben immer so sagt! Als hätten sie jemals Helden sein wollen. Überleben wollten sie, die Bauernburschen aus Kirchardt. Nichts anderes. Wie all die anderen auch. Doch zu hunderttausenden wurden sie von feindlichen Kugeln tödlich getroffen, von Granaten zerfetzt, in Feuer, Schlamm und Eis sind sie elend zugrunde gegangen. Von wegen Helden! Den Heldentod gestorben! Helden sehen anders aus - wie auch immer.
Für August Voll passt es gleich gar nicht. Denn der ist nicht einmal als Soldat auf dem Schlachtfeld gestorben. Aus dem Fenstergesprungen sei er, heißt es in Kirchardt. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. In der Irrenanstalt von Winnenden sei er eingesperrt gewesen. Als Verrückter. Es habe sich um den Selbstmord eines Wahnsinnigen gehandelt.
Aber wieso liegt er dann hier begraben? Im Ehrenmal für die im Weltkrieg getöteten Soldaten? Weil eben auch er Soldat gewesen ist und in einem Wehrmachtslazarett, dem Reservelazarett Winnenden, gestorben ist. Es wird immer verwirrender. Und es wird auch immer klarer: Hier ist etwas passiert, mit dem viele im Dorf bis heute nicht umgehen können. Deshalb gibt es viele sogenannte „Wahrheiten". Aber welche ist die richtige?
Erst ganz allmählich beginnen diejenigen, die August Voll noch gekannt haben, mir von seiner tragischen Lebensgeschichte zu erzählen. Stockend und vorsichtig zunächst, dann aber immer fließender. Dass August, der Klempnermeister, schon in jungen Jahren Sozialdemokrat gewesen sei - so wie fast alle in seiner Familie halt. Aber vor allen Dingen sei er ein entschiedener Gegner der braunen Machthaber gewesen, von Anfang an. Nie habe er es lassen können, diese Gegnerschaft auch öffentlich kundzutun. Da habe er sich keinem noch so gut gemeinten Ratschlag gebeugt.
Was man sonst noch über ihn weiß? Dass er als einer der ersten Handwerker von Kirchardt schon im September 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden ist. Weil er halt keine Ruhe gab, sondern immer wieder mit den örtlichen Parteigrößen zusammenrasselte. Obwohl man Handwerker üblicherweise doch so lange wie möglich am Ort gehalten hatte, um einen möglichst normalen Fortgang des öffentlichen Lebens auch in Kriegszeiten zu gewährleisten (oder vorzuspiegeln). Aber auch als Soldat bei der Wehrmacht lässt sich August Voll den Mund nicht verbieten. Wegen seiner mehrfach geäußerten kritischen Haltung zu den Nazigrößen und zum Krieg wird er in eine Strafkompanie versetzt.
Die Erinnerung an August Voll: „Ja, das war ein aufrechter Mann!"
Wie durch dichten Nebel hindurch dringt die Wahrheit, viele Jahrzehnte später, ganz zögernd ans Tageslicht. Die Wahrheit vom Ende des 36 Jahre alten Soldaten August Voll.
Von wegen Selbstmord, von wegen Heldentod! Mehr und mehr verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit, dass es sich um Mord gehandelt hat. Um niederträchtigen Mord an dem unbeugsamen Mann. Nur weil er bis zum Schluss ein entschiedener Gegner der braunen Umtriebe geblieben ist.
Die heimtückische Version vom Selbstmord hat sich jahrzehntelang gehalten. Was den Tod des Familienvaters für die Angehörigen noch unerträglicher erscheinen ließ. Von der Verhöhnung des Opfers ganz zu schweigen.
Selbstmord eines Wahnsinnigen, kaltblütiger Mord an einem Regimegegner, Heldentod, Heldenbegräbnis. Wehrmachtssoldaten, die im August 1942 am offenen Grab des für Volk und Vaterland verstorbenen Gefreiten August Voll Ehrensalut schießen! Der Widerspruch ist mit Händen zu greifen. Dieses Gefühl, das einen angesichts dieser sonderbaren Gegensätze beschleicht. Da passt etwas nicht zusammen. Aber was? Die bohrende Frage verstärkt sich: Was genau ist nun wirklich passiert? Wird es überhaupt noch möglich sein, der Wahrheit auf die Spur zu kommen?
Der Besuch am Ehrenmal für die im Weltkrieg gefallenen Soldaten von Kirchardt. 60 Jahre danach. Es war der Moment, in dem meine Recherche begonnen hat. Im Laufe der folgenden Wochen und Monate hat sich die Vermutung mehr und mehr zur Gewissheit verdichtet, dass es tatsächlich die Spur eines Verbrechens ist. Ein Doppelmord sogar.
Zweifelsfrei steht inzwischen fest, dass es sich im Jahr 1942 um keinen Unglücksfall gehandelt hat. Und es war auch kein „Heldentod" für Volk und Vaterland, den August Voll hat sterben müssen. Wie immer man sich das Ende eines „Helden" vorzustellen hat.
Verzweiflung prägt fortan das Leben einer jungen Frau mit gerade einmal 33 Lebensjahren. Das Leben der Emilie Katharina Voll, geborene Ebert. Denn es war eine Tragödie, die sich im weiteren Schicksal seiner Witwe niederschlägt und in den Lebenswegen seiner Kinder. Selbst die Enkel sind teilweise noch betroffen. Geschichte, die ihre Schatten bis in die Gegenwart hineinwirft.
Deshalb haben sich die jahrelangen, manchmal recht mühevollen Recherchen zum Tod des August Voll gelohnt. Denn herausgekommen ist am Ende eine gänzlich andere Wahrheit als diejenige, die vor vielen Jahrzehnten verbreitet worden ist. Die sich als übles Gerücht entpuppt hat.
So stellt sich die Vergangenheit selbst für die Kinder des Opfers, für Ella und Willi, jetzt in einem ganz und gar anderen Licht dar. Ob es für sie tröstlich ist, die wahre Geschichte vom Tod ihres Vaters zu kennen? Wie auch immer die Antwort darauf lauten wird: Es ist ihr Recht, die Wahrheit zu wissen. Und eine Verpflichtung ihrem Vater gegenüber. Als letzte Möglichkeit der Wiedergutmachung. Im Hinblick auf das wahre Lebensbild des August Voll. Auf das, was in der Erinnerung bleiben wird.
So ist dieses Buch entstanden. Die Geschichte einer mit vielen Schicksalsschlägen konfrontierten Frau und ihrer Familie. Das Schicksal einer später sogenannten „Kriegerwitwe". Eine dieser Biografien, wie es sie in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu tausenden gegeben hat. Ein einzelner Lebensweg, der für viele andere steht.
Aus zwei verschiedenen Perspektiven heraus will ich dieses Leben nun nacherzählen. Verbunden mit der Hoffnung, dass den künftigen Generationen, unseren Kindern und Enkeln, solche Schicksale erspart bleiben mögen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2006 by Rotabene!
Auf der Spur einer Biografie, die Kirchardt für mich zu einem Musterbeispiel gemacht hat. Wo sich der Verlauf der deutschen Geschichte seit den Jahren ab 1930 in bedrückender Klarheit nachvollziehen lässt. In all seiner grausamen Banalität. Geschehnisse, wie sie vieltausendfach überall im Land in ganz ähnlicher Art und Weise stattgefunden haben. Ein Lebensweg, anhand dessen deutlich wird, wie es überhaupt dazu hat kommen können, wozu es schließlich gekommen ist. Und wie bedrückend einfach alles eigentlich begonnen hat. Wie ein Stein allmählich zur Lawine wird. Schon deshalb, weil erst keiner die Entwicklung ernst genommen hat. Und später, weil dann kaum einer mehr den Mut hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Und was mit den wenigen passiert ist, die meinten, sich dennoch auflehnen zu müssen, das hat man dann ja sehen können ...
Das auf den folgenden Seiten beschriebene Schicksal hat sich im nordbadischen Dorf Kirchardt tatsächlich genau so zugetragen. Die Beschreibungen in diesem Buch sind das Ergebnis langjähriger Recherchen.
Während der vielen Wochen meiner Beschäftigung in Archiven, Behörden und Verwaltungen sowie bei der Durchsicht unzähliger Veröffentlichungen, haben sich mir Sachverhalte eröffnet, die ich noch wenige Tage zuvor für schlechterdings unmöglich gehalten hätte. Neben manch regelrecht schockhaft gewonnener Erkenntnis. Niemals hätte ich all dies für möglich gehalten. Man mag nicht glauben, wie simpel die Mechanismen doch gewesen sind. Vielleicht will man das aber auch ganz einfach nur nicht wahrhaben.
Zahlen, Daten, Auflistungen, nüchterne Fakten, das ist die eine Seite. So lernt man Geschichte in der Schule.
Auch die Geschichte des sogenannten Dritten Reiches. Doch genau diese bloßen Anhäufungen von Ereignissen und Jahreszahlen sind das Problem. Zumeist verstellen sie uns den Blick auf das Wesentliche. Schon deshalb, weil sie persönliche Anteilnahme und Betroffenheit von vornherein unmöglich machen. Wenn man vor einer Wand von Zahlen steht, was soll man da begreifen? Nicht ahnend, welches Schicksal für jede dieser abstrakten Ziffern steht.
Ein einzelner Lebensweg aus dieser Zeit. Es sind solche Biografien, die Geschichte wirklich fassbar machen. Vielleicht auch begreifbar. Das ist am allerwichtigsten. Denn wozu hätte die Beschäftigung mit Geschichte ansonsten einen Sinn?
So habe ich mich also auf eine Spurensuche begeben, die mich mitten hineingeführt hat in die gar nicht allzu ferne Vergangenheit unseres Landes. Eine Vergangenheit, die uns heutzutage so unendlich weit zurückliegend erscheint. Befremdliche Geschichte, von der wir - aller unüberblickbaren Veröffentlichungsflut über diese Thematik zum Trotz - dennoch recht wenig wissen. Beziehungsweise wissen wollen ...
Zwei Lebensläufe sind es, die in dieser wahren Geschichte aufeinandertreffen und sich wenig später unentwirrbar zusammenfügen. Unauflösbar für alle Zeit. Es ist der Abriss eines kurzen, mutigen Lebens. Und es sind die Stationen eines langen Lebens, das im Strudel von Schicksalsschlägen, düsteren Vermutungen, Bitterkeit und niemals beantworteten Fragen nach 88 Jahren sein unruhiges Ende gefunden hat. Ein Lebensweg, der sich nur in seiner geradezu schicksalhaften Verkettung beschreiben lässt, durch die zwei Biografien schließlich verschmelzen in diesem einen Leben.
Es handelt sich um die Familie meiner Frau Karin, in der sich das Geschehen, das ich auf den folgenden Seiten beschreiben will, tatsächlich ereignet hat. Zur Hauptperson
wider Willen ist dabei ihr Großvater August Voll geworden, geboren im Jahr 1906, von Beruf Flaschner und zeit seines kurzen Lebens überzeugter Sozialdemokrat. Ein Großvater, den meine Frau nie gekannt hat. Sie konnte ihn gar nicht kennen. Denn bei Karins Geburt im Jahr 1957 war August Voll schon 15 Jahre lang tot - gestorben 1942 im Alter von nur 36 Jahren. Unter überaus mysteriösen Umständen. Das werden die nächsten Kapitel dieses Buches zeigen. Denn der Flaschner August Voll ist ein Opfer seiner Zeit geworden. Keiner ist ihm damals zu Hilfe gekommen. Es wäre durchaus möglich gewesen. Aber irgendwann war es zu spät dafür. Es hat ihn das Leben gekostet.
Diese Zeit!
Mit den Jahren ab 1933, seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler, hatte sich der Alltag für Menschen vom Schlage des August Voll drastisch gewandelt. Eindeutig zum Schlechteren hin. Spätestens seitdem Hitler es geschafft hatte, sich zum Reichskanzler wählen zu lassen, türmten sich vor mutigen und überzeugten Demokraten immer neue, immer größere Hindernisse auf. Die Welt steckte plötzlich voller Schwierigkeiten und Repressionen. Vor allem dann, wenn einer wie August Voll aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der NSDAP keinerlei Hehl gemacht hat. Menschen wie ihm, die sich von den braun uniformierten Kommandos nicht den Mund haben verbieten lassen und ganz offen ihre Ablehnung geäußert haben, ist es von diesem Zeitpunkt an meist übel ergangen. Erst recht, wenn man sich wie der junge Mann standhaft geweigert hat, die Rechte zum obligatorischen Hitlergruß von sich zu strecken und gleichzeitig ein lautes „Heil Hitler!" auszurufen. Mindestens zweimal ist er deswegen in seinem Heimatort Kirchardt halbtot geprügelt worden. Das eine Mal im Jahr 1938. Damals hatte August Voll bei einem Gasthausbesuch den
Hitlergruß demonstrativ verweigert. Hatte weder den Arm ausgestreckt noch „Heil Hitler" gerufen.
Diese „Gasthausschlägerei" - als solche ist sie bei den älteren Einwohnern von Kirchardt bis auf den heutigen Tag noch ein Begriff. Selbst im örtlichen Archiv finden sich noch Hinweise darauf. Denn die „Gasthausschlägerei" hat in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Kirchardt eine wichtige Rolle gespielt. Es war die Zeit der sogenannten Entnazifizierungsverfahren. All die namentlich bekannten Beteiligten von damals waren durch protokollierte Zeugenaussagen mit diesen Vorgängen konfrontiert worden. Nachdem es sich ja um ein Vorkommnis aus dem Jahr 1938 handelte, konnte man anhand der Rolle, die der eine oder andere dabei gespielt hat, ganz gut erkennen, wer ein klassischer Mitläufer gewesen ist und wer nicht. Wo sich doch spätestens ab 1946 praktisch alle zu harmlosen Mitläufern verwandelt hatten. Auch diejenigen, die seinerzeit das große Wort geführt hatten. Unschuldslämmer. Verführte. Unbedeutende Mitläufer eben. Einer hätte das Gegenteil aussagen können: August Voll, das Opfer dieser Auseinandersetzung. Doch zum Zeitpunkt der Fragestellung war August Voll längst tot. Lag seit vier Jahren schon auf dem Kirchardter Friedhof. Ausgerechnet im Heldengrab hatten sie ihn zur letzten Ruhe gebettet. Eine Grabstätte, die er selbst sich auf das Strikteste verbeten hätte - wenn ihn seinerzeit jemand gefragt hätte. Aber dagegen wehren konnte er sich nicht mehr.
Genauso wenig wie bei der nachträglichen Schönung dieser ominösen „Gasthausschlägerei" vom Jahr 1938. Es ist geradezu atemberaubend, in den Unterlagen des Dorfarchivs mitverfolgen zu müssen, wie es den Hauptbeteiligten der damaligen Vorgänge im weiteren Verlauf der Wirtschaftswunderjahre gelungen ist, die Sache herunterzuspielen. Wie alles, was tatsächlich geschehen war, plötzlich als „nicht politisch, sondern nur im Vollrausch entstanden" abgetan wurde. Eine Formulierung, durch die sämtliche der ehemaligen Parteigenossen und damaligen Mittäter auf einen Streich wieder reingewaschen waren. Und nur allzu gerne ist man damals dieser Argumentation gefolgt. In Kirchardt ebenso wie anderswo. Überall hat man es so praktiziert: landauf - landab. Aus diesen Gründen: zunächst hatten die Amerikaner plötzlich die Lust an einer lückenlosen Aufklärung verloren. Der Kalte Krieg zwischen West und Ost warf erste Schatten auf die Zukunft. Man brauchte Verbündete in Europa. Je mehr, desto besser. Was den Deutschen im Westen natürlich ganz gelegen kam. Und schon zeichnete sich vor den Toren der neu zu gründenden Bundesrepublik ein rasanter Wirtschaftsaufschwung ab. Man hatte nun wahrlich Wichtigeres zu tun, als das alte Stroh von vorgestern zu dreschen. Geschichten aus der düstersten Epoche Deutschlands. Geschichten, von denen man sich nur noch wünschte, sie möglichst rasch hinter sich bringen und ein für alle Mal vergessen zu können. Nein! Es war keine Zeit mehr dafür, sich beständig rückwärtszuwenden. Und die Leute hatten auch weiß Gott keine Lust mehr dazu, sich wieder und wieder dieselben Vorhaltungen anhören zu müssen. Irgendwann musste Schluss sein. Vorbei ist Vorbei!
Glasklar lässt sich aufgrund dieser Logik, die sich wie ein roter Faden durch die Archivunterlagen zieht, die entsprechende Schlussfolgerung rekonstruieren. Wenn man Besseres zu tun hatte, als sich ewig um die alten Geschichten kümmern zu müssen, um die vorwurfsvollen Anklagen, um die Opfer und ihre Angehörigen: Wen interessierten dann eigentlich noch die Täter? Ohne Opfer keine Täter. So einfach ist das. Und genauso einfach war es.
Kirchardt: ein Spiegelbild der deutschen Geschichte. Wie viele andere Dörfer ganz genauso. Nicht mehr - aber auch nicht weniger. Denn große Geschichte spiegelt sich immer im Kleinen. Und nur im Kleinen lassen sich ihre konkreten Auswirkungen auch ablesen.
Wer also war nun August Voll, der unfreiwillige „Held" dieser wahren Geschichte? August Voll wurde am 21. März 1906 im nordbadischen Dorf Kirchardt geboren. Als Sohn des Landwirts und Zigarrenmachers Jakob Voll und dessen Frau Wilhelmine. Von zehn Kindern des Ehepaars sind fünf schon früh gestorben. Wie es eben so war auf dem Land in jenen Zeiten. August Voll hat das Flaschner- beziehungsweise Klempnerhandwerk erlernt und es schließlich sogar zum Meister gebracht. Dadurch war es ihm, der aus eher bescheidenen Verhältnissen stammte, möglich geworden, in seinem Heimatort Kirchardt ein kleines Geschäft zu gründen. Danach die übliche Biografie: in den dreißiger Jahren der Hausbau, Heirat, zwei Kinder, ein Mädchen und ein junge. Und so schien das Leben des Flaschnermeisters August Voll in den ganz normalen bürgerlichen Bahnen zu verlaufen. Aber es gab keine Normalität in diesen Jahren.
11. August 2002
Wir stehen auf dem Friedhof von Kirchardt, einer kleinen Gemeinde im westlichen Landkreis Heilbronn. Das Ehrenmal des Dorfes für die im 2. Weltkrieg gefallenen Soldaten. Auf den Tag genau vor 60 Jahren ist hier August Voll beerdigt worden. Drei Tage zuvor, am 8. August war er im Alter von nur 36 Jahren seinen Heldentod für Führer und Vaterland gestorben.
Heldentod? Heldentod! Sollte man meinen, wollte man glauben machen. Und so glauben es viele auch immer noch - falls es sie heutzutage überhaupt noch interessiert. Denn wen von den jüngeren Kirchardtern „juckt" das denn wirklich? Außer den paar Alten, die am Volkstrauertag immer vor dem Ehrenmal stehen. Und die von Jahr zu Jahr weniger werden.
Das Ehrenmal: Ein großer rötlicher Sandstein, der in den Himmel ragt, darunter einige Gräber inmitten einer steinernen Einfassung. Einzelne Grabsteine darin.
Das zweite Grab von links: an dem in den Stein gemeißelten Namen lässt sich noch ablesen, wer darunter begraben liegt:
„Gefreiter August Voll, geb. 21.3.1906, gest. 8.8.1942". Von 1939-1945 sind viele Dutzend Namen an diesem Ehrenmal verewigt.
Soldaten, die den Heldentod für Volk und Vaterland gestorben sind. Wie man das eben immer so sagt! Als hätten sie jemals Helden sein wollen. Überleben wollten sie, die Bauernburschen aus Kirchardt. Nichts anderes. Wie all die anderen auch. Doch zu hunderttausenden wurden sie von feindlichen Kugeln tödlich getroffen, von Granaten zerfetzt, in Feuer, Schlamm und Eis sind sie elend zugrunde gegangen. Von wegen Helden! Den Heldentod gestorben! Helden sehen anders aus - wie auch immer.
Für August Voll passt es gleich gar nicht. Denn der ist nicht einmal als Soldat auf dem Schlachtfeld gestorben. Aus dem Fenstergesprungen sei er, heißt es in Kirchardt. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. In der Irrenanstalt von Winnenden sei er eingesperrt gewesen. Als Verrückter. Es habe sich um den Selbstmord eines Wahnsinnigen gehandelt.
Aber wieso liegt er dann hier begraben? Im Ehrenmal für die im Weltkrieg getöteten Soldaten? Weil eben auch er Soldat gewesen ist und in einem Wehrmachtslazarett, dem Reservelazarett Winnenden, gestorben ist. Es wird immer verwirrender. Und es wird auch immer klarer: Hier ist etwas passiert, mit dem viele im Dorf bis heute nicht umgehen können. Deshalb gibt es viele sogenannte „Wahrheiten". Aber welche ist die richtige?
Erst ganz allmählich beginnen diejenigen, die August Voll noch gekannt haben, mir von seiner tragischen Lebensgeschichte zu erzählen. Stockend und vorsichtig zunächst, dann aber immer fließender. Dass August, der Klempnermeister, schon in jungen Jahren Sozialdemokrat gewesen sei - so wie fast alle in seiner Familie halt. Aber vor allen Dingen sei er ein entschiedener Gegner der braunen Machthaber gewesen, von Anfang an. Nie habe er es lassen können, diese Gegnerschaft auch öffentlich kundzutun. Da habe er sich keinem noch so gut gemeinten Ratschlag gebeugt.
Was man sonst noch über ihn weiß? Dass er als einer der ersten Handwerker von Kirchardt schon im September 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden ist. Weil er halt keine Ruhe gab, sondern immer wieder mit den örtlichen Parteigrößen zusammenrasselte. Obwohl man Handwerker üblicherweise doch so lange wie möglich am Ort gehalten hatte, um einen möglichst normalen Fortgang des öffentlichen Lebens auch in Kriegszeiten zu gewährleisten (oder vorzuspiegeln). Aber auch als Soldat bei der Wehrmacht lässt sich August Voll den Mund nicht verbieten. Wegen seiner mehrfach geäußerten kritischen Haltung zu den Nazigrößen und zum Krieg wird er in eine Strafkompanie versetzt.
Die Erinnerung an August Voll: „Ja, das war ein aufrechter Mann!"
Wie durch dichten Nebel hindurch dringt die Wahrheit, viele Jahrzehnte später, ganz zögernd ans Tageslicht. Die Wahrheit vom Ende des 36 Jahre alten Soldaten August Voll.
Von wegen Selbstmord, von wegen Heldentod! Mehr und mehr verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit, dass es sich um Mord gehandelt hat. Um niederträchtigen Mord an dem unbeugsamen Mann. Nur weil er bis zum Schluss ein entschiedener Gegner der braunen Umtriebe geblieben ist.
Die heimtückische Version vom Selbstmord hat sich jahrzehntelang gehalten. Was den Tod des Familienvaters für die Angehörigen noch unerträglicher erscheinen ließ. Von der Verhöhnung des Opfers ganz zu schweigen.
Selbstmord eines Wahnsinnigen, kaltblütiger Mord an einem Regimegegner, Heldentod, Heldenbegräbnis. Wehrmachtssoldaten, die im August 1942 am offenen Grab des für Volk und Vaterland verstorbenen Gefreiten August Voll Ehrensalut schießen! Der Widerspruch ist mit Händen zu greifen. Dieses Gefühl, das einen angesichts dieser sonderbaren Gegensätze beschleicht. Da passt etwas nicht zusammen. Aber was? Die bohrende Frage verstärkt sich: Was genau ist nun wirklich passiert? Wird es überhaupt noch möglich sein, der Wahrheit auf die Spur zu kommen?
Der Besuch am Ehrenmal für die im Weltkrieg gefallenen Soldaten von Kirchardt. 60 Jahre danach. Es war der Moment, in dem meine Recherche begonnen hat. Im Laufe der folgenden Wochen und Monate hat sich die Vermutung mehr und mehr zur Gewissheit verdichtet, dass es tatsächlich die Spur eines Verbrechens ist. Ein Doppelmord sogar.
Zweifelsfrei steht inzwischen fest, dass es sich im Jahr 1942 um keinen Unglücksfall gehandelt hat. Und es war auch kein „Heldentod" für Volk und Vaterland, den August Voll hat sterben müssen. Wie immer man sich das Ende eines „Helden" vorzustellen hat.
Verzweiflung prägt fortan das Leben einer jungen Frau mit gerade einmal 33 Lebensjahren. Das Leben der Emilie Katharina Voll, geborene Ebert. Denn es war eine Tragödie, die sich im weiteren Schicksal seiner Witwe niederschlägt und in den Lebenswegen seiner Kinder. Selbst die Enkel sind teilweise noch betroffen. Geschichte, die ihre Schatten bis in die Gegenwart hineinwirft.
Deshalb haben sich die jahrelangen, manchmal recht mühevollen Recherchen zum Tod des August Voll gelohnt. Denn herausgekommen ist am Ende eine gänzlich andere Wahrheit als diejenige, die vor vielen Jahrzehnten verbreitet worden ist. Die sich als übles Gerücht entpuppt hat.
So stellt sich die Vergangenheit selbst für die Kinder des Opfers, für Ella und Willi, jetzt in einem ganz und gar anderen Licht dar. Ob es für sie tröstlich ist, die wahre Geschichte vom Tod ihres Vaters zu kennen? Wie auch immer die Antwort darauf lauten wird: Es ist ihr Recht, die Wahrheit zu wissen. Und eine Verpflichtung ihrem Vater gegenüber. Als letzte Möglichkeit der Wiedergutmachung. Im Hinblick auf das wahre Lebensbild des August Voll. Auf das, was in der Erinnerung bleiben wird.
So ist dieses Buch entstanden. Die Geschichte einer mit vielen Schicksalsschlägen konfrontierten Frau und ihrer Familie. Das Schicksal einer später sogenannten „Kriegerwitwe". Eine dieser Biografien, wie es sie in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu tausenden gegeben hat. Ein einzelner Lebensweg, der für viele andere steht.
Aus zwei verschiedenen Perspektiven heraus will ich dieses Leben nun nacherzählen. Verbunden mit der Hoffnung, dass den künftigen Generationen, unseren Kindern und Enkeln, solche Schicksale erspart bleiben mögen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2006 by Rotabene!
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Bibliographische Angaben
- Autor: Gunter Haug
- 472 Seiten, Maße: 13,1 x 19 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 382899444X
- ISBN-13: 9783828994447
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