Djura - Der Schleier des Schweigens
Doch es gelingt ihr nicht, sich selbst aus den unterdrückenden patriarchalischen Strukturen ihrer Familie zu lösen:
Als sie ein Kind von ihrem französischen Geliebten...
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Doch es gelingt ihr nicht, sich selbst aus den unterdrückenden patriarchalischen Strukturen ihrer Familie zu lösen:
Als sie ein Kind von ihrem französischen Geliebten erwartet, beschließen ihre Verwandten ihren Tod.
Ihr Mut ist unermesslich angesichts der nie endenden Todesgefahr, in die sich Frauen wie Djura, Souad, Norma Khouri und viele andere begeben: Sie riskieren ein weiteres Mal ihr Leben, wenn sie öffentlich von der unmenschlichen Tradition erzählen, der schon Tausende von Leidensgenossinnen zum Opfer gefallen sind - den sogenannten ''Ehrenmorden''.
Der Schleier desSchweigens von Djura
LESEPROBE
In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte. Nie wäre ich auf dieIdee gekommen, mein Leben aufzuschreiben, hätten sich die Ereignisse nicht so dramatischzugespitzt, daß es für mich lebenswichtig wurde, sie festzuhalten und auf dieseWeise die Vergangenheit zu bewältigen. Bisher bedeckte ein schamvoller Schleiermein Leiden. In meinen Liedern sang ich nur von der Hoffnung. Ich war beseeltvon dem Wunsch, das Los der Frauen, die noch unter dem Joch einer überalterten»Tradition« leiden, zu verbessern. In der ganzen Welt. Nach meinen Auftrittenkamen häufig Frauen zu mir und erzählten von sich. Dabei wurde mir bewußt, daßmein Schicksal so außergewöhnlich es auch anmuten mag mit dem vielerTöchter, Schwestern oder Gattinnen übereinstimmt, die stumm sind vor Angst, dieglücklich sein wollen und dabei nicht einmal existieren dürfen. Als ich michbereit erklärte, mein Leben zu erzählen, wollte ich diesen Schleier desSchweigens lüften, damit eines Tages die Maskerade ein Ende hat, durch dieangeblich die Gebräuche der Vorfahren respektiert werden. Menschlich gesehenbesitzt sie keinerlei Legitimität mehr. Juni 1987, dreizehn Uhr Es istentsetzlich heiß, und die Kais der Seine sind völlig verlassen. Normalerweisenutzen die Flußschiffer das schöne Wetter, um ihre Boote zu streichen. Doch andiesem Tag wagt niemand, die heißen Planken zu berühren. Unser zu einemHausboot umgebauter Schleppkahn bewegt sich nicht. Alles ist ruhig. Herve hatkaum Hunger, ich auch nicht. Wir geben uns mit einem gemischten Salat und einerhalben Ananas zufrieden, die wir im Rumpf unseres schwimmenden Hausesverzehren, wo wir eine amerikanische Küche im Stil der dreißiger Jahre miteiner Bar eingerichtet haben. Auf dem Flohmarkt hatten wir eine hinreißendeTheke aus Akazienholz, eine blaue Bank und zwei Bistro-Tische gefunden - dieganze Einrichtung. Ich bin im siebten Monat schwanger und trage ein geblümtesKleid, das angenehm leicht ist. Es stammt aus meiner nordalgerischen Heimat,der Kabylei. Ab und zu spüre ich, wie sich das Baby in meinem Bauch bewegt, undkann es immer noch nicht fassen, ein Kind von dem Mann, den ich liebe, auf dieWelt zu bringen! Für viele Frauen ist das wohl das Normalste auf der Welt. Fürmich bedeutet es das Ende eines langen Kampfes, die Verwirklichung einesTraumes, den ich gestern noch für unmöglich hielt. Bei derUltraschalluntersuchung hatte der Arzt gesagt, mein Kleiner bewege sich schonsehr kräftig. Herve und ich haben gelacht. Plötzlich hören wir, während wirnoch essen, Schritte auf dem Deck. Wir haben keine Zeit zu reagieren. Die Türwird brutal aufgestoßen, und ein bewaffneter Mann dringt in die Wohnküche ein.Kaum erkenne ich ihn, da drückt er auch schon seinen Revolver in meinen Bauch.Er gibt mir einen heftigen Schlag, so daß ich gegen die Bar taumele. Dannstürzt er sich auf Herve und versetzt auch ihm mit dem Lauf seines Revolversheftige Schläge. In diesem Augenblick dringt ein junges Mädchen in die Küche,läuft auf mich zu, schlägt mit Füßen und Fäusten wahllos auf meinen Körper ein.Sie beschimpft mich und reißt an meinen Haaren, bevor sie sich auf meinen Bauchkonzentriert und dort ihre ganze Wut ausläßt, während ich versuche, mich so gutwie möglich zu schützen. »Ich bin schwanger!« schreie ich. »Na und?« höhnt dasjunge Mädchen und schlägt unbekümmert weiter zu. Die Überrumpelung, vor allemaber die entsetzliche Angst, mein Kind zu verlieren, verschlagen mir dieSprache. Trotz meines schwerfälligen Körpers versuche ich, die Treppe zuerreichen und mich ins Freie zu retten. Doch die wütende Furie hindert michdaran. Plötzlich höre ich einen Schuß. Der Mann hat Herve verfolgt, der insFreie geflohen ist. Voller Angst versuche ich ein zweites Mal, das Boot zuverlassen und um Hilfe zu rufen. Das Mädchen drängt mich mit Gewalt zurück undstößt mich die Treppe hinunter. Ich habe nicht die Kraft aufzustehen. Plötzlichkommt der junge Mann wieder in die Küche und ruft seine Komplizin: »Schnell,Sabine, beeil dich.« Sie hasten die Treppe wieder hoch. Er trägt eine schwarzeLederjacke, und auch sie ist ganz in Schwarz gekleidet, einschließlich derStrumpfhosen. Später frage ich mich, aus welchem Grund die beiden bei dieserHitze schwarze Kleidung trugen. Man sollte auf ihrer Kleidung wohl keineBlutflecken erkennen können Ich wage nicht aufzustehen, weil ich befürchte,dann mein Kind zu verlieren. Ich krieche, meinen Bauch mit beiden Händenhaltend, zum Telephon, wähle den Notruf der Polizei. Dann nehme ich meinenganzen Mut zusammen, stehe auf und gehe die Treppe hoch, so schnell es mir meinZustand erlaubt. Entsetzlich: Herve schwankt auf dem Kai, blutüberströmt. Wieein Tier, das man abgestochen hat. In diesem Augenblick weiß ich, daß in miretwas endgültig gestorben ist, auch wenn es mir gelingen sollte, mein Baby zuretten. An diesem 29. Juni 1987 umdreizehn Uhr hat sich mein Leben geändert. Denn ich kenne die beiden, die unsüberfallen haben: mein Bruder Djamel und meine Nichte Sabine. Ich weiß auch,daß sie es im Auftrag meiner Familie getan haben. Als ich am nächsten Morgen imKrankenhaus aufwache, ist mein ganzer Körper mit Blutergüssen übersät. MeinNacken wiegt eine Tonne; ich habe Schmerzen und Angst. Die Polizei warüberraschend schnell eingetroffen und hatte unser blutüberströmtes Bootentdeckt. Sie haben mich ins Krankenhaus transportiert. Man gab mirBeruhigungsmittel. Ich beginne zu kämpfen. Die Kontraktionen meines Uteruszeichnen sich auf dem Bildschirm deutlich ab. Mein Kind! Mein Kind befindetsich in Gefahr! Ich spreche mit ihm, als ob es bereits geboren wäre: »Haltdurch! Sei stark!« Durch meine Haut hindurch streichle ich es sanft; ich denkean die kleine Hand mit den bereits deutlich sichtbaren Fingern, die es mir bei derersten Ultraschalluntersuchung entgegengestreckt hatte. Damals glaubte ich, einneues Leben beginnen zu können, vor den Nachstellungen meiner Familie geschützt Jetzt ist das Leben meines Sohnes bedroht, mein Mann Herve hat so viel Blutverloren, daß ich das Schlimmste befürchte, und mein Hunger auf das Leben wirdvon meinen Tränen erstickt.
© Heyne Verlag
Übersetzung: Oliver Neumann
- Autor: Djura
- 2004, 174 Seiten, Maße: 11,5 x 17,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- aus d. Französ. v. Rudolf Kimmig
- Verlag: Ludwig bei Heyne
- ISBN-10: 3453873165
- ISBN-13: 9783453873162
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