Drachenkämpfer
Roman. Deutsche Erstausgabe
Einst waren die Drachen mächtige, magische Geschöpfe. Doch jetzt ist ihr letztes Refugium ist die uralte, sagenumwobene Stadt Kelsingra. Eine kleine Gruppe aus Waldläufern und Drachen ist auf dem Weg dorthin. Doch sie müssen nicht nur Stürmen und Erdbeben trotzen.
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Produktinformationen zu „Drachenkämpfer “
Einst waren die Drachen mächtige, magische Geschöpfe. Doch jetzt ist ihr letztes Refugium ist die uralte, sagenumwobene Stadt Kelsingra. Eine kleine Gruppe aus Waldläufern und Drachen ist auf dem Weg dorthin. Doch sie müssen nicht nur Stürmen und Erdbeben trotzen.
Klappentext zu „Drachenkämpfer “
Eine gefährliche Reise, eine versunkene Stadt, ein magisches AbenteuerEinst waren die Drachen mächtige, magische Geschöpfe, die Herren der Lüfte und der Feuerstürme, zu denen die Menschen aufblickten. Diese Zeiten aber sind längst vergangen. Die Menschen würden die Drachen am liebsten ins Reich der vergessenen Mythen verbannen. Ihr letztes Refugium ist die uralte, sagenumwobene Stadt Kelsingra. Ein kleines Grüppchen aus Waldläufern und Drachen ist auf dem Weg dorthin. Doch sie müssen nicht nur Stürmen und Erdbeben trotzen, sondern auch einem Streit, der die Gefährten zu entzweien droht. Und ohne Landkarte wissen sie nicht, ob sie Kelsingra jemals finden werden ...
Lese-Probe zu „Drachenkämpfer “
Drachenkämpfer von Robin Hobb PROLOG
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Die Menschen waren in Aufruhr. Sintara spürte das penetrante Hin und Her ihrer Gedanken, lästig wie ein Schwarm Stechmücken. Die Drachin fragte sich, wie die Menschen überhaupt hatten überleben können, wenn sie ihre Gedanken nicht für sich behalten konnten. Die Ironie dabei war, dass sie weder die Kraft noch den Verstand hatten, die Gedanken ihrer Artgenossen zu verstehen. Und das obwohl sie keine Grille, die ihnen im Kopf herumspukte, für sich behalten konnten. Torkelnd stolperten sie durch ihr kurzes Leben und verstanden dabei weder Ihresgleichen noch sonst ein Wesen auf der Welt. Welch ein Schock war für Sintara die Erkenntnis gewesen, dass die Menschen keine andere Möglichkeit der Verständigung hatten, als Laute auszustoßen und anschließend, wenn das Gegenüber antwortete, zu raten, was es mit seinen Lauten wohl meinte. »Sprechen« nannten sie das. Kurz verzichtete sie darauf, das Bombardement an kreischenden Stimmen auszublenden, um herauszufinden, was die Drachenhüter derart in Aufruhr versetzt hatte. Wie üblich waren ihre Sorgen völlig unzusammenhängend. Einige fürchteten um die kranke Kupferdrachin - als ob sie ihr in irgendeiner Weise helfen konnten. Sintara fragte sich, warum sie um die sieche Kupferne herumscharwenzelten, anstatt ihren Pflichten gegenüber den anderen Drachen nachzukommen. Sie hatte Hunger, und heute hatte ihr niemand etwas gebracht. Noch nicht einmal einen Fisch.
Lustlos stapfte sie zum Fluss hinab. Doch es gab nicht viel zu sehen außer einem Streifen Kies und Schlick, Schilf und ein paar dürren Schösslingen. Ein paar matte Sonnenstrahlen fielen ihr auf den Rücken, spendeten aber kaum Wärme. Keinerlei Wild trieb sich hier herum. Vielleicht gab es ein paar Fische, aber die Anstrengung, die nötig war, um einen zu fangen, war das kurze Vergnügen, ihn zu fressen, nicht wert. Wenn ihr allerdings jemand einen Fisch brächte ...
Sie dachte daran, Thymara zu rufen und ihr aufzutragen, für sie auf die Jagd zu gehen. Nach dem, was Sintara von den Hütern gehört hatte, würden sie wohl so lange an diesem verlassenen Ufer verharren, bis der Kupferdrache entweder wieder auf den Beinen oder tot war. Sollte der Rote sterben, gäbe es eine ordentliche Mahlzeit für den Drachen, der als Erster zur Stelle war. Aber das wäre Mercor, fiel ihr mit einiger Bitterkeit ein. Der Golddrache hielt Wache. Sintara spürte, dass er Gefahr für den Kupfernen argwöhnte. Doch hütete er seine Gedanken und ließ weder die Drachen noch die Hüter wissen, was er dachte. Das allein schon ließ Sintara stutzig werden.
Wäre sie nicht so wütend auf ihn gewesen, hätte sie ihn rundheraus gefragt, welche Gefahr er fürchtete. Aber er hatte den Hütern ihren wahren Namen verraten, ohne dass sie ihn gereizt hatte. Nicht nur Thymara und Alise, ihren eigenen Hütern, hatte er ihn verraten, was schlimm genug gewesen wäre. Nein, er hatte ihren Namen hinausposaunt, als wäre das sein gutes Recht. Dass er und die meisten anderen Drachen beschlossen hatten, ihren Hütern ihren wahren Namen anzuvertrauen, war ihr völlig egal. Mochten sie ruhig so blauäugig und vertrauensselig sein, das kümmerte sie nicht. Sie mischte sich nicht in die Angelegenheiten zwischen Mercor und seiner Hüterin. Wieso aber hatte er sich dann die Freiheit genommen, ihre Beziehung zu Thymara ins Ungleichgewicht zu bringen? Jetzt, da das Mädchen ihren wahren Namen kannte, blieb Sintara nur zu hoffen, dass es mit diesem Wissen nichts anzufangen wusste. Kein Drache vermochte zu lügen, wenn jemand mit seinem wahren Namen die Wahrheit beschwor oder den Namen bei einer Frage richtig einsetzte. Gewiss vermochte der Drache die Antwort zu verweigern, aber er konnte nicht lügen. Genauso wenig war ein Drache in der Lage, eine Abmachung zu brechen, die er mit seinem wahren Namen geschlossen hatte. Mercor hatte diesem Menschlein mit der Lebensspanne eines Fischs eine unverschämte Machtfülle verliehen.
Sintara fand am Fluss eine freie Stelle und legte sich auf die von der Sonne gewärmten Steine, schloss die Augen und seufzte. Sollte sie schlafen? Nein. Auf dem kühlen Grund zu schlummern, war nicht sonderlich verlockend.
Widerwillig öffnete sie erneut ihren Geist, um zu erfahren, was die Menschen vorhatten. Jemand jammerte, weil er Blut an den Händen hatte. Die ältere ihrer beiden Hüterinnen war innerlich zerrissen, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie zu ihrem Ehemann zurückkehren und ihr Leben in Langeweile beschließen oder mit dem Kapitän des Schiffs schlafen sollte. Sintara stieß ein angewidertes Brummen aus. Da gab es überhaupt nichts zu entscheiden. Alise zerbrach sich den Kopf über Kinkerlitzchen. Es spielte keine Rolle, was sie tat, genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, wo sich eine Fliege hinsetzte. Das Leben eines Menschen war lächerlich kurz. Vielleicht veranstalteten sie deshalb einen solchen Lärm, solange sie am Leben waren. Vielleicht war dies ihre einzige Möglichkeit, sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern.
Gewiss gaben auch Drachen Laute von sich, aber sie waren nicht auf diese Laute angewiesen, um ihre Gedanken auszudrücken. Klang und Lautäußerungen waren nützlich, um das Wirrwarr eines menschlichen Geistes zu durchdringen und die Aufmerksamkeit anderer Drachen zu erlangen. Klang war nützlich, um einen Menschen überhaupt einmal dazu zu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was man ihm sagen wollte. Die Geräusche der Menschen hätten Sintara gar nicht so sehr gestört, wenn die Gedanken dieser Wesen nicht derart hervorsprudeln würden, während sie zur gleichen Zeit versuchten, die Bedeutung durch das Gekreische zu vermitteln. Manchmal war dieses zweifache Ärgernis so groß, dass sie sich wünschte, diese Kreaturen ein für alle Mal fressen zu können.
Sie verschaffte ihrem Unmut mit einem leisen Grollen Luft. Die Menschen waren nutzlose Plagegeister, und doch hatte das Schicksal es gefügt, dass die Drachen abhängig von ihnen waren. Nachdem die Drachen sich aus Seeschlangen in ihre jetzige Gestalt verwandelt hatten, waren sie aus ihren Hüllen geschlüpft und in einer Welt erwacht, die nicht zu ihren Erinnerungen passen wollte. Keine Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte waren vergangen, seit die letzten Drachen auf Erden gewandelt waren. Als missgestaltete Karikaturen ihrer selbst waren sie aus den Kokons gekrochen, und da sie nicht fliegen konnten, waren sie am sumpfigen Flussufer zwischen Wasser und dem undurchdringlichen Wald gefangen gewesen. Widerwillig hatten die Menschen ihnen geholfen, hatten ihnen Tierkadaver zum Fressen gebracht und ihre Anwesenheit geduldet, während sie darauf gelauert hatten, dass die Drachen entweder starben oder die Fähigkeit erlangten, fortzugehen. Jahrelang hatten sie, eingepfercht zwischen Fluss und Bäumen, Hunger gelitten, weil sie nur das Nötigste zum Überleben bekommen hatten.
Und dann hatte Mercor einen Plan ausgeheckt. Der Golddrache hatte die Mär einer halb vergessenen Stadt eines uralten Volks verbreitet, deren reiche Schätze ihrer Entdeckung harrten. Keiner der Drachen hatte dabei Gewissensbisse gehabt, entsprach doch die Erinnerung an Kelsingra, der Elderlingsstadt, deren große Gebäude auch Drachen Platz boten, der Wahrheit. Wenn man die Menschen mit Erzählungen über Berge blinkender Schätze locken konnte, dann erfand man diese eben dazu.
Und so war die Falle gestellt, das Gerücht gestreut, und nach einiger Zeit hatten die Menschen den Drachen angeboten, ihnen bei der Suche nach der verlorenen Elderlingsstadt Kelsingra zu helfen. Man stellte eine Expedition aus einem Kahn, mehreren Booten und einem Trupp Jäger zusammen. Dazu kamen Hüter, die sich um die Bedürfnisse der Drachen kümmern sollten, während die Reise flussaufwärts ging - zu einer Stadt, an die sich die Geschuppten nur noch in ihren Träumen einigermaßen deutlich erinnern konnten. Doch die schmutzigen kleinen Kaufleute, die in Cassarick das Sagen hatten, wählten dafür natürlich nicht ihre besten Leute aus. Nur zwei richtige Jäger hatten sie angeheuert, um über ein Dutzend Drachen zu ernähren. Die »Hüter«, die die Händler ausgesucht hatten, waren größtenteils Jugendliche und Außenseiter, die in den Augen der Regenwildleute besser nicht leben und sich schon gar nicht vermehren sollten. Denn die jungen Menschen waren mit Schuppen und Auswüchsen gezeichnet, was die anderen Regenwildleute nicht gerne sahen. Immerhin konnte man den Hütern zugutehalten, dass sie die Drachen folgsam und fleißig versorgten. Aber die Menschen besaßen keine Erinnerungen ihrer Vorfahren und schlitterten lediglich mit dem bisschen Wissen durchs Leben, das sie während ihrer kurzen Existenz aufgeschnappt hatten. Darum war es mühsam, sich mit ihnen zu unterhalten, auch wenn Sintara gar nicht erst die Absicht hatte, ein geistvolles Zwiegespräch mit ihnen zu führen. Ein schlichter Befehl wie »Bring mir Fleisch« wurde meist mit Gejammer beantwortet, weil es angeblich ach so schwer war, Wild zu finden - oder mit Fragen wie: »Hast du nicht vor einer Stunde erst etwas gegessen? « Als könnten solche Worte sie dazu bewegen, ihre Bedürfnisse zu überdenken.
Unter den Drachen war allein Sintara so weitsichtig, sich statt einem zwei Hüter als Diener zu halten. Das ältere Menschenweibchen, Alise, war als Jägerin nicht zu gebrauchen, aber sie war eifrig, wenn auch nicht allzu geschickt, um die Körperpflege der Drachin bemüht und begegnete ihr mit dem gebührenden Anstand und Respekt. Thymara dagegen, die Jüngere von beiden, war zwar die beste Jägerin unter den Hütern, aber sie besaß ein aufsässiges, widerspenstiges Wesen. Mit zwei Dienerinnen konnte Sintara sich einigermaßen darauf verlassen, dass stets eine zugegen war, wenn sie etwas brauchte, wenn auch nur für die kurze Zeit eines Menschenlebens. Das würde hoffentlich genügen.
Den größten Teil eines Mondzyklus waren die Drachen im flachen Wasser nahe dem dicht bewachsenen Ufer flussaufwärts gestapft. Der Waldrand entlang des Stroms war von Ranken und Kriechgewächsen und einem Gewirr aus ausladenden Wurzeln überwuchert, die es den Drachen unmöglich machten, sich trockenen Fußes fortzubewegen. Die Jäger ruderten voraus, die Hüter folgten in ihren Booten. Das Lebensschiff Teermann, ein langer, flacher Kahn, der nach Drachen und Zauberei roch, bildete den Abschluss. Mercor war ganz fasziniert von dem sogenannten »Zauberschiff «. Sintara und die meisten anderen Drachen dagegen fanden den Kahn beunruhigend und beinahe anstößig. Denn der Rumpf des Gefährts war aus Hexenholz, das eigentlich kein Holz war, sondern die Überreste des Kokons einer toten Seeschlange. Die Bretter, die man aus diesem »Holz« gewann, waren extrem hart und widerstandsfähig gegen Wind und Wetter. Die Menschen maßen dem Material einen großen Wert bei. Doch es roch nach dem Leib und den Erinnerungen eines Drachens. Wenn eine Seeschlange die Hülle wob, die sie beschützen sollte, während sie sich in einen Drachen verwandelte, fügte sie dem Gemisch aus Sand und Lehm, den sie mit ihrem Speichel hervorwürgte, auch ihre Erinnerungen hinzu. Deshalb war dieses Holz eine Ablagerung von Erinnerungen. Für Sintaras Geschmack sahen die auf den Schiffsrumpf gemalten Augen viel zu wissend drein, und Teermann bewegte sich viel müheloser gegen die Strömung als jeder herkömmliche Kahn. Sie machte stets einen Bogen um das Schiff und sprach kaum mit seinem Kapitän. Allerdings zeigte der Mann auch wenig Neigung, mit den Drachen zu reden. Kurz blieb dieser Gedanke in ihrem Geist hängen. Hatte er etwa einen Grund, ihnen aus dem Weg zu gehen? Im Gegensatz zu einigen anderen Menschen schien er von den Drachen nicht eingeschüchtert zu sein.
Oder abgestoßen. Da fiel ihr Sedric ein, und sie stieß ein höhnisches Schnauben aus. Der pingelige Händler aus Bingtown trottete hinter ihrer Hüterin Alise her, trug Stift und Papier bei sich, zeichnete Drachen und schrieb die bruchstückhaften Erkenntnisse auf, die Alise ihm diktierte. Denn er war von so schwachem Geiste, dass er die Drachen nicht einmal verstand, wenn sie ihn ansprachen. Wenn Sintara mit ihm redete, hörte er nur »Tiergeräusche«, die er unverschämterweise mit dem Muhen einer Kuh verglichen hatte! Nein, Kapitän Leftrin war ganz anders als Sedric. Er war weder taub für die Drachensprache, noch hielt er die Drachen seiner Aufmerksamkeit für unwürdig, wie es schien. Aber warum ging er ihnen aus dem Weg? Hatte er etwas zu verbergen?
Nun, er war ein Narr, wenn er glaubte, er könne einem Drachen etwas verheimlichen. Sie schob die kurze Sorge beiseite. Drachen vermochten den Geist eines Menschen so leicht zu durchschauen, wie eine Krähe einen Misthaufen durchstöberte. Sollte Leftrin oder irgendein anderer ein Geheimnis haben, sollte er es ruhig hüten. Die Menschen lebten so kurz, dass es kaum der Mühe wert war, einen von ihnen kennenzulernen. Elderlinge waren einst würdige Gefährten der Drachen gewesen. Denn sie hatten um einiges länger als Menschen gelebt, und sie waren klug genug gewesen, um zum Lob der Drachen Lieder und Gedichte zu verfassen. In ihrer Weisheit hatten sie die öffentlichen Gebäude und selbst einige ihrer Privatpaläste so errichtet, dass sie Drachen als Gäste empfangen konnten. Sintara erinnerte sich an gemästetes Vieh, an warme Zufluchtsstätten, wohin sich die Drachen vor dem Winter hatten zurückziehen können, an Bäder mit Duftöl, die das Jucken der Schuppen linderten, und viele andere Annehmlichkeiten, die die aufmerksamen Elderlinge für sie ersonnen hatten. Es war eine Schande, dass sie aus der Welt verschwunden waren. Jammerschade.
Sintara versuchte, sich Thymara als Elderling vorzustellen, aber es war ihr nicht möglich. Ihrer jungen Hüterin mangelte es an der rechten Einstellung gegenüber den Drachen. Sie war respektlos, trotzig und viel zu sehr mit ihrer Eintagsfliegenexistenz beschäftigt. Zwar besaß sie Temperament, konnte damit jedoch so gar nicht umgehen. Die ältere Hüterin, Alise, deren Elend und verborgene Unsicherheit Sintara auch jetzt deutlich spürte, war sogar noch weniger geeignet. Denn eine Elderlingsfrau brauchte etwas von der Entschlossenheit und dem Feuer einer Drachenkönigin. Hatte eine ihrer Dienerinnen wohl das Zeug dazu? Was wäre nötig, um sie aufzurütteln, ihren Eifer auf die Probe zu stellen? Lohnte es sich, sie herauszufordern, um zu sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren?
Etwas irritierte sie. Widerstrebend öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Sie rollte sich auf die Beine, schüttelte sich und legte sich wieder hin. Als sie den Kopf wieder ablegte, erregte eine Bewegung zwischen den hohen Binsen ihre Aufmerksamkeit. Wild? Sie richtete den Blick darauf. Nein. Nur zwei Hüter, die den Uferstreifen verließen und in den Wald gingen. Sintara erkannte sie. Die eine hieß Jerd und war die Hüterin von Veras. Für eine Menschenfrau war die Dienerin des Gründrachen hochgewachsen, und auf dem Scheitel wuchs ihr ein blonder Haarschopf. Thymara mochte Jerd nicht. So viel wusste Sintara, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Der andere war Greft. Sintara schnaubte leise durch die Nüstern, denn mit Kalos Hüter konnte sie wenig anfangen. Auch wenn Greft den blauschwarzen Hünen versorgte und blitzblank putzte, traute Kalo ihm doch nicht über den Weg. Bei Greft hatten alle Drachen ein ungutes Gefühl. Thymara fühlte sich zu ihm hingezogen und hatte gleichzeitig Angst vor ihm. Er faszinierte sie, und Thymara ärgerte sich über diese Faszination.
Sintara schnupperte, erhaschte die Witterung der beiden Hüter und ließ die Augen halb zufallen. Sie wusste, wohin sie unterwegs waren.
Da kam ihr ein verblüffender Gedanke. Plötzlich erkannte sie eine Möglichkeit, ihre beiden Hüterinnen auf die Probe zu stellen. Aber wäre es die Mühe wert? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Erneut streckte sie sich auf dem warmen Felsen aus und wünschte sich vergebens, sie läge auf einem sonnenheißen Sandstrand. Sie wartete.
Antwort erhielten. Mir ist bewusst, dass Ihr mit dem Vogelwart in Cassarick nicht auf bestem Fuß steht, aber vielleicht könntet Ihr Eure Beziehungen dieses eine Mal nutzen, um Nachrichten über Sedric Meldar oder Alise Kincarron Finbok zu erhalten. Die Finbok'sche kommt aus einer reichen Familie. Beruhigende Neuigkeiten dürften reichlich belohnt werden. Antwort erhielten. Mir ist bewusst, dass Ihr mit dem Vogelwart in Cassarick nicht auf bestem Fuß steht, aber vielleicht könntet Ihr Eure Beziehungen dieses eine Mal nutzen, um Nachrichten über Sedric Meldar oder Alise Kincarron Finbok zu erhalten. Die Finbok'sche kommt aus einer reichen Familie. Beruhigende Neuigkeiten dürften reichlich belohnt werden. Erek Fünfter Tag des Gebetsmonds IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS Von Erek, Vogelwart in Bingtown, an Detozi, Vogelwart in Trehaug Anbei eine Nachricht von Händler Polon Meldar an Sedric Meldar, in der er sich nach dessen Befinden und dem voraussichtlichen Datum seiner Rückkunft erkundigt. Detozi, anscheinend herrscht eine gewisse Besorgnis um das Wohlergehen einiger Bürger aus Bingtown, die eigentlich nur nach Cassarick reisen sollten, nun aber weiter flussaufwärts gezogen sind. Heute hatte ich Besuch von zwei besorgten Elternpaaren, die mir unabhängig voneinander eine Prämie versprachen, wenn sie schnell
Vergiftet
Der schmatzende graue Matsch zerrte an ihren Stiefeln und ließ sie nur langsam vorankommen. Alise musste zusehen, wie Leftrin sich von ihr entfernte und auf die zusammengedrängten Hüter zuging, während sie sich abmühte, ihre eingesunkenen Füße zu befreien und ihm zu folgen. »Eine Metapher für mein ganzes Leben«, grummelte sie ärgerlich und beschleunigte entschlossen ihre Schritte. Kurz darauf kam ihr der Gedanke, dass sie es noch vor wenigen Wochen nicht nur als ein Abenteuer, sondern eine regelrechte Herausforderung betrachtet hätte, das Flussufer zu überqueren. Heute war es nur ein morastiger Streifen Land, den es zu überwinden galt, und noch nicht einmal ein besonders schwieriger. »Ich verändere mich«, sagte sie vor sich hin. Ein Kribbeln überlief sie, als sie spürte, dass Himmelspranke ihr zustimmte.
Hörst du alle meine Gedanken?, fragte sie die Drachin, erhielt aber keine Antwort. Mit Unbehagen rätselte sie, ob Himmelspranke auch von ihrer Schwärmerei für Leftrin und den Einzelheiten ihrer unglücklichen Ehe wusste. Fast im selben Moment beschloss sie, diese Geheimnisse zu wahren, indem sie nicht mehr daran dachte. Dann merkte sie jedoch, wie zwecklos dies war. Kein Wunder haben die Drachen eine so schlechte Meinung von uns, wenn sie jeden unserer Gedanken lesen können.
Ich kann dir versichern, dass die meisten eurer Gedanken zu belanglos sind, als dass wir uns überhaupt eine Meinung darüber bilden. Himmelsprankes Antwort strömte in Alises Geist. Voll Bitterkeit fügte die Drachin hinzu: Mein wahrer Name ist Sintara. Nachdem Mercor ihn hinausposaunt hat und alle anderen ihn kennen, kann ich ihn dir auch verraten.
Es war aufregend, mit einem derart sagenhaften Wesen von Geist zu Geist zu sprechen. Alise wagte es mit einem Kompliment. Ich bin überglücklich, endlich deinen wahren Namen zu hören, Sintara. Sein herrlicher Klang ist deiner Schönheit würdig.
Steinernes Schweigen beantwortete ihren Gedanken. Sintara hörte sie sehr wohl, aber sie begegnete ihr mit Leere. Um diese zu überbrücken, stellte Alise erneut eine Frage. Was ist dem braunen Drachen geschehen? Ist er krank? Die Kupferdrachin ist bereits so aus ihrer Hülle geschlüpft, und sie hat zu lange überlebt, gab Sintara gefühllos zurück. Sie?
Behellige mich nicht weiter mit deinen Gedanken!
Alise hielt sich gerade noch zurück, bevor sie eine Entschuldigung dachte. Das hätte die Drachin nur noch mehr verärgert. Zudem war sie beinahe bei Leftrin angelangt. Die Gruppe der Hüter, die sich um den Braunen versammelt hatten, löste sich gerade wieder auf. Der große Golddrache und seine kleine Hüterin mit den rosafarbenen Schuppen blieben als Einzige zurück, als sie neben Leftrin trat. Bei ihrem Näherkommen hob der Golddrache den Kopf und richtete die funkelnden schwarzen Augen auf sie. Alise spürte, wie sein Blick sie zurückdrängte. Unvermittelt wandte Leftrin sich zu ihr um. »Mercor möchte, dass wir den Braunen alleine lassen«, sagte er.
»Aber der Arme braucht vielleicht unsere Hilfe. Hat jemand herausgefunden, was er hat? Oder sie?« Sie fragte sich, ob Sintara sich geirrt oder sie gar auf den Arm genommen hatte.
Zum ersten Mal richtete der Golddrache das Wort direkt an sie. Seine tiefe Stimme dröhnte wie Glockenschläge und ließ ihre Brust erbeben, während sie ihren Geist erfüllte. »Relpda leidet an Parasiten, die sie von innen heraus auffressen, und ein Räuber hat sie überfallen. Ich halte bei ihr Wache, damit gewiss niemand vergisst, dass Drachen immer noch die Angelegenheit von Drachen sind.« »Ein Räuber?« Alise war entsetzt.
»Geht«, befahl Mercor schroff. »Das hat euch nicht zu kümmern.«
»Kommt mit mir«, legte Leftrin ihr mit Nachdruck nahe. Der Kapitän reichte ihr den Arm, zog ihn dann aber abrupt zurück. Ihr wurde schwer ums Herz. Sedrics unglückselige Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Zweifellos hatte Sedric es für seine Pflicht gehalten, Leftrin daran zu erinnern, dass sie eine verheiratete Frau war. Nun, sein Tadel hatte den Schaden bereits angerichtet. Nie wieder würde es zwischen ihr und Leftrin so ungezwungen und entspannt sein. Sie würden beide immerzu daran denken, was schicklich war. Wenn Hest, ihr Gatte, plötzlich selbst bei ihnen aufgetaucht wäre, hätte sie seine Gegenwart auch nicht stärker empfinden können.
Noch hätte sie ihn mehr hassen können.
Das war ein Schock. Sie hasste ihren Ehemann?
Ihr war klar gewesen, dass er ihre Gefühle verletzte, dass er sie vernachlässigte und demütigte, dass sie verabscheute, wie er sie behandelte. Aber dass sie ihn hasste? Nie zuvor hatte sie sich gestattet, so über ihn zu denken, fiel ihr jetzt auf.
Hest war gut aussehend und gebildet, charmant und wohlerzogen. Gegenüber anderen. Sie durfte sein Geld nach ihrem eigenen Gutdünken ausgeben, solange sie ihn in Frieden ließ. Ihre Eltern glaubten, sie hätte eine gute Partie gemacht, und die meisten Frauen, die sie kannte, beneideten sie.
Und sie hasste ihn. Das war es also. Eine Zeit lang war sie schweigend neben Leftrin einhergegangen, bevor er sich räusperte und ihren Gedankengang unterbrach. »Verzeiht«, entschuldigte sie sich automatisch. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Ich glaube nicht, dass wir die Lage irgendwie ändern können«, sagte er traurig, und sie nickte, denn sie bezog seine Worte auf ihren inneren Aufruhr. Doch als er weitersprach, änderte sich die Bedeutung. »Ich glaube nicht, dass der Braunen noch irgendjemand helfen kann. Entweder sie überlebt es, oder sie stirbt. Und bis sie sich für das eine oder andere entscheidet, sitzen wir hier fest.« »Mir fällt es schwer, ein Weibchen in ihr zu sehen. Ihre Krankheit ist dann doppelt traurig. Es gibt nur so wenige weibliche Drachen. Mir ist es gleich. Mir ist es gleich, dass wir hier festsitzen, wollte ich sagen.« Sie wünschte sich, er würde ihr den Arm reichen. Sie hätte ihn sofort ergriffen.
Die Grenze zwischen Land und Wasser verschwamm. Der Morast wurde tiefer und nasser, bis er in den Fluss überging. Kurz vor den Wellen blieben sie stehen, und Alise spürte, wie ihre Stiefel einsanken. »Wir können wohl nirgendwohin entkommen, nehme ich an?«, sagte Leftrin.
Sie sah zurück. Der Uferstreifen war von niedergetrampeltem Gras bedeckt und wurde von einer Barriere aus Treibholz und Dickicht begrenzt. Dahinter begann der eigentliche Wald. Von ihrem Standort aus wirkte er undurchdringlich und unheimlich. »Wir könnten es mit dem Wald probieren«, hob sie an. Leftrin ließ ein tiefes freudloses Lachen hören. »Das habe ich nicht gemeint. Ich sprach von Euch und mir.«
Ihr Blick begegnete seinem. Sie war verblüfft, dass er es so unverblümt angesprochen hatte. Und dann entschied sie, dass Sedrics Einmischung vielleicht doch ein Gutes hatte, nämlich dass sie aufrichtig miteinander waren. Schließlich gab es für keinen von beiden mehr einen Grund, ihre Gefühle füreinander zu verschweigen. Sie wünschte sich den Mut, seine Hand zu ergreifen. Stattdessen sah sie ihm einfach ins Gesicht und hoffte, dass er in ihren Augen lesen konnte. Er konnte es und seufzte schwer.
»Alise. Was sollen wir tun?« Obwohl die Frage rhetorisch gemeint war, beschloss sie, darauf zu antworten.
Sie waren ein paar Schritte gegangen, bevor sie die richtigen Worte fand. Er sah beim Gehen zu Boden. Sie sah ihn von der Seite an, und mit ihren Worten gab sie alle Kontrolle auf, die ihr bisheriges Leben bestimmt hatte. »Ich möchte das tun, was Ihr tun möchtet.«
Sie beobachtete, wie das Gesagte bei ihm einsank. Eigentlich hatte sie erwartet, dass es wie ein Segen für ihn wäre, aber er nahm es wie eine Last auf. Sein Gesicht wurde sehr ruhig. Er hob den Blick. Vor ihnen lag der Kahn am Ufer und schien Leftrin mitleidsvoll anzublicken. Als er antwortete, galt das vielleicht nicht nur ihr, sondern auch dem Schiff. »Ich muss das tun, was richtig ist«, sagte er voller Bedauern. »Für uns beide«, fügte er hinzu, und sein Tonfall hatte etwas Endgültiges.
»Ich lasse mich nicht nach Bingtown zurückschippern!«
Er lächelte mit einem Mundwinkel. »Oh, das ist mir durchaus bewusst, meine Liebe. Niemand wird Euch irgendwohin schippern. Wenn Ihr irgendwohin geht, dann aus eigenem freiem Entschluss, oder Ihr geht nirgendwohin.«
»Nur, damit Euch das klar ist«, sagte sie und versuchte dabei, stark und unabhängig zu klingen. Sie griff nach seiner schwieligen Hand, umfasste sie fest und spürte ihre Rauheit und Kraft. Wie zur Antwort drückte er behutsam die ihre. Dann ließ er sie los.
Der Tag schien wie eingetrübt. Sedric schloss die Augen und öffnete sie wieder. Doch es half nichts. Schwindel erfasste ihn, und er hielt sich an der Wand seiner Kammer fest. Unter seinen Füßen schien der Kahn zu schwanken, obwohl er wusste, dass das Schiff am Ufer lag. Wo war nur der verdammte Türgriff? Er konnte ihn nirgends entdecken. Flach atmend lehnte er sich gegen die Wand und kämpfte gegen den Brechreiz an.
»Fehlt Euch etwas?«, erklang an seinem Ellbogen eine tiefe Stimme, die ihm nicht unbekannt war. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Gedanken zu ordnen. Carson, der Jäger. Der mit dem rotblonden Vollbart. Dem gehörte die Stimme.
Sedric holte vorsichtig Luft. »Ich weiß nicht. Ist etwas mit dem Licht? Mir scheint es so düster zu sein.«
»Heute ist ein strahlender Tag, Mann. So hell, dass ich nicht lange auf die Wellen schauen kann.« Die Stimme klang besorgt. Warum? Er kannte den Jäger kaum.
»Mir kommt es dämmrig vor.« Sedric bemühte sich, normal zu reden, aber er hörte die eigene Stimme nur schwach und wie aus weiter Ferne.
»Eure Pupillen sind so klein wie Stecknadelköpfe. Hier. Nehmt meine Hand. Dann legen wir Euch auf Deck.«
© 2012 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2012
Die Menschen waren in Aufruhr. Sintara spürte das penetrante Hin und Her ihrer Gedanken, lästig wie ein Schwarm Stechmücken. Die Drachin fragte sich, wie die Menschen überhaupt hatten überleben können, wenn sie ihre Gedanken nicht für sich behalten konnten. Die Ironie dabei war, dass sie weder die Kraft noch den Verstand hatten, die Gedanken ihrer Artgenossen zu verstehen. Und das obwohl sie keine Grille, die ihnen im Kopf herumspukte, für sich behalten konnten. Torkelnd stolperten sie durch ihr kurzes Leben und verstanden dabei weder Ihresgleichen noch sonst ein Wesen auf der Welt. Welch ein Schock war für Sintara die Erkenntnis gewesen, dass die Menschen keine andere Möglichkeit der Verständigung hatten, als Laute auszustoßen und anschließend, wenn das Gegenüber antwortete, zu raten, was es mit seinen Lauten wohl meinte. »Sprechen« nannten sie das. Kurz verzichtete sie darauf, das Bombardement an kreischenden Stimmen auszublenden, um herauszufinden, was die Drachenhüter derart in Aufruhr versetzt hatte. Wie üblich waren ihre Sorgen völlig unzusammenhängend. Einige fürchteten um die kranke Kupferdrachin - als ob sie ihr in irgendeiner Weise helfen konnten. Sintara fragte sich, warum sie um die sieche Kupferne herumscharwenzelten, anstatt ihren Pflichten gegenüber den anderen Drachen nachzukommen. Sie hatte Hunger, und heute hatte ihr niemand etwas gebracht. Noch nicht einmal einen Fisch.
Lustlos stapfte sie zum Fluss hinab. Doch es gab nicht viel zu sehen außer einem Streifen Kies und Schlick, Schilf und ein paar dürren Schösslingen. Ein paar matte Sonnenstrahlen fielen ihr auf den Rücken, spendeten aber kaum Wärme. Keinerlei Wild trieb sich hier herum. Vielleicht gab es ein paar Fische, aber die Anstrengung, die nötig war, um einen zu fangen, war das kurze Vergnügen, ihn zu fressen, nicht wert. Wenn ihr allerdings jemand einen Fisch brächte ...
Sie dachte daran, Thymara zu rufen und ihr aufzutragen, für sie auf die Jagd zu gehen. Nach dem, was Sintara von den Hütern gehört hatte, würden sie wohl so lange an diesem verlassenen Ufer verharren, bis der Kupferdrache entweder wieder auf den Beinen oder tot war. Sollte der Rote sterben, gäbe es eine ordentliche Mahlzeit für den Drachen, der als Erster zur Stelle war. Aber das wäre Mercor, fiel ihr mit einiger Bitterkeit ein. Der Golddrache hielt Wache. Sintara spürte, dass er Gefahr für den Kupfernen argwöhnte. Doch hütete er seine Gedanken und ließ weder die Drachen noch die Hüter wissen, was er dachte. Das allein schon ließ Sintara stutzig werden.
Wäre sie nicht so wütend auf ihn gewesen, hätte sie ihn rundheraus gefragt, welche Gefahr er fürchtete. Aber er hatte den Hütern ihren wahren Namen verraten, ohne dass sie ihn gereizt hatte. Nicht nur Thymara und Alise, ihren eigenen Hütern, hatte er ihn verraten, was schlimm genug gewesen wäre. Nein, er hatte ihren Namen hinausposaunt, als wäre das sein gutes Recht. Dass er und die meisten anderen Drachen beschlossen hatten, ihren Hütern ihren wahren Namen anzuvertrauen, war ihr völlig egal. Mochten sie ruhig so blauäugig und vertrauensselig sein, das kümmerte sie nicht. Sie mischte sich nicht in die Angelegenheiten zwischen Mercor und seiner Hüterin. Wieso aber hatte er sich dann die Freiheit genommen, ihre Beziehung zu Thymara ins Ungleichgewicht zu bringen? Jetzt, da das Mädchen ihren wahren Namen kannte, blieb Sintara nur zu hoffen, dass es mit diesem Wissen nichts anzufangen wusste. Kein Drache vermochte zu lügen, wenn jemand mit seinem wahren Namen die Wahrheit beschwor oder den Namen bei einer Frage richtig einsetzte. Gewiss vermochte der Drache die Antwort zu verweigern, aber er konnte nicht lügen. Genauso wenig war ein Drache in der Lage, eine Abmachung zu brechen, die er mit seinem wahren Namen geschlossen hatte. Mercor hatte diesem Menschlein mit der Lebensspanne eines Fischs eine unverschämte Machtfülle verliehen.
Sintara fand am Fluss eine freie Stelle und legte sich auf die von der Sonne gewärmten Steine, schloss die Augen und seufzte. Sollte sie schlafen? Nein. Auf dem kühlen Grund zu schlummern, war nicht sonderlich verlockend.
Widerwillig öffnete sie erneut ihren Geist, um zu erfahren, was die Menschen vorhatten. Jemand jammerte, weil er Blut an den Händen hatte. Die ältere ihrer beiden Hüterinnen war innerlich zerrissen, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie zu ihrem Ehemann zurückkehren und ihr Leben in Langeweile beschließen oder mit dem Kapitän des Schiffs schlafen sollte. Sintara stieß ein angewidertes Brummen aus. Da gab es überhaupt nichts zu entscheiden. Alise zerbrach sich den Kopf über Kinkerlitzchen. Es spielte keine Rolle, was sie tat, genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, wo sich eine Fliege hinsetzte. Das Leben eines Menschen war lächerlich kurz. Vielleicht veranstalteten sie deshalb einen solchen Lärm, solange sie am Leben waren. Vielleicht war dies ihre einzige Möglichkeit, sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern.
Gewiss gaben auch Drachen Laute von sich, aber sie waren nicht auf diese Laute angewiesen, um ihre Gedanken auszudrücken. Klang und Lautäußerungen waren nützlich, um das Wirrwarr eines menschlichen Geistes zu durchdringen und die Aufmerksamkeit anderer Drachen zu erlangen. Klang war nützlich, um einen Menschen überhaupt einmal dazu zu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was man ihm sagen wollte. Die Geräusche der Menschen hätten Sintara gar nicht so sehr gestört, wenn die Gedanken dieser Wesen nicht derart hervorsprudeln würden, während sie zur gleichen Zeit versuchten, die Bedeutung durch das Gekreische zu vermitteln. Manchmal war dieses zweifache Ärgernis so groß, dass sie sich wünschte, diese Kreaturen ein für alle Mal fressen zu können.
Sie verschaffte ihrem Unmut mit einem leisen Grollen Luft. Die Menschen waren nutzlose Plagegeister, und doch hatte das Schicksal es gefügt, dass die Drachen abhängig von ihnen waren. Nachdem die Drachen sich aus Seeschlangen in ihre jetzige Gestalt verwandelt hatten, waren sie aus ihren Hüllen geschlüpft und in einer Welt erwacht, die nicht zu ihren Erinnerungen passen wollte. Keine Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte waren vergangen, seit die letzten Drachen auf Erden gewandelt waren. Als missgestaltete Karikaturen ihrer selbst waren sie aus den Kokons gekrochen, und da sie nicht fliegen konnten, waren sie am sumpfigen Flussufer zwischen Wasser und dem undurchdringlichen Wald gefangen gewesen. Widerwillig hatten die Menschen ihnen geholfen, hatten ihnen Tierkadaver zum Fressen gebracht und ihre Anwesenheit geduldet, während sie darauf gelauert hatten, dass die Drachen entweder starben oder die Fähigkeit erlangten, fortzugehen. Jahrelang hatten sie, eingepfercht zwischen Fluss und Bäumen, Hunger gelitten, weil sie nur das Nötigste zum Überleben bekommen hatten.
Und dann hatte Mercor einen Plan ausgeheckt. Der Golddrache hatte die Mär einer halb vergessenen Stadt eines uralten Volks verbreitet, deren reiche Schätze ihrer Entdeckung harrten. Keiner der Drachen hatte dabei Gewissensbisse gehabt, entsprach doch die Erinnerung an Kelsingra, der Elderlingsstadt, deren große Gebäude auch Drachen Platz boten, der Wahrheit. Wenn man die Menschen mit Erzählungen über Berge blinkender Schätze locken konnte, dann erfand man diese eben dazu.
Und so war die Falle gestellt, das Gerücht gestreut, und nach einiger Zeit hatten die Menschen den Drachen angeboten, ihnen bei der Suche nach der verlorenen Elderlingsstadt Kelsingra zu helfen. Man stellte eine Expedition aus einem Kahn, mehreren Booten und einem Trupp Jäger zusammen. Dazu kamen Hüter, die sich um die Bedürfnisse der Drachen kümmern sollten, während die Reise flussaufwärts ging - zu einer Stadt, an die sich die Geschuppten nur noch in ihren Träumen einigermaßen deutlich erinnern konnten. Doch die schmutzigen kleinen Kaufleute, die in Cassarick das Sagen hatten, wählten dafür natürlich nicht ihre besten Leute aus. Nur zwei richtige Jäger hatten sie angeheuert, um über ein Dutzend Drachen zu ernähren. Die »Hüter«, die die Händler ausgesucht hatten, waren größtenteils Jugendliche und Außenseiter, die in den Augen der Regenwildleute besser nicht leben und sich schon gar nicht vermehren sollten. Denn die jungen Menschen waren mit Schuppen und Auswüchsen gezeichnet, was die anderen Regenwildleute nicht gerne sahen. Immerhin konnte man den Hütern zugutehalten, dass sie die Drachen folgsam und fleißig versorgten. Aber die Menschen besaßen keine Erinnerungen ihrer Vorfahren und schlitterten lediglich mit dem bisschen Wissen durchs Leben, das sie während ihrer kurzen Existenz aufgeschnappt hatten. Darum war es mühsam, sich mit ihnen zu unterhalten, auch wenn Sintara gar nicht erst die Absicht hatte, ein geistvolles Zwiegespräch mit ihnen zu führen. Ein schlichter Befehl wie »Bring mir Fleisch« wurde meist mit Gejammer beantwortet, weil es angeblich ach so schwer war, Wild zu finden - oder mit Fragen wie: »Hast du nicht vor einer Stunde erst etwas gegessen? « Als könnten solche Worte sie dazu bewegen, ihre Bedürfnisse zu überdenken.
Unter den Drachen war allein Sintara so weitsichtig, sich statt einem zwei Hüter als Diener zu halten. Das ältere Menschenweibchen, Alise, war als Jägerin nicht zu gebrauchen, aber sie war eifrig, wenn auch nicht allzu geschickt, um die Körperpflege der Drachin bemüht und begegnete ihr mit dem gebührenden Anstand und Respekt. Thymara dagegen, die Jüngere von beiden, war zwar die beste Jägerin unter den Hütern, aber sie besaß ein aufsässiges, widerspenstiges Wesen. Mit zwei Dienerinnen konnte Sintara sich einigermaßen darauf verlassen, dass stets eine zugegen war, wenn sie etwas brauchte, wenn auch nur für die kurze Zeit eines Menschenlebens. Das würde hoffentlich genügen.
Den größten Teil eines Mondzyklus waren die Drachen im flachen Wasser nahe dem dicht bewachsenen Ufer flussaufwärts gestapft. Der Waldrand entlang des Stroms war von Ranken und Kriechgewächsen und einem Gewirr aus ausladenden Wurzeln überwuchert, die es den Drachen unmöglich machten, sich trockenen Fußes fortzubewegen. Die Jäger ruderten voraus, die Hüter folgten in ihren Booten. Das Lebensschiff Teermann, ein langer, flacher Kahn, der nach Drachen und Zauberei roch, bildete den Abschluss. Mercor war ganz fasziniert von dem sogenannten »Zauberschiff «. Sintara und die meisten anderen Drachen dagegen fanden den Kahn beunruhigend und beinahe anstößig. Denn der Rumpf des Gefährts war aus Hexenholz, das eigentlich kein Holz war, sondern die Überreste des Kokons einer toten Seeschlange. Die Bretter, die man aus diesem »Holz« gewann, waren extrem hart und widerstandsfähig gegen Wind und Wetter. Die Menschen maßen dem Material einen großen Wert bei. Doch es roch nach dem Leib und den Erinnerungen eines Drachens. Wenn eine Seeschlange die Hülle wob, die sie beschützen sollte, während sie sich in einen Drachen verwandelte, fügte sie dem Gemisch aus Sand und Lehm, den sie mit ihrem Speichel hervorwürgte, auch ihre Erinnerungen hinzu. Deshalb war dieses Holz eine Ablagerung von Erinnerungen. Für Sintaras Geschmack sahen die auf den Schiffsrumpf gemalten Augen viel zu wissend drein, und Teermann bewegte sich viel müheloser gegen die Strömung als jeder herkömmliche Kahn. Sie machte stets einen Bogen um das Schiff und sprach kaum mit seinem Kapitän. Allerdings zeigte der Mann auch wenig Neigung, mit den Drachen zu reden. Kurz blieb dieser Gedanke in ihrem Geist hängen. Hatte er etwa einen Grund, ihnen aus dem Weg zu gehen? Im Gegensatz zu einigen anderen Menschen schien er von den Drachen nicht eingeschüchtert zu sein.
Oder abgestoßen. Da fiel ihr Sedric ein, und sie stieß ein höhnisches Schnauben aus. Der pingelige Händler aus Bingtown trottete hinter ihrer Hüterin Alise her, trug Stift und Papier bei sich, zeichnete Drachen und schrieb die bruchstückhaften Erkenntnisse auf, die Alise ihm diktierte. Denn er war von so schwachem Geiste, dass er die Drachen nicht einmal verstand, wenn sie ihn ansprachen. Wenn Sintara mit ihm redete, hörte er nur »Tiergeräusche«, die er unverschämterweise mit dem Muhen einer Kuh verglichen hatte! Nein, Kapitän Leftrin war ganz anders als Sedric. Er war weder taub für die Drachensprache, noch hielt er die Drachen seiner Aufmerksamkeit für unwürdig, wie es schien. Aber warum ging er ihnen aus dem Weg? Hatte er etwas zu verbergen?
Nun, er war ein Narr, wenn er glaubte, er könne einem Drachen etwas verheimlichen. Sie schob die kurze Sorge beiseite. Drachen vermochten den Geist eines Menschen so leicht zu durchschauen, wie eine Krähe einen Misthaufen durchstöberte. Sollte Leftrin oder irgendein anderer ein Geheimnis haben, sollte er es ruhig hüten. Die Menschen lebten so kurz, dass es kaum der Mühe wert war, einen von ihnen kennenzulernen. Elderlinge waren einst würdige Gefährten der Drachen gewesen. Denn sie hatten um einiges länger als Menschen gelebt, und sie waren klug genug gewesen, um zum Lob der Drachen Lieder und Gedichte zu verfassen. In ihrer Weisheit hatten sie die öffentlichen Gebäude und selbst einige ihrer Privatpaläste so errichtet, dass sie Drachen als Gäste empfangen konnten. Sintara erinnerte sich an gemästetes Vieh, an warme Zufluchtsstätten, wohin sich die Drachen vor dem Winter hatten zurückziehen können, an Bäder mit Duftöl, die das Jucken der Schuppen linderten, und viele andere Annehmlichkeiten, die die aufmerksamen Elderlinge für sie ersonnen hatten. Es war eine Schande, dass sie aus der Welt verschwunden waren. Jammerschade.
Sintara versuchte, sich Thymara als Elderling vorzustellen, aber es war ihr nicht möglich. Ihrer jungen Hüterin mangelte es an der rechten Einstellung gegenüber den Drachen. Sie war respektlos, trotzig und viel zu sehr mit ihrer Eintagsfliegenexistenz beschäftigt. Zwar besaß sie Temperament, konnte damit jedoch so gar nicht umgehen. Die ältere Hüterin, Alise, deren Elend und verborgene Unsicherheit Sintara auch jetzt deutlich spürte, war sogar noch weniger geeignet. Denn eine Elderlingsfrau brauchte etwas von der Entschlossenheit und dem Feuer einer Drachenkönigin. Hatte eine ihrer Dienerinnen wohl das Zeug dazu? Was wäre nötig, um sie aufzurütteln, ihren Eifer auf die Probe zu stellen? Lohnte es sich, sie herauszufordern, um zu sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren?
Etwas irritierte sie. Widerstrebend öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Sie rollte sich auf die Beine, schüttelte sich und legte sich wieder hin. Als sie den Kopf wieder ablegte, erregte eine Bewegung zwischen den hohen Binsen ihre Aufmerksamkeit. Wild? Sie richtete den Blick darauf. Nein. Nur zwei Hüter, die den Uferstreifen verließen und in den Wald gingen. Sintara erkannte sie. Die eine hieß Jerd und war die Hüterin von Veras. Für eine Menschenfrau war die Dienerin des Gründrachen hochgewachsen, und auf dem Scheitel wuchs ihr ein blonder Haarschopf. Thymara mochte Jerd nicht. So viel wusste Sintara, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Der andere war Greft. Sintara schnaubte leise durch die Nüstern, denn mit Kalos Hüter konnte sie wenig anfangen. Auch wenn Greft den blauschwarzen Hünen versorgte und blitzblank putzte, traute Kalo ihm doch nicht über den Weg. Bei Greft hatten alle Drachen ein ungutes Gefühl. Thymara fühlte sich zu ihm hingezogen und hatte gleichzeitig Angst vor ihm. Er faszinierte sie, und Thymara ärgerte sich über diese Faszination.
Sintara schnupperte, erhaschte die Witterung der beiden Hüter und ließ die Augen halb zufallen. Sie wusste, wohin sie unterwegs waren.
Da kam ihr ein verblüffender Gedanke. Plötzlich erkannte sie eine Möglichkeit, ihre beiden Hüterinnen auf die Probe zu stellen. Aber wäre es die Mühe wert? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Erneut streckte sie sich auf dem warmen Felsen aus und wünschte sich vergebens, sie läge auf einem sonnenheißen Sandstrand. Sie wartete.
Antwort erhielten. Mir ist bewusst, dass Ihr mit dem Vogelwart in Cassarick nicht auf bestem Fuß steht, aber vielleicht könntet Ihr Eure Beziehungen dieses eine Mal nutzen, um Nachrichten über Sedric Meldar oder Alise Kincarron Finbok zu erhalten. Die Finbok'sche kommt aus einer reichen Familie. Beruhigende Neuigkeiten dürften reichlich belohnt werden. Antwort erhielten. Mir ist bewusst, dass Ihr mit dem Vogelwart in Cassarick nicht auf bestem Fuß steht, aber vielleicht könntet Ihr Eure Beziehungen dieses eine Mal nutzen, um Nachrichten über Sedric Meldar oder Alise Kincarron Finbok zu erhalten. Die Finbok'sche kommt aus einer reichen Familie. Beruhigende Neuigkeiten dürften reichlich belohnt werden. Erek Fünfter Tag des Gebetsmonds IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS Von Erek, Vogelwart in Bingtown, an Detozi, Vogelwart in Trehaug Anbei eine Nachricht von Händler Polon Meldar an Sedric Meldar, in der er sich nach dessen Befinden und dem voraussichtlichen Datum seiner Rückkunft erkundigt. Detozi, anscheinend herrscht eine gewisse Besorgnis um das Wohlergehen einiger Bürger aus Bingtown, die eigentlich nur nach Cassarick reisen sollten, nun aber weiter flussaufwärts gezogen sind. Heute hatte ich Besuch von zwei besorgten Elternpaaren, die mir unabhängig voneinander eine Prämie versprachen, wenn sie schnell
Vergiftet
Der schmatzende graue Matsch zerrte an ihren Stiefeln und ließ sie nur langsam vorankommen. Alise musste zusehen, wie Leftrin sich von ihr entfernte und auf die zusammengedrängten Hüter zuging, während sie sich abmühte, ihre eingesunkenen Füße zu befreien und ihm zu folgen. »Eine Metapher für mein ganzes Leben«, grummelte sie ärgerlich und beschleunigte entschlossen ihre Schritte. Kurz darauf kam ihr der Gedanke, dass sie es noch vor wenigen Wochen nicht nur als ein Abenteuer, sondern eine regelrechte Herausforderung betrachtet hätte, das Flussufer zu überqueren. Heute war es nur ein morastiger Streifen Land, den es zu überwinden galt, und noch nicht einmal ein besonders schwieriger. »Ich verändere mich«, sagte sie vor sich hin. Ein Kribbeln überlief sie, als sie spürte, dass Himmelspranke ihr zustimmte.
Hörst du alle meine Gedanken?, fragte sie die Drachin, erhielt aber keine Antwort. Mit Unbehagen rätselte sie, ob Himmelspranke auch von ihrer Schwärmerei für Leftrin und den Einzelheiten ihrer unglücklichen Ehe wusste. Fast im selben Moment beschloss sie, diese Geheimnisse zu wahren, indem sie nicht mehr daran dachte. Dann merkte sie jedoch, wie zwecklos dies war. Kein Wunder haben die Drachen eine so schlechte Meinung von uns, wenn sie jeden unserer Gedanken lesen können.
Ich kann dir versichern, dass die meisten eurer Gedanken zu belanglos sind, als dass wir uns überhaupt eine Meinung darüber bilden. Himmelsprankes Antwort strömte in Alises Geist. Voll Bitterkeit fügte die Drachin hinzu: Mein wahrer Name ist Sintara. Nachdem Mercor ihn hinausposaunt hat und alle anderen ihn kennen, kann ich ihn dir auch verraten.
Es war aufregend, mit einem derart sagenhaften Wesen von Geist zu Geist zu sprechen. Alise wagte es mit einem Kompliment. Ich bin überglücklich, endlich deinen wahren Namen zu hören, Sintara. Sein herrlicher Klang ist deiner Schönheit würdig.
Steinernes Schweigen beantwortete ihren Gedanken. Sintara hörte sie sehr wohl, aber sie begegnete ihr mit Leere. Um diese zu überbrücken, stellte Alise erneut eine Frage. Was ist dem braunen Drachen geschehen? Ist er krank? Die Kupferdrachin ist bereits so aus ihrer Hülle geschlüpft, und sie hat zu lange überlebt, gab Sintara gefühllos zurück. Sie?
Behellige mich nicht weiter mit deinen Gedanken!
Alise hielt sich gerade noch zurück, bevor sie eine Entschuldigung dachte. Das hätte die Drachin nur noch mehr verärgert. Zudem war sie beinahe bei Leftrin angelangt. Die Gruppe der Hüter, die sich um den Braunen versammelt hatten, löste sich gerade wieder auf. Der große Golddrache und seine kleine Hüterin mit den rosafarbenen Schuppen blieben als Einzige zurück, als sie neben Leftrin trat. Bei ihrem Näherkommen hob der Golddrache den Kopf und richtete die funkelnden schwarzen Augen auf sie. Alise spürte, wie sein Blick sie zurückdrängte. Unvermittelt wandte Leftrin sich zu ihr um. »Mercor möchte, dass wir den Braunen alleine lassen«, sagte er.
»Aber der Arme braucht vielleicht unsere Hilfe. Hat jemand herausgefunden, was er hat? Oder sie?« Sie fragte sich, ob Sintara sich geirrt oder sie gar auf den Arm genommen hatte.
Zum ersten Mal richtete der Golddrache das Wort direkt an sie. Seine tiefe Stimme dröhnte wie Glockenschläge und ließ ihre Brust erbeben, während sie ihren Geist erfüllte. »Relpda leidet an Parasiten, die sie von innen heraus auffressen, und ein Räuber hat sie überfallen. Ich halte bei ihr Wache, damit gewiss niemand vergisst, dass Drachen immer noch die Angelegenheit von Drachen sind.« »Ein Räuber?« Alise war entsetzt.
»Geht«, befahl Mercor schroff. »Das hat euch nicht zu kümmern.«
»Kommt mit mir«, legte Leftrin ihr mit Nachdruck nahe. Der Kapitän reichte ihr den Arm, zog ihn dann aber abrupt zurück. Ihr wurde schwer ums Herz. Sedrics unglückselige Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Zweifellos hatte Sedric es für seine Pflicht gehalten, Leftrin daran zu erinnern, dass sie eine verheiratete Frau war. Nun, sein Tadel hatte den Schaden bereits angerichtet. Nie wieder würde es zwischen ihr und Leftrin so ungezwungen und entspannt sein. Sie würden beide immerzu daran denken, was schicklich war. Wenn Hest, ihr Gatte, plötzlich selbst bei ihnen aufgetaucht wäre, hätte sie seine Gegenwart auch nicht stärker empfinden können.
Noch hätte sie ihn mehr hassen können.
Das war ein Schock. Sie hasste ihren Ehemann?
Ihr war klar gewesen, dass er ihre Gefühle verletzte, dass er sie vernachlässigte und demütigte, dass sie verabscheute, wie er sie behandelte. Aber dass sie ihn hasste? Nie zuvor hatte sie sich gestattet, so über ihn zu denken, fiel ihr jetzt auf.
Hest war gut aussehend und gebildet, charmant und wohlerzogen. Gegenüber anderen. Sie durfte sein Geld nach ihrem eigenen Gutdünken ausgeben, solange sie ihn in Frieden ließ. Ihre Eltern glaubten, sie hätte eine gute Partie gemacht, und die meisten Frauen, die sie kannte, beneideten sie.
Und sie hasste ihn. Das war es also. Eine Zeit lang war sie schweigend neben Leftrin einhergegangen, bevor er sich räusperte und ihren Gedankengang unterbrach. »Verzeiht«, entschuldigte sie sich automatisch. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Ich glaube nicht, dass wir die Lage irgendwie ändern können«, sagte er traurig, und sie nickte, denn sie bezog seine Worte auf ihren inneren Aufruhr. Doch als er weitersprach, änderte sich die Bedeutung. »Ich glaube nicht, dass der Braunen noch irgendjemand helfen kann. Entweder sie überlebt es, oder sie stirbt. Und bis sie sich für das eine oder andere entscheidet, sitzen wir hier fest.« »Mir fällt es schwer, ein Weibchen in ihr zu sehen. Ihre Krankheit ist dann doppelt traurig. Es gibt nur so wenige weibliche Drachen. Mir ist es gleich. Mir ist es gleich, dass wir hier festsitzen, wollte ich sagen.« Sie wünschte sich, er würde ihr den Arm reichen. Sie hätte ihn sofort ergriffen.
Die Grenze zwischen Land und Wasser verschwamm. Der Morast wurde tiefer und nasser, bis er in den Fluss überging. Kurz vor den Wellen blieben sie stehen, und Alise spürte, wie ihre Stiefel einsanken. »Wir können wohl nirgendwohin entkommen, nehme ich an?«, sagte Leftrin.
Sie sah zurück. Der Uferstreifen war von niedergetrampeltem Gras bedeckt und wurde von einer Barriere aus Treibholz und Dickicht begrenzt. Dahinter begann der eigentliche Wald. Von ihrem Standort aus wirkte er undurchdringlich und unheimlich. »Wir könnten es mit dem Wald probieren«, hob sie an. Leftrin ließ ein tiefes freudloses Lachen hören. »Das habe ich nicht gemeint. Ich sprach von Euch und mir.«
Ihr Blick begegnete seinem. Sie war verblüfft, dass er es so unverblümt angesprochen hatte. Und dann entschied sie, dass Sedrics Einmischung vielleicht doch ein Gutes hatte, nämlich dass sie aufrichtig miteinander waren. Schließlich gab es für keinen von beiden mehr einen Grund, ihre Gefühle füreinander zu verschweigen. Sie wünschte sich den Mut, seine Hand zu ergreifen. Stattdessen sah sie ihm einfach ins Gesicht und hoffte, dass er in ihren Augen lesen konnte. Er konnte es und seufzte schwer.
»Alise. Was sollen wir tun?« Obwohl die Frage rhetorisch gemeint war, beschloss sie, darauf zu antworten.
Sie waren ein paar Schritte gegangen, bevor sie die richtigen Worte fand. Er sah beim Gehen zu Boden. Sie sah ihn von der Seite an, und mit ihren Worten gab sie alle Kontrolle auf, die ihr bisheriges Leben bestimmt hatte. »Ich möchte das tun, was Ihr tun möchtet.«
Sie beobachtete, wie das Gesagte bei ihm einsank. Eigentlich hatte sie erwartet, dass es wie ein Segen für ihn wäre, aber er nahm es wie eine Last auf. Sein Gesicht wurde sehr ruhig. Er hob den Blick. Vor ihnen lag der Kahn am Ufer und schien Leftrin mitleidsvoll anzublicken. Als er antwortete, galt das vielleicht nicht nur ihr, sondern auch dem Schiff. »Ich muss das tun, was richtig ist«, sagte er voller Bedauern. »Für uns beide«, fügte er hinzu, und sein Tonfall hatte etwas Endgültiges.
»Ich lasse mich nicht nach Bingtown zurückschippern!«
Er lächelte mit einem Mundwinkel. »Oh, das ist mir durchaus bewusst, meine Liebe. Niemand wird Euch irgendwohin schippern. Wenn Ihr irgendwohin geht, dann aus eigenem freiem Entschluss, oder Ihr geht nirgendwohin.«
»Nur, damit Euch das klar ist«, sagte sie und versuchte dabei, stark und unabhängig zu klingen. Sie griff nach seiner schwieligen Hand, umfasste sie fest und spürte ihre Rauheit und Kraft. Wie zur Antwort drückte er behutsam die ihre. Dann ließ er sie los.
Der Tag schien wie eingetrübt. Sedric schloss die Augen und öffnete sie wieder. Doch es half nichts. Schwindel erfasste ihn, und er hielt sich an der Wand seiner Kammer fest. Unter seinen Füßen schien der Kahn zu schwanken, obwohl er wusste, dass das Schiff am Ufer lag. Wo war nur der verdammte Türgriff? Er konnte ihn nirgends entdecken. Flach atmend lehnte er sich gegen die Wand und kämpfte gegen den Brechreiz an.
»Fehlt Euch etwas?«, erklang an seinem Ellbogen eine tiefe Stimme, die ihm nicht unbekannt war. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Gedanken zu ordnen. Carson, der Jäger. Der mit dem rotblonden Vollbart. Dem gehörte die Stimme.
Sedric holte vorsichtig Luft. »Ich weiß nicht. Ist etwas mit dem Licht? Mir scheint es so düster zu sein.«
»Heute ist ein strahlender Tag, Mann. So hell, dass ich nicht lange auf die Wellen schauen kann.« Die Stimme klang besorgt. Warum? Er kannte den Jäger kaum.
»Mir kommt es dämmrig vor.« Sedric bemühte sich, normal zu reden, aber er hörte die eigene Stimme nur schwach und wie aus weiter Ferne.
»Eure Pupillen sind so klein wie Stecknadelköpfe. Hier. Nehmt meine Hand. Dann legen wir Euch auf Deck.«
© 2012 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2012
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Autoren-Porträt von Robin Hobb
Robin Hobb ist das Pseudonym einer erfahrenen Autorin, die große Erfolge auf dem Gebiet der phantastischen Abenteuerliteratur erzielte. Sie lebt und arbeitet mit ihrem Mann und vier Kindern im US-Bundesstaat Washington
Bibliographische Angaben
- Autor: Robin Hobb
- 2012, 701 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Weinert, Simon
- Übersetzer: Simon Weinert
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453529332
- ISBN-13: 9783453529335
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