Draußen
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Draußen von Susanna Tamaro
LESEPROBE
Was sagt der Wind?
Nabila konnte sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie sich nicht vorder Dunkelheit gefürchtet hätte. Ihre Geschwister machten sich deswegen immerüber sie lustig: Kaum wurde es ein wenig dämmrig, kniffen sie Nabila von hintenin den Arm oder Rücken oder miauten in einer Ecke wie wilde Katzen, um dannherauszuspringen und zu rufen: »Hier ist das Ungeheuer, hier knirscht der Dämonmit den Zähnen!«
Über diese Scherze hatte Nabila nie lachen können. Sie schrie erschrocken aufund brach im Dunkeln in Tränen aus.So verhielt sie sich, als sie fünf war, undmit zehn hatte es sich kein bisschen geändert.
Als sie zwölf war, brachte ihre Mutter sie zu einer alten Frau im Dorf, diesich mit solchen Dingen auskannte.
Die Alte wollte alle Einzelheiten über ihre Geburt wissen: Wann hatte siestattgefunden, am Tag oder in der Nacht? Hatte man während der Wehenirgendwelche sonderbaren Laute gehört? War eine Fledermaus oder ein ähnlichesTier ins Zimmer eingedrungen? War das Mädchen unter einem guten Stern geboren?War es behaart? Schließlich umfasste die Frau Nabilas Kopf mit den Händen undmeinte: »Wenn sie heiratet, wird das alles vergehen.«
»Hast du gesehen?«, sagte die Mutter an jenem Abend zu ihr, »es ist wirklichnichts. Nachts sind dieselben Sachen da wie am Tag, nur dass man sie nichtsieht.«
Nabila nickte und schlief ein.
Doch um drei Uhr schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Sie waren wieder gekommen,tanzten als bunte Gestalten um ihre Matte herum.
»Nabila«, flüsterten sie mit höhnischen Stimmen, »armes, dummes Mädchen, wiekonntest du glauben, uns loszuwerden?« Dann brachen sie in Gelächter aus, undihr Lachen klang wie das Quieken von Wildschweinen.
Nabila hatte nie irgendeinem Menschen anvertraut, dass sie keine Angst vor derDunkelheit hatte, sondern vor den Dämonen, die das Dunkel bewohnten. Sie kamenbeinahe jede Nacht zu ihr und sagten viele hässliche Dinge.
Es war nicht gut, wenn ein Kind Dämonen sah, deshalb hatte sie darübergeschwiegen.
Ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, Dämonen gebe es überall, in jedereinzelnen Sache. Es gab den Dämon des Wassers und den der Schüssel, es gab denDämon des Holzes, aus dem der Tisch gemacht war, auf dem die Schüssel mit demWasser stand. Jede Sache hatte zwei Dämonen, einen guten und einen bösen. Eslag an uns, eher die einen als die anderen zu rufen, sich bei ihneneinzuschmeicheln oder sie gegen sich aufzubringen. Die guten Dämonen hatteNabila nie gesehen. Sie rief sie jeden Abend mit langen Beschwörungen, bevor siedie Augen schloss, doch ohne Erfolg.
Wenn sie nicht kommen, dachte sie damals, bedeutet es, dass in mir kein guterDämon ist. Als ich geboren wurde, war mein guter Dämon unaufmerksam oder weitweg. Auch wenn ich nichts Böses getan habe, hat er mich allein gelassen.
Mit siebzehn heiratete Nabila. Und da verschwanden die Dämonen, wie die Alte esvorhergesagt hatte.
Drei Jahre darauf wurde Raj geboren, in einer Nacht und lange vor demerrechneten Datum. In jener Nacht war Tiru nicht zu Hause. Als die Hebamme ihrdas Kind zeigte, nahm Nabila hinter ihm einen grünlichen Schatten wahr, dersich wie eine Qualle auf den Wellen bewegte und dann verschwand.
Die ersten drei Jahre verliefen ruhig. Der Junge entwickelte sich gut, schlugganz nach seinem Vater und gar nicht nach ihr. Das hatte Nabila jedenfallsgedacht.
Bis zu der Nacht, in der Tiru verschwand.
In jener Nacht wachte Raj auf und schrie mit aufgerissenen Augen. Da wusstesie, dass er auch etwas von ihr geerbt hatte: die Angst vor der Nacht und denDämonen.
Dass Tiru getötet worden war, erfuhr sie zwei Tage später: Jemand warf ihr nochvor Morgengrauen den Schädel eines Wildschweins an die Tür. Tagelang suchtensie die Leiche im Wald, fanden sie jedoch nicht.
Nach einer Woche gab es eine Trauerfeier, und Nabila wurde offiziell Witwe, diemutige und starke Witwe eines der vielen Märtyrer ihres Volkes. Die Augen Rajswaren größer und weißer geworden, er sah oft vor sich hin, als tauchte er mitdem Blick in eine andere Welt ein.
Eines Tages sah Nabila ihn so vor der Haustür sitzen; in der Luft lag einstarker Zimtgeruch, und man hörte die Tiere im Wald, wie sie bei Einbruch derDämmerung unruhig wurden. Raj saß da, die Ellbogen auf die Knie gestützt, wieein Erwachsener. Nabila berührte sanft seine Schulter, und ohne sichumzudrehen, fragte er leise:
»Wo ist Papa? Warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?«
Nabila fühlte sich ihrem Sohn gegenüber hilflos, denn sie verstand nicht alles,was in seinem Kopf vorging. Sie setzte sich neben ihn auf die Stufe und nahmihn in den Arm.
»Papa kann nicht zu uns zurückkommen«, sagte sie leise. »Er ist tot.«
»Was heißt tot?«
»Es heißt, er ist weit weg gegangen.«
»Weit wohin?«
Nabila schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Wo auch die Großmutterhingegangen ist. Es ist ein sehr schöner Ort, den wir nicht sehen können, einegroße Ebene, man kann dort von einem Ende zum anderen laufen und ist immerglücklich. Es gibt Obstbäume, Tiere, Bäche mit quellklarem Wasser, die Luft istimmer mild, und nie kommt der Monsun.«
»Und warum hat er uns nicht mitgenommen?«
Nabila antwortete nicht sofort.
»Eines Tages werden auch wir dort hingehen.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil wir vorher noch viele Dinge tun müssen. Du musst zur Schule gehen underwachsen werden.«
»Ich will tot werden«, entgegnete Raj, mit einem Fuß in der weichen Erdescharrend.
»Ich auch«, hätte Nabila am liebsten geantwortet. Doch sie sagte: »Das könnenwir nicht entscheiden. Papa hat es nicht entschieden, und auch die Oma nicht.«
»Wer entscheidet es dann?«, fragte Raj.
In diesem Augenblick erhob sich eine sanfte Brise, die den feuchtwarmen Duftdes Waldes herübertrug und die Blätter der Kokospalmen vor dem Haus leiserascheln ließ.
»Hörst du den Wind?«, fragte Nabila.
Wie ein Tier, das Witterung aufnimmt, hob Raj ein wenig den Kopf.
»Ich höre ihn.«
»Der Wind ist wie ein Telefon. Er weht zwischen uns und der großen Ebene undträgt die Worte derer zu uns, die gestorben sind.«
»Spricht Papa mit dem Wind?«
»Papa, die Oma, alle, die wir nicht mehr sehen können.«
»Sehen sie uns?«
»Sie sehen uns, und sie sprechen zu uns.«
»Aber ich höre nichts«, antwortete Raj, ohne ihr in die Augen zu schauen.
Da beugte sich Nabila zu ihm hinunter und hauchte ihm sanft auf die Stirn.
»Was sagt der Wind?«
Der Junge zuckte die Schultern. Sie wiederholte ihre Worte.
»Sagt er etwas?«, fragte Raj ängstlich.
»Er sagt: >Hab keine Angst, Raj, denn ich bin bei dir. Du musst groß undmutig werden wie ich.<«
»War Papa mutig?«, fragte er.
»Mutiger als eine Tigerin, die ihre Jungen verteidigt.«
»Und du?«
Nabila schwieg und hauchte ihm noch einmal auf die Augen.
»Was sagt der Wind?«, fragte Raj.
»Er sagt, es ist spät und du musst schlafen.«
Versteckt im Laderaum des Schiffes, das sie nach Europa bringen sollte,versuchte Nabila, eine Antwort auf die Frage zu geben, die ihr Raj Monate zuvorgestellt hatte.
War es eine mutige Tat, das eigene Land zu verlassen? Oder war es vielmehrFeigheit?
Jedes Mal hatte sie eine andere Antwort darauf. Am Morgen, gleich nach demErwachen, sagte sie sich: Es ist Mut, denn es gehört Mut dazu, allein mit einemvierjährigen Kind in ein Land zu gehen, das man nicht kennt. Am Mittag jedochwar sie schon davon überzeugt, feige zu sein. Mutig wäre es gewesen zu bleibenund den Kampf fortzusetzen, den schon ihr Mann und viele andere Tamilen für dieFreiheit ihres Volkes geführt hatten. Doch was hätte eine Witwe tun können,noch dazu mit einem kleinen Kind? Nein, wegzugehen war die richtigereEntscheidung.
Und warum hast du dann - fragte ihre innere Stimme sofort -, wenn du so davonüberzeugt bist, das Richtige zu tun, niemandem etwas von deiner Abreiseerzählt? Weil ich keine Verwandten mehr habe, sagte sie zu sich selbst. Dochauch als sie sich diese Antwort gab, wusste sie, dass es nicht die ganzeWahrheit war.
Sie wollte sich nicht eingestehen, dass ihre Furcht vor den Dämonenzurückgekehrt war. Als ihre Mutter sie vor vielen Jahren zu der alten Fraugebracht hatte, war sie unfähig gewesen zu bekennen, dass sie nicht vor derDunkelheit an sich Angst hatte, sondern vor dem, was sich darin verbarg. Warumbloß hatte sie es nicht gesagt? Damals wäre eine Rettung vielleicht nochmöglich gewesen. Die Alte kannte viele Rituale, sie hätte eines gefunden, dasganz genau für sie passte: Innerhalb weniger Tage hätte sie ihren guten Dämongerufen, über sie zu wachen, und die bösen wären verschwunden. Sie wäre endlichfrei gewesen.
Doch es war anders gekommen. Von den vielen Männern, die hätten sterben können,war ausgerechnet Tiru gestorben, ihr Mann. Warum er und kein anderer? MancheFrauen hatten ihre Männer ein ganzes Leben lang an ihrer Seite.
Im Verlauf jener langen Tage der Reise hatte Raj unaufhörlich geweint. Siewaren noch vor dem Morgengrauen aus ihrem Dorf aufgebrochen. In der Nachtdarauf hatten sie sich eingeschifft. Es gab nicht einmal ein Licht in demLaderaum, wo sie sich versteckt hielten.
Während der ersten Stunden der Überfahrt versuchte Nabila noch zu scherzen.
»Schau mal, Raj«, sagte sie und tat so, als flatterte sie zwischen denTeesäcken umher, mit denen der Laderaum vollgestopft war, »ich bin besser alseine Fledermaus.«
Er sah sie an, doch es war, als schaute er durch sie hindurch. Er saßschweigend da, die Hände in den Schoß gelegt.
Später schlief er ein, eingelullt von der Wärme und dem Lärm der Maschinen.
Nabila wachte die ganze Zeit an seiner Seite. Doch plötzlich fuhr Rajerschrocken hoch.
»Die Sonne ist tot!«, schrie er und setzte sich auf.
Nabila nahm ihn in die Arme und versuchte ihn zu wiegen. Sein Körper warvollkommen steif.
»Aber nein, Raj«, flüsterte sie, »was sagst du denn da? Die Sonne kann nichtsterben. Sie ist hinter dieser Wand, wir können sie nur nicht sehen.«
»Sie ist tot!«, schrie er weiter. »Ich habe Angst. Sie ist schon so lange nichtmehr da, sie ist tot.«
»Fragen wir den Wind«, schlug Nabila vor.
Sie hauchte ihn ein paar Mal an, und Raj beruhigte sich.
»Was sagt der Wind?«, fragte er und schmiegte seinen Kopf an die Schulter derMutter.
»Der Wind sagt, du musst keine Angst haben. Die Sonne wird es immer geben, undsie wird dein Leben lang auf dich herabscheinen.«
Zehn Tage später gingen sie in Fiume an Land.
Es war Nacht, ein dünner kalter Regen fiel.
Raj schlief schon, und Nabila hatte ihn, damit er nicht nass würde, in ihrenSari gewickelt.
In jener Stadt verbrachten sie drei Tage. Sie hielten sich zusammen mit dreianderen Personen, die eine unverständliche Sprache sprachen, in einer Wohnungmit geschlossenen Fensterläden auf. Einmal am Tag kam ein Mann, um Getränke undBrötchen zu bringen.
»Sind wir da?«, fragte Raj, kaum dass er aufgewacht war.
Durch die angelehnten Fensterläden drang ein Sonnenstrahl. Nabila zeigtedarauf.
»Fast.«
Alle im Haus waren still. Sie warteten.
Die Einzigen, die ein bisschen Lärm machten, waren zwei Jungen mit Mandelaugenund glattem schwarzem Haar, die Karten spielten.
Nabila saß in einer Ecke, hielt Raj in ihren Armen und sang leise Wiegenlieder,damit er sich geborgen fühlte.
Eines Nachts, als die anderen schlafend auf dem Boden lagen, stand Nabila aufund wanderte durchs Zimmer.
Die beiden Jungen hatten im Schlaf ihre Köpfe auf die Arme gelegt, die Frau ausdem gleichen Dorf wie sie schlief zusammengerollt wie eine Schnecke in ihremHaus. Auch Raj schlief so, ein Taschentuch in der Hand, das er fest gegen dieWange gepresst hielt.
Als sie ihn betrachtete, erkannte Nabila, dass ihr Sohn auch im Schlaf traurigaussah; seine Stirn war angespannt, seine Lippen waren verkrampft und nachunten gezogen. So klein und schon so müde und enttäuscht. Enttäuscht und müde,wie es sonst vielleicht ein alter Mensch sein mag.
Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster und sah durch die Ritzen der Fensterlädennach draußen. Es regnete wieder. Vor dem Haus gab es eine Asphaltstraße undeine auf gelbes Blinklicht geschaltete Ampel. Hin und wieder fuhren Autosvorbei.
Statt auf Höhe der Ampel das Tempo zu drosseln, beschleunigten sie.
Ihre Sicherheit möchte ich haben, dachte Nabila, die Gewissheit, dass mirnichts geschieht, wenn ich einfach Gas gebe und weiterfahre; oder ihrenLeichtsinn und mich so verhalten wie ein Kind, das sich an heißen Tagen voneinem Felsen ins Wasser stürzt.
Nabila seufzte, strich mit einem Finger über den Fensterladen und sah, dass erganz staubig war. Hinter ihr schnarchte jemand. Die Frau redete im Schlaf,eigentlich wimmerte sie eher, sie schien ein Kind zu rufen. Als Nabila an ihrvorbeiging, bemerkte sie, dass ihre Lippen bebten, als würde sie gleich zuweinen beginnen.
Der Schlaf offenbart alles, dachte sie. Im Schlaf zeigen wir unsere Angst, wiedie Händler auf dem Markt ihre Ware. So wählen die Dämonen einen nach demanderen aus; sie fliegen über die schlafenden Körper, und jedes Stöhnen, jedeGrimasse ist verräterisch. Sie sind treu, anhänglich. Wenn sie einen finden,der für sie geeignet ist, lassen sie ihn nicht mehr los. Sie wissen, dassdieser Mensch wie eine schlecht geschlossene Tür ist, man muss nur ein bisschenhartnäckig sein, um eindringen zu können.
Nicht zufällig waren die Dämonen verschwunden, als sie Tiru geheiratet hatte.
Nicht zufällig waren sie nach seinem Tod zurückgekehrt. Auf dem Gesicht desschlafenden Tiru hatte der gleiche Ausdruck von Heiterkeit und Stärke gelegenwie auf dem des wachen. Auch in der Nacht, als er geholt wurde, hatte sie ihn,kurz bevor die Soldaten kamen, im Schlaf beobachtet.
Nabila ging zurück zum Fenster, öffnete es leise. An einer Seite, weit hinten,wurde der Himmel langsam heller.
Da waren viele Häuser, alle gleich und alle in einer Reihe.
Zwischen ihnen wuchsen Bäume, so krank und dünn, dass sie sich an Pfähle lehnenmussten.
Die Zweige eines großen Baums reichten bis ans Fenster heran. Er besaß keineBlätter, an ihrer Stelle waren nur Plastiktüten, die sich im Geäst verfangenhatten.
Eine davon war so nah, dass Nabila sie hätte berühren können. Der Wind ließ siean- und abschwellen wie den Hals eines Froschs. Es schien, als wollte siesprechen. Ist Tiru wirklich tot?, fragte Nabila sie in Gedanken. Die Tüte bliebeinen Moment schlaff, dann blähte sie sich ganz auf. Sie begann zu zappeln. Inihr war eine unbändige Kraft.
Zuerst löste sich ein Griff, dann der andere, und Nabila sah sie zu den Häuserngegenüber segeln.
Der Fensterladen schlug mit Wucht zu. Nabila schloss ihn und wandte den Blickzurück ins Zimmer. Es war wieder dunkel, alle schliefen, Raj lag noch genausoda wie vorher.
Über seinem Kopf schwebte ein kleines Licht, tanzte in der Luft, erleuchtetesein Gesicht.
»Tiru...«, flüsterte Nabila und kam langsam näher. Die kleine Flamme drehtesich um sich selbst, leuchtete kurz auf und erlosch dann. Nabila legte sichneben Raj und zog ein Tuch über ihr Gesicht.»Tiru«, sagte sie, bevor sieeinschlief, »du, der du die Macht hast, es zu tun, flieg in die Zukunft. Sagmir, ob mein Sohn und ich glücklich sein werden.«
Am nächsten Morgen erschien ein Mann mit dickem Bauch, an der Stirn kurzen undim Nacken langen Haaren, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Er ließ sich von ihnen die Dollars und die Pässe geben, befeuchtete seinenDaumen und zählte das Geld von jedem zweimal. Dann nahm er einen Bogen weißesPapier, faltete ihn auf dem Boden auseinander und setzte sich daneben. Mit einemblauen Stift zog er auf dem Blatt eine Linie, die es in zwei Hälften teilte.Auf die linke Seite schrieb er ITALIEN, auf die rechte skizzierte er ein paarBäume und kleine Vierecke, die wohl Häuser darstellen sollten. Dann zeigte ermit dem Finger auf sie und zeichnete kleine Männchen. Von den Männchen ging einPfeil aus, der Pfeil wies auf Italien. Es war der Weg, den sie nehmen mussten.Als er mit der Zeichnung fertig war, zog er aus der Brusttasche einen Rotstift.Längs der Grenze malte er kleine Wolken, und daneben schrieb er »BUM!«
Raj, der in Nabilas Armen lag, verfolgte alles aufmerksam.
»Ist das ein Spiel, Mama?«, fragte er, als der Mann »BUM« machte.
Nabila strich ihm übers Haar. »Ja«, murmelte sie ihm leise ins Ohr. »Es ist einSpiel. Wir müssen einen Schatz finden.«
In diesem Moment erhob sich der Mann und sagte im Aufstehen: »Orrait?!«
»Orrait«, antwortete einer der jungen Kartenspieler.
Am Handgelenk trug der Mann eine große schwarze Uhr. Als er an der Tür war,klopfte er mit zwei Fingern auf das Zifferblatt, hielt dann die Hand mit fünfgespreizten Fingern hoch.
»Orrait?!«, wiederholte er und verließ das Zimmer.
Um fünf Uhr nachmittags war die Sonne schon wieder verschwunden. Der Mannerschien pünktlich, teilte sie in zwei Gruppen ein. Mit dem Aufzug ließ er siehinunter in die Garage fahren, wo ein weißer Lieferwagen mit offener Hecktürauf sie wartete. Es gab kein Fenster, um hinaussehen zu können. Eine Weilehörte Nabila nichts als Verkehrslärm. Als dieser schwächer wurde, begriff sie,dass sie die Stadt verlassen hatten. Raj war unruhig.
Auf ihren Knien sitzend, fragte er: »Wohin fahren wir?«
»Erinnerst du dich an den Mann von heute Morgen?«
Raj nickte.
»Wir sind auf Schatzsuche.«
Zum ersten Mal seit ihrer Abreise sah Nabila ein Leuchten in den Augen desJungen.
© btb Verlag
Übersetzung: Ulrich Hartmann
Autoren-Porträt von Susanna Tamaro
Susanna Tamaro, Italiens populärste und erfolgreichsteSchriftstellerin, wurde 1957 in Triest geboren. Längere Zeit war sieDokumentarfilmerin für das italienische Fernsehen, heute lebt sie als freieSchriftstellerin auf einem Bauernhof in Orvieto. Ihre Bücher sind weltweiteBestseller, ihr Sensationserfolg Geh, wohin dein Herz dich trägt wurdein 40 Sprachen übersetzt und allein im deutschen Sprachraum über eine MillionMal verkauft.
- Autor: Susanna Tamaro
- 2004, 152 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Italien. v. Ulrich Hartmann
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442732999
- ISBN-13: 9783442732999
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