Du mußt dein Leben ändern
Einleitung: Zur anthropotechnischen Wende 9
Der Planet der Übenden
1 Der Befehl aus dem Stein Rilkes Erfahrung 37
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern Nietzsches Antikeprojekt 52
3 Nur Krüppel werden überleben
Unthans Lektion 69
4 Letzte Hungerkunst
Kafkas Artistik 100
5 Pariser Buddhismus
Ciorans Exerzitien 118
Übergang: Religionen gibt es nicht
Von Pierre de Courbertin zu L. Ron Hubbard 133
I Die Eroberung des UnwahrscheinlichenFür eine akrobatische Ethik
Programm 173
1 Höhenpsychologie
Die Hinaufpflanzungslehre und der Sinn von »Über« 176
2 »Kultur ist eine Ordensregel«
Lebensformen-Dämmerung, Disziplinik 208
3 Schlaflos in EphesosVon den Da¨monen der Gewohnheit und ihrerZähmung durch die Erste Theorie 253
4 Habitus und Tra¨gheit
Von den Basislagern des u¨ benden Lebens 276
5 Cur homo artistaVon der Leichtigkeit des Unmo¨ glichen 298 II Übertreibungsverfahren
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit 329
6 Erste ExzentrikVon der Absonderung der Übenden und ihrenSelbstgesprächen 338
7 Vollendete und UnvollendeteWie der Geist der Perfektion die Übendenin Geschichten verstrickt 379
8 MeisterspieleVon den Trainern als Garanten der Übertreibungskunst 424
9 Trainerwechsel und Revolution
Über Konversionen und opportunistische Kehren 467 III Die Exerzitien der Modernen
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen
Subjekts. 493 Kunst am MenschenIn den Arsenalen der Anthropotechnik 519 Im auto-operativ gekrümmten RaumNeue Menschen zwischen Anästhesie und Biopolitik 582 Übungen und FehlübungenZur Kritik der Wiederholung 639 Rückblick 691 Von der Wiedereinbettung des Subjekts zumRückfall in die totale Sorge Ausblick 699
Ausführliches Inhaltsverzeichnis 715 Einleitung
Zur anthropotechnischen Wende
Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst der Religion. Landauf, landab wird uns von ihr versichert, nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der modernen Welt zurückgekehrt, man tue gut daran, mit ihrer neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Anders als das Gespenst des Kommunismus, der im Jahr 1848, als sein Manifest erschien, kein Wiederkehrer war, sondern eine Neuheit unter den drohenden Dingen, wird der aktuelle Spuk seiner wiedergängerischen Natur vollauf gerecht. Ob er nun tröstet oder droht, ob er als guter Geist begrüßt oder als irrationaler Schatten der Menschheit gefürchtet wird, sein Auftritt, ja schon dessen bloße Ankündigung, verschafft sich Respekt, wohin man sieht – sofern man die Sommeroffensive der Gottlosen von 2007 außer Betracht läßt, der wir zwei der oberflächlichsten Pamphlete der jüngeren Geistesgeschichte verdanken, gezeichnet: Christopher Hitchens und Richard Dawkins. Die Mächte des alten Europa haben sich zu einer pompösen Willkommensfeier verbündet – auf ihr versammeln sich ungleiche Gäste: der Papst und die islamischen Gelehrten, die amerikanischen Präsidenten und die neuen Kremlherren, alle Metterniche und Guizots unserer Tage, die französischen Kuratoren und die deutschen Soziologen. Bei der versuchten Wiedereinsetzung der Religion in ihre ehemals verbrieften Rechte kommt ein Protokoll zum Tragen, das von den neu Bekehrten und frisch Faszinierten die Beichte ihrer bisherigen Verkennungen fordert. Wie in den Tagen des ersten Merowingers, der sich aufgrund einer gewonnenen Schlacht zum Kreuz bekannte, sollen auch heutigen Tags die Kinder der banalisierten Aufklärung verbrennen, was sie an- beteten, und anbeten, was sie verbrannten. Bei dieser Umkehr setzen sich versunkene liturgische Intuitionen in Szene. Sie verlangen von den Novizen der postsäkularen »Gesellschaft « eine öffentliche Distanzierung von den religionskritischen Lehrsätzen der aufklaärerischen Jahrhunderte. Diesen war die menschliche Selbstbestimmung allein zu dem Preis erlangbar erschienen, daß die Sterblichen ihre an die Überwelt verschwendeten Kräfte zurückfordern und sie zur Optimierung der irdischen Verhältnisse einsetzen. Man mußte von »Gott« große Quanten an Energie abziehen, um endlich für die Menschenwelt in Form zu kommen. In dieser Kraftübertragung gründete der Elan des Zeitalters, das sich dem großen Singularwort »Fortschritt« verschrieben hatte. Die humanistische Angriffslust ging soweit, die Hoffnung zu einem Prinzip zu erklären. Aus dem Proviant der Verzweifelten sollte das primum mobile besserer Zeiten werden. Wer sich zu dieser ersten Ursache bekannte, wählte die Erde zum Einwanderungsland, um dort und nur dort sich zu verwirklichen. Ab nun hieß es, die Brücken zu den Sphären da droben abzubrechen und alle frei gewordenen Kräfte in die profane Existenz zu investieren. Wenn es Gott gäbe, er wäre damals die einsamste Größe im Universum geworden. Die Abwanderung aus dem Jenseits nahm Züge einer Massenflucht an – die aktuelle demographisch ausgedünnte Lage Osteuropas erscheint daneben wie Überbesiedlung. Daß die breite Masse, von Immanenzideologien unbeirrt, auch in den Tagen der triumphierenden Aufklärung sich ihre heimlichen Ausflüge über die Grenze gestattete, steht auf einem anderen Blatt. Inzwischen haben ganz andere Antriebslagen die Oberhand gewonnen. Kompliziertere Wahrnehmungen der menschlichen Chance bestimmen die Lage. Die über sich selber ins Bild gesetzte Aufklärung hat ihre Paradoxien offengelegt, sie ist bis in die Bezirke vorgedrungen, wo die Dinge, um einen bekannten Erzähler zu zitieren, »kompliziert und traurig werden«. Vom alten unbedingten Vorwärts sind nur noch müde Reste in Gebrauch. Es fehlt nicht mehr viel, und die letzten Hoffnungsheger aufklärerischen Stils ziehen sich aufs Land zurück, als wären sie die Amish der Postmoderne. Andere ewig Progressive folgen den Rufen von Nicht-Regierungsorganisationen, die sich der Rettung der Welt verschrieben haben. Fürs übrige deuten die Zeichen der Zeit auf Revision und Regreß. Nicht wenige enttäuschte Zeitgenossen möchten sich an den Herstellern und Vertreibern ihrer progressiven Illusionen schadlos halten, als ob es möglich wäre, einen Verbraucherschutz für Ideen anzurufen. Der juristische Archetypus unseres Zeitalters, der Schadensersatzprozeß, springt auf weite Lebensbereiche u¨ ber. Hat man nicht an seinen amerikanischen Spielformen gelernt, wie man am Anfang exorbitante Summen fordern muß, um am Ende des Advokatenkriegs auch nur halbwegs befriedigende Abfindungen zu erhalten? Ganz offen sinnen die Nachkommen der Himmelsvertriebenen auf üppige Reparationen, ja, sie wagen es, von epochalen Wiedergutmachungen zu träumen. Ginge es nach ihnen, sollte die Enteignung der Überwelt insgesamt rückgängig gemacht werden. Manche neureligiösen Unternehmer würden die stillgelegten metaphysischen Produktionsstätten am liebsten von heute auf morgen wieder in Betrieb nehmen, als habe man eine bloße Rezession hinter sich gebracht. Europäische Aufklärung – eine Formkrise? Ein Experiment auf der schiefen Ebene zumindest, und im globalen Horizont gesehen eine Anomalie. Die Religionssoziologen sagen es unverblümt: Überall auf der Welt wird weiterhin kräftig geglaubt, nur bei uns hat man die Ernüchterung verherrlicht. Tatsächlich, warum sollten allein die Europäer Zur anthropotechnischen Wende metaphysisch Diät halten, wenn der Rest der Welt unbeirrt an den reich gedeckten Tischen der Illusion tafelt? Ich darf daran erinnern: Marx und Engels hatten das Kommunistische Manifest in dem Vorsatz geschrieben, das Märchen von einem Gespenst namens Kommunismus durch eine angreiferische Selbstaussage des wirklichen Kommunismus zu ersetzen. Wo bloße Geisterfurcht vorgeherrscht hatte, sollte begründete Furcht vor einem realen Feind des Bestehenden entstehen. Auch das vorliegende Buch widmet sich der Kritik eines Märchens und ersetzt es durch eine positive These. In der Tat, dem Märchen von der Rückkehr der Religion nach dem »Scheitern« der Aufklärung muß eine schärfere Sicht auf die spirituellen Tatsachen entgegengestellt werden. Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion – aus dem einfachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religionen « gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme, ob diese nun in Kollektiven – herkömmlich: Kirche, Ordo, Umma, sangha – praktiziert werden oder in personalisierten Ausführungen – im Wechselspiel mit dem »eigenen Gott«, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern. Damit wird die leidige Unterscheidung zwischen »wahrer Religion« und Aberglauben gegenstandslos. Es gibt nur mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme. Auch der falsche Gegensatz zwischen den Gläubigen und Ungläubigen entfällt und wird durch die Unterscheidung zwischen Praktizierenden und Ungeübten bzw. anders Übenden ersetzt. Tatsächlich kehrt heute etwas wieder – doch die geläufige Auskunft, es sei die Religion, die sich zurückmelde, kann kritische Nachfragen nicht befriedigen. Es handelt sich auch nicht um die Rückkehr einer Größe, die verschwunden gewesen wäre, sondern um einen Akzentwechsel in einem nie zertrennten Kontinuum. Das wirklich Wiederkehrende, das alle intellektuelle Aufmerksamkeit verdiente, hat eher eine anthropologische als eine »religiöse« Spitze – es ist, um es mit einem Wort zu sagen, die Einsicht in die immunitäre Verfassung des Menschenwesens. Nach mehrhundertjährigen Experimenten mit neuen Lebensformen hat sich die Einsicht abgeklärt, daß Menschen, gleichgültig unter welchen ethnischen, ökonomischen und politischen Bedingungen sie leben, nicht nur in »materiellen Verhältnissen«, vielmehr auch in symbolischen Immunsystemen und rituellen Hüllen existieren. Von deren Gewebe soll im folgenden die Rede sein. Warum ihre Webstühle hier mit dem kühlen Ausdruck »Anthropotechniken « bezeichnet werden, mag sich im Gang der Darstellung selbst erläutern. Den ersten Schritt zur Rechtfertigung des Interesses an diesen Gegenständen möchte ich tun, indem ich an Wittgensteins bekannte Forderung erinnere, dem »Geschwätz über Ethik« ein Ende zu machen. Es ist inzwischen möglich, den Teil des ethischen Diskurses, der kein Geschwätz ist, in anthropotechnischen Ausdrücken zu reformulieren. Die Arbeit an dieser Übersetzung bildet – wenn auch noch unter anderen Namen – seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die konfuse Mitte der modernen »Kulturstudien«. Für einen Augenblick war das ethische Programm der Gegenwart scharf ins Blickfeld gekommen, als Marx und die Junghegelianer die These artikulierten, der Mensch selbst erzeuge den Menschen. Was dieser Satz besagte, wurde im Nu von einem anderen Geschwätz verstellt, das von der Arbeit als der einzig wesentlichen Handlung des Menschen sprach. Wenn aber der Mensch tatsächlich den Menschen hervorbringt, so gerade nicht durch die Arbeit und deren gegenständliche Resultate, auch nicht durch die neuerdings viel gelobte »Arbeit an sich selbst«, erst recht nicht durch die alternativ beschworene »Interaktion « oder »Kommunikation«: Er tut es durch sein Leben in Übungen. Zur anthropotechnischen Wende Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht. Wer von der Selbsterzeugung des Menschen spricht, ohne von seiner Formung im übenden Leben zu reden, hat das Thema von vorneherein verfehlt. Wir müssen folglich praktisch alles, was über den Menschen als Arbeitswesen gesagt wurde, suspendieren, um es in die Sprache des Übens bzw. des selbstformenden und selbststeigernden Verhaltens zu übersetzen. Nicht nur der ermattete homo faber, der die Welt im Modus »Machen« vergegenständlicht, hat seinen Platz im Zentrum der logischen Bühne zu räumen, auch der homo religiosus, der sich mit surrealen Riten an die Überwelt wendet, darf den verdienten Abschied nehmen. Gemeinsam treten Arbeitende und Gläubige unter einen neuen Oberbegriff. Es ist an der Zeit, den Menschen als das Lebewesen zu enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht. Wie das 19. Jahrhundert kognitiv im Zeichen der Produktion stand, das 20. im Zeichen der Reflexivität, sollte die Zukunft sich unter dem Zeichen des Exerzitiums präsentieren. Die Einsätze, um die gespielt wird, sind nicht niedrig. Es geht in unserem Unternehmen um nicht weniger als um die Einführung einer alternativen Sprache, und mit der Sprache einer veränderten Optik, für eine Gruppe von Phänomenen, für welche die Tradition Ausdrücke wie »Spiritualität«, »Frömmigkeit«, »Moral«, »Ethik« und »Askese« anzubieten pflegte. Gelingt das Manöver, so wird der herkömmliche Religionsbegriff, jener unselige Popanz aus den Kulissenhäusern des modernen Europa, als der große Verlierer aus diesen Untersuchungen hervorgehen. Gewiß, von jeher gleicht die Ideengeschichte einem Asyl für mißgeborene Begriffe – und nach dem folgenden Gang über die Stationen wird man nicht nur das Konzept »Religion« hinsichtlich seines verunglückten Designs durchschauen, ein Konzept, das an Schiefheit allein durch den Hyperpopanz »Kultur« übertroffen wird. Man wird dann auch verstehen, warum es angesichts der veränderten Expositionen ebenso sinnlos wäre, für die negative Bigotterie Partei zu ergreifen, die sich in unseren Breiten seit nahezu zwei Jahrhunderten als plakativer Atheismus präsentiert – ein Geßlerhut, den elegante Intellektuelle gerne grüßten, sooft sie an ihm vorbeikamen, nicht ohne bei dieser Gelegenheit das Prädikat »intellektuell redlich«, wahlweise: »kritisch« oder »autonom«, für sich in Anspruch zu nehmen. Es gilt jetzt, die ganze Bühne um 90 Grad zu drehen, bis sich das religiöse, spirituelle und ethische Material unter einem aufschlußgebenden neuen Winkel zeigt. Die Einsätze sind hoch, ich wiederhole es. Wir haben gegen eine der massivsten Pseudo-Evidenzen der jüngeren Geistesgeschichte anzugehen: gegen den seit erst zwei- oder dreihundert Jahren in Europa grassierenden Glauben an die Existenz von »Religionen«, mehr noch, gegen den ungeprüften Glauben an die Existenz des Glaubens. Der Glaube an die Gegebenheit von »Religion« ist das Element, das Gläubige und Nicht-Gläubige heute wie gestern vereint. Er ist von einer Unbeirrbarkeit, der jeden Präfekten der römischen Glaubenskongregation vor Neid erblassen lassen müßte. Die Ökumene der Mißverständnisse hat die modernen Zeiten unangetastet überstanden. Kein Überwinder der Religion hat an der Existenz der Religion gezweifelt, so sehr man ihr jedes einzelne Dogma streitig machte. Keine Ablehnung hat dem Abgelehnten die Frage vorgelegt, ob es seinen Namen zu recht trüge und ob es als solches überhaupt Bestand habe. Allein aufgrund der Gewöhnung an eine Fiktion vergleichsweise jungen Datums – sie kam erst seit dem 17. Jahrhundert Zur anthropotechnischen Wende in Gebrauch – kann heute von einer »Wiederkehr der Religion « die Rede sein. Es ist der ungebrochene Glaube an die Religion als einer konstanten und universellen Größe, die gehen und wiederkommen kann, der der aktuellen Legende zugrunde liegt. Während die Psychoanalyse auf dem Theorem von der Wiederkehr des Verdrängten aufbaute, geht eine Ideen- und Verhaltensanalyse wie die hier vorgelegte auf das Theorem von der Wiederkehr des Unverstandenen zurück. Rotationsphänomene dieses Typs sind unvermeidlich, solange das, was da war, untertaucht und wieder emporkommt, in seiner Eigenart nicht zureichend begriffen wurde. Bei dem Vorhaben, der Sache selbst auf den Grund zu gehen, ist nur voranzukommen, wenn man den Gegenstand weder bejaht noch ablehnt, vielmehr mit einer tiefer ansetzenden Explikation beginnt. Dies ist ein Projekt, das durch eine Vorhut von Forschern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde, wenngleich mit Mitteln, deren Unzulänglichkeit längst ins Auge springt – ich denke an Autoren wie Feuerbach, Comte, Durkheim und Weber. Immerhin, in ihren Untersuchungen nahmen die sogenannten Religionen als symbolisch geordnete Verhaltenssysteme nach und nach bestimmtere Konturen an – freilich wurden die Übungsnatur des »religiösen« Verhaltens und seine Fundierung in autoplastischen Prozeduren noch nirgendwo angemessen formuliert. Erst der spätere Nietzsche hat in seinen diätologischen Überlegungen der achtziger Jahre – man denke an die entsprechenden Seiten in seiner Selbstkreuzigungsschrift Ecce homo – Ansätze zu einer Lebensübungslehre bzw. einer allgemeinen Asketologie vorgelegt. Mögen sie auch von flüchtigen Lesern als Rückzug der Philosophie auf das apothekarische Niveau mißverstanden worden sein, wer sie mit der gebührenden Aufmerksamkeit studiert, kann in ihnen die seminalen Ideen zu einer umfassenden Theorie des übenden Daseins entdecken. Die hier vorgeschlagene Übersetzung der religiösen, spirituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik der allgemeinen Übungstheorie versteht sich als ein aufklärungskonservatives Unternehmen – ja sogar ein konservatorisches in der Sache selbst. Ein doppeltes Bewahrungsinteresse liegt ihm zugrunde: Zum einem bekennt es sich zu dem Kontinuum kumulativen Lernens, das wir Aufklärung nennen und das wir Gegenwärtigen, allen Gerüchten von neuerdings eingetretenen »post-säkularen« Verhältnissen zum Trotz, als den inzwischen schon vier Jahrhunderte überspannenden Lernzusammenhang moderner Zeiten weitertragen; zum anderen nimmt es die zum Teil jahrtausende alten Fäden auf, die uns an frühe Manifestationen menschlichen Übungs- und Beseelungswissens binden, vorausgesetzt, wir sind bereit, explizit an ihnen anzuknüpfen. Damit ist das Schlüsselwort für alles, was man von hier an lesen wird, hingeschrieben. Das Wort »explizit«, auf die bezeichneten Gegenstände angewendet, enthält das folgende Buch in nuce. Die erwähnte Drehung der geistesgeschichtlichen Bühne bedeutet nichts anderes als ein logisches Manöver zur Explizitmachung von Verhältnissen, die in den Überlieferungsmassen unter »impliziten«, sprich: in sich eingefalteten und zusammengedrängten Formen vorliegen. Wenn Zur anthropotechnischen Wende Aufklärung in technischer Hinsicht das Programmwort für den Fortschritt im Bewußtsein der Explizitheit darstellt, darf man ohne Scheu vor großen Formeln sagen, daß die Explizitmachung des Impliziten die kognitive Form des Schicksals ist. Wäre es anders, hätte man zu keiner Zeit glauben dürfen, das spätere Wissen müsse zugleich das bessere sein – auf dieser Annahme beruht bekanntlich alles, was wir seit Jahrhunderten mit dem Ausdruck »Forschung« belegen. Nur wenn die eingefalteten »Dinge« oder Sachverhalte von ihnen selbst her einer Tendenz unterliegen, sich auszufalten und für uns verständlicher zu werden, darf man – sofern die Ausfaltung gelingt – von wirklichem Wissenszuwachs sprechen. Allein sofern die »Materien« spontan bereit sind (oder sich durch aufgezwungene Untersuchung nötigen lassen), in vergrößerten und besser ausgeleuchteten Flächen ans Licht zu kommen, kann man im Ernst – und Ernst meint hier ontologischen Nachdruck – behaupten: Es gibt Wissenschaft in progress, es gibt reale Erkenntnisgewinne, es gibt Expeditionen, durch welche wir, das epistemisch engagierte Kollektiv, in verhüllte Wissenskontinente vordringen, indem wir bisher Unthematisches thematisch machen, noch Unbekanntes ans Licht bringen und nur dunkel Mitgewußtes in ausdrücklich Gewußtes umwandeln. Auf diese Weise mehren wir das kognitive Kapital unserer Gesellschaft – das letztere Wort hier ohne Anführungszeichen. Früher hätte man wohl gesagt, die Arbeit des Begriffs münde in eine »Produktion«. Hegel ging so weit, zu erklären, die Wahrheit sei wesenhaft Resultat – sie stehe darum unvermeidlich erst am Ende ihres Dramas. Wo sie sich in fertiger Gestalt enthülle, feiere der menschliche Geist den Sonntag des Lebens. Da ich mich hier nicht mit dem Begriff des Begriffs befassen möchte und mit dem Konzept Arbeit etwas anderes vorhabe, begnüge ich mich mit einer etwas weniger triumphalen, doch nicht weniger verbindlichen These: Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne. Die Neuheit des Neuen geht, wie bemerkt, zurück auf die Auseinanderfaltung des Bekannten in größere, hellere, profilreichere Oberflächen. Sie kann infolgedessen nie im absoluten Sinn innovativ sein, sie bildet stets auch die Fortsetzung des kognitiv Vorhandenen mit anderen Mitteln. Dabei laufen Neuheit und höhere Explizitheit auf eins hinaus. Daher gilt: Je ho¨ her der Explikationsgrad, desto tiefer die mögliche, ja unumgängliche Befremdlichkeit des neu erworbenen Wissens. Daß dieser Tisch aus Kirschholz gemacht sei, habe ich bisher als eine konventionelle Tatsache gelten lassen. Daß sich das Kirschholz aus Atomen zusammensetze, nehme ich mit der Duldsamkeit des Gebildeten zur Kenntnis, obschon die vielzitierten Atome, diese epistemologischen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, in ihrem Realitätswert für mich noch immer mit Einhornpulver und Saturneinflüssen auf einer Stufe stehen. Daß sich die Kirschholzatome bei weiterer Explikation in einen Nebel aus subatomaren Beinahe-Nichtsen auflösen: Auch dies muß ich als Endabnehmer der physikalischen Aufklärung akzeptieren, selbst wenn hierdurch meine Annahmen über die Substanzialität der Substanz entschieden verletzt werden. Die letzte Erklärung illustriert mir am nachdrücklichsten, wie das spätere Wissen dazu tendiert, das befremdlichere zu sein. In der Fülle der kognitiven Neuheiten unter der modernen Sonne gibt es keine, die an Folgenreichtum auch nur von ferne mit dem Auftauchen und Bekanntwerden der Immunsysteme in der Biologie des späten 19. Jahrhunderts vergleichbar wäre. Seither kann in den Wissenschaften von den Integritäten – den animalischen Organismen, den Arten, den »Gesellschaften«, den Kulturen – nichts mehr so bleiben, wie es war. Erst zögernd hat man begonnen zu verstehen, daß es die Immundispositive sind, durch welche die sogenannten Systeme erst eigentlich zu Systemen werden, die Lebewesen zu Lebewesen, die Kulturen zu Kulturen. Allein aufgrund ihrer immunitären Qualitäten steigen sie auf in den Rang von selbstorganisierenden Einheiten, die sich unter ständigem Bezug auf eine potentiell wie aktuell invasive und irritationenträchtige Umwelt erhalten und reproduzieren. Diese Leistungen sind bei den biologischen Immunsystemen – deren Entdeckung auf die Forschungen von Ilja Metschnikow und der Schüler Robert Kochs, namentlich Paul Ehrlich, am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen – besonders eindrucksvoll ausgebildet. An ihnen läßt sich die verblüffende Idee ablesen, wonach schon relativ einfache Lebewesen wie Insekten und Mollusken eine Art angeborenes »Vorauswissen « von den insekten- und molluskentypischen Lebensrisiken in sich tragen. Folglich kann man die Immunsysteme dieses Niveaus als verkörperte Verletzungserwartungen und als entsprechende Schutz- und Reparaturprogramme a priori definieren. Unter diesem Licht gesehen, erscheint das Leben selbst als eine mit autotherapeutischen oder »endoklinischen« Kompetenzen ausgestattete Integrationsdynamik, die sich auf einen artspezifischen Überraschungsraum bezieht. Ihm kommt eine ebenso angeborene wie – bei höheren Organismen – adaptiv erworbene Zuständigkeit für die Verletzungen und Invasionen zu, die ihm in der fest zugeordneten Umwelt oder in der eroberten Umgebung regelmäßig begegnen. Solche Immunsysteme könnte man ebensogut als organismische Vorformen eines Sinns für Transzendenz beschreiben: Dank der ständig sprungbereiten Effizienz dieser Vorrichtungen setzt sich das Lebewesen mit seinen potentiellen Todbringern aktiv auseinander und stellt ihnen sein körpereigenes Vermögen zur Überwindung des Tödlichen entgegen. Solcher Leistungen wegen hat man Immunsysteme dieses Typs mit einer »Körperpolizei « oder einer Grenzschutztruppe verglichen. Da es aber schon auf dieser Ebene um die Aushandlung eines modus vivendi mit fremden und unsichtbaren Mächten geht – und ferner, sofern diese todgebend sein können, mit »höheren« und »unheimlichen« Mächten –, liegt hier eine Vorstufe des Verhaltens vor, …
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Incende quod adorasti et adora quod incendisti: Nach der Chronik des Gregor von Tours soll der Bischof von Reims, Remigius, diese Worte gesprochen haben, während Chlodwig I., der Frankenkönig, »wie ein neuer Constantin«, nach der Schlacht von Zülpich von den Sieghelferwirkungen Christi überzeugt, ins Taufbad stieg.
Ausführungen zum Übungsbegriff finden sich unten in den Abschnitten über die Entdeckung der Pädagogik, S. 309f., über Habitusbildung, S. 287f., über den circulus virtuosus, S. 501f., sowie in den ersten drei Abschnitten des 12. Kapitels, S. 639-651.
Als Gründervater der später so genannten Religionsphilosophie kann Edward Herbert von Cherbury (1583-1648) mit seinen Schriften De Veritate (1624), De Religione Gentilium und De Religione Laici (1645) gelten.
Typisch hierfür Oswald Spengler in: Der Untergang des Abendlandes, München 1979, S. 462, der in Nietzsches Wende zum Lebenskunstbewußtsein ein Symptom für das »Klimakterium der Kultur « (ibid., S. 459) erkennen wollte. Er sah darin ein Beispiel für die Dekadenz, die ihm zufolge das »zivilisatorische« Stadium der Kulturen bezeichnet: In dessen Verlauf verfallen die erhabenen metaphysischen Weltanschauungen zu Ratgebern fu¨ r Einzelne in ihren Alltags- und Verdauungssorgen.
- Autor: Peter Sloterdijk
- 2009, 7. Aufl., 723 Seiten, Maße: 12,7 x 20,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518419951
- ISBN-13: 9783518419953
- Erscheinungsdatum: 19.03.2009
Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
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