Edie Kiglatuk Band 2: Zeichen im Schnee
Kriminalroman
Arktis-Jägerin Edie Kiglatuk reist zur Unterstützung ihres Ex-Mannes zum Schlittenhunderennen nach Anchorage. Kaum dort angekommen, entdeckt Edie eine mit einem Aschekreuz bemalte Babyleiche im Wald. Die Polizei ermittelt in der Gemeinde der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Edie Kiglatuk Band 2: Zeichen im Schnee “
Arktis-Jägerin Edie Kiglatuk reist zur Unterstützung ihres Ex-Mannes zum Schlittenhunderennen nach Anchorage. Kaum dort angekommen, entdeckt Edie eine mit einem Aschekreuz bemalte Babyleiche im Wald. Die Polizei ermittelt in der Gemeinde der Altgläubigen, doch Edie verfolgt eine ganz andere Spur.
Klappentext zu „Edie Kiglatuk Band 2: Zeichen im Schnee “
Geliebt und gefürchtet zugleich - das Iditarod, das längste und gefährlichste Schlittenhunderennen der Welt, hat in Anchorage begonnen. Die Arktis-Jägerin Edie Kiglatuk ist zur Unterstützung ihres Exmannes Sammy dabei, der bei dem Rennen startet. Kaum angekommen, entdeckt die Inuk-Frau jedoch eine Babyleiche im Wald, erfroren, in Tücher gewickelt, mit einem umgekehrten Kreuz aus Asche bemalt. Schnell nehmen die Ermittler in Anchorage die Gemeinde der Altgläubigen ins Visier, auf deren Land Edie das tote Baby gefunden hat. Doch Edie glaubt nicht an Opfermorde. Vielmehr führen ihre Ermittlungen in den Umkreis der Protagonisten des Wahlkampfs um den Gouverneursposten von Alaska, der gerade erbittert geführt wird. Während sich Edie mächtige Feinde macht, ist Sammy auf seinem Schlitten in der Wildnis allein unterwegs - jedem Anschlag hilflos ausgeliefert.
Großformatiges Paperback. Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Edie Kiglatuk Band 2: Zeichen im Schnee “
Zeichen im Schnee von Melanie McGrath Prolog
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Sammy Inukpuk lenkte den Hundeschlitten von der glatten Eisfläche des Meeres hinauf zur Baumgrenze. Nichts schien auf dem Pfad anders zu sein als an den vorhergehenden Tagen. Es war ein später, mondheller Abend, die Luft war kalt und trocken, der Schnee zernarbt von den Kufen der Schlitten vor ihnen, aber kompakt und reibungsfrei. Die fünfzehn im Gespann verbliebenen Hunde - einer musste vor ein paar Tagen ausscheiden, weil er sich an einem Eissplitter die Pfote aufgeschnitten hatte - mühten sich mit hängenden Zungen die langgestreckte Steigung hinauf; ihre straff gespannten muskulösen Körper zeugten von Willenskraft und Anstrengung. Über die vergangenen zehn Tage und sechzehnhundert Kilometer hatte Sammy sie im leichten Galopp laufen lassen, mit proteinreichem Mischfutter in Schwung gehalten und ihnen nur dann Ruhe gegönnt, wenn die Regeln des Iditarod-Rennens es vorschrieben. Als der Schlitten in den dunklen Schatten der Bäume eintauchte, trieb Sammy die Hunde mit lauten Rufen an; er kletterte vom Gefährt und lief neben dem Gespann her, um zu verhindern, dass die Tiere vor dem veränderten Licht oder der plötzlichen Stille zurückschreckten. Einen halben Kilometer ging es weiter bergan. Kurz bevor sie den höchsten Punkt erreichten, legte die Leithündin in freudiger Erregung ein irrsinniges Tempo vor. Das Gespann taumelte im Geschirr nervös hinter ihr her. Auf dem Kamm holte Sammy tief Luft und ließ die Hunde verlangsamen. Er klappte die Bremsmatte herunter, die dem Schlitten bei der Abfahrt Widerstand verlieh. Die Leithündin schnupperte in die Luft und führte das Gespann vorsichtig den Hang hinab, wobei sie die Krallen der Vorderpfoten ins Eis grub, um Halt zu haben. Ein Stück weiter unten wurden die Hunde unruhig und nahmen Tempo auf. Sammy suchte mit den Augen die Gegend ab, fragte sich, ob sie vielleicht ein anderes Tier gewittert hatten, einen Fuchs womöglich. Er nahm jedoch keine Bewegung wahr, und es waren auch keine frischen Spuren zu sehen. Sammy befahl dem Gespann, zu verlangsamen, aber die Hunde waren jetzt so aufgeregt, dass sie nicht gehorchten. Quietschend sauste der Schlitten immer schneller bergab, schwankte gefährlich von einer Seite zur anderen. Sammy packte den Haltegriff, trat mit dem rechten Fuß auf die Bremse, zuerst sachte, dann fester, bis sie sich in den kompakten Schnee krallte. Sammy zitterte am ganzen Leib vor Anstrengung. Die Hunde sträubten sich kurz, gingen dann wieder in Formation und schlugen ein gemächlicheres Tempo an, wodurch der Schlitten wieder mehr Kontakt mit dem Pfad bekam. Just als Sammy sich ein bisschen entspannte, tat es unter ihm einen lauten Krach: Eine Seite der Bremsstange war komplett abgerissen. Unversehens schnellte der Schlitten vorwärts. Entsetzt, aber machtlos, klammerte Sammy sich an den Haltegriff, befahl den Hunden schreiend, langsamer zu laufen. Die Tiere deuteten den plötzlichen Ruck des Schlittens jedoch als Signal zum Beschleunigen. Immer schneller galoppierten sie den eisglatten Hang hinab.
Angst durchzuckte Sammy wie ein Blitz. Vor sich sah er einen Buckel, er rief nakilivaa!, langsam!, aber zu spät. Ein Stoß, ein Knirschen, und plötzlich flog der Schlitten in hohem Bogen durch die Luft. Sammy fühlte sich schwerelos und benommen und versuchte verzweifelt, den Haltegriff umklammert zu halten. Den Bruchteil einer Sekunde darauf schlug der Schlitten mit einem heftigen Krachen auf. Sammy schnappte nach Luft. Der Schlitten war nicht umgekippt, rutschte aber wie wild von einer Seite auf die andere. Sammy krallte sich mit aller Kraft fest. Dann passierte, was er am meisten befürchtete: Ein Hund rutschte aus. Taumelnd, aber noch im Geschirr, drehte er sich auf dem Eis, mitgerissen vom Tempo der vor ihm laufenden Hunde. Andere stolperten über das gestürzte Tier. Am Ende standen von den fünfzehn Hunden im Gespann nur noch sieben oder acht aufrecht. Die anderen, heillos im Geschirr und miteinander verheddert, purzelten und schlitterten den Pfad hinab. Sammy spürte, wie der Schlitten heftig auf der Achse wankte. Ein Fichtenzweig peitschte ihm ins Gesicht, dann noch einer. Sie waren jetzt abseits vom Pfad und schlitterten durch die Bäume abwärts. Ein schwindelerregender Adrenalinstoß durchströmte Sammys Brust. Und da kippte der Schlitten um. Sammy wurde in die Luft geschleudert und starrte mit Schrecken auf die riesengroße, ungerührte Fichte, die in Windeseile auf ihn zuzurasen schien.
1
Edie Kiglatuk konnte nicht sagen, wie lange der Bär sie schon ansah. Seine runden braunen Augen waren wie in Pelzwolken gebettete dunkle Sterne am Sommerhimmel. Er hob die Nase, schnupperte, nahm Edies Witterung auf. Sein massiger Körper war eingerahmt von den verschneiten Bäumen des alaskischen Fichtenwaldes. Edie hatte in ihrem Leben oft genug mit Eisbären zu tun gehabt, um sicher zu sein, dass dies hier trotz seiner Färbung keiner war. Eisbären hatten längere Köpfe, spitzere Schnauzen und kleinere Ohren. Dieses Tier sah anders aus, es war stumpfschnauzig und zottig und so groß wie ein Schwarzbär. Aber eben nicht schwarz. Und mit den braunen Augen auch kein Albino. Auf dem langen Flug von Autisaq in der kanadischen Hocharktis, wo sie zu Hause war, hatte Edie sich die Zeit mit Handbüchern über die alaskische Flora und Fauna vertrieben, und jetzt kam ihr die Vermutung, dass dieses Tier ein Geisterbär war. Die qalunaat, die Weißen, nannten sie Kermodebären, doch die Gitga'at, die Einheimischen, kannten sie als mooksgm'ol und machten niemals Jagd auf sie. Sie sagten, diese Bären seien außerirdische Tiere, Wesen, denen die Macht gegeben war, Botschaften zwischen den Lebenden und den Toten zu übermitteln.
Irgendetwas drängte Edie, näher heranzugehen. Sie schwang sich von ihrem Schneemobil und landete mit einem dumpfen Plumps im Schnee. Das erschreckte Tier stieß ein kurzes Bellen aus und stellte sich auf die Hinterbeine. Es war etwa einen Meter achtzig groß, doch seine Haltung war weniger angriffslustig als ... als was? Edie kannte Bären von klein auf, aber der hier hatte etwas an sich, das sie nicht deuten konnte. Das Tier sah sie noch einen Moment an - seine Nüstern bebten, die kleinen braunen Augen glänzten wie ein regennasser Stein - , dann ließ es sich wieder auf alle viere fallen und stapfte langsam durch die Bäume davon. Von Zeit zu Zeit wandte es den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht folgte. Oder vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte. An einem sonnenbeschienenen Flecken zwischen zwei Fichten blieb der Bär stehen und sah sich um. Er stieß ein leises Husten aus, sein Atem trübte die Luft. Er wartete. Edie bewegte sich auf ihn zu, langsam zuerst, dann mit mehr Zuversicht. Einige Sekunden lang stand er unbewegt, dann drehte er sich um und schlurfte tiefer in den Wald hinein. Sie ging weiter vorwärts, überzeugt, dass der Bär sie irgendwohin führte, dass er sie auserkoren hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. In zwei Stunden würde Sammy Inukpuk zum offiziellen Start des Iditarodundeschlittenrennens in Willow eintreffen und seine Exfrau bei der Helfertruppe erwarten. Es war ihre Aufgabe, ihn mit allem Notwendigen zu versorgen und ihn zu Beginn der zwei wohl härtesten Wochen seines Lebens, in denen er mit sechzehn Hunden gut 1850 Kilometer durch eines der rauesten Gebiete der Erde rasen würde, moralisch zu unterstützen. Von da an würde sie in Anchorage bleiben, Vorräte organisieren und zur Stelle sein, um die Hunde in Empfang zu nehmen, die sich unterwegs verletzt hatten. Ihr Freund und Gefährte Derek Palliser war für Logistik und Kommunikation zuständig - im Nordwesten in der Stadt Nome, dem Zielort des Rennens. Der Bär war etwa zwanzig Meter vor ihr; Edie ging weiter, vorbei an Weißfichten, dann an Zitterpappeln, stapfte durch Tiefschnee, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Ihrem Gefühl nach waren sie schon lange Zeit unterwegs, als der Bär jäh stehen blieb und sich umdrehte. Er war jetzt weit entfernt und zwischen den Bäumen nur undeutlich zu sehen, wie Nebelschwaden im Dunkeln. Er beobachtete eine Weile, wie Edie sich ihm näherte, dann hob er den Kopf, schnupperte in die Luft, machte kehrt und trabte davon. Edie sah sich um. Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben musste sie feststellen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Ein Blick auf ihre Fußspuren, die längliche Achten ergaben, sagte ihr, dass der Bär sie in Kreisen herumgeführt hatte. Sie befand sich in einer nasskalten Welt voll beweglicher Schatten und seltsamen Geflüsters, wie in einem Kindertraum, und sie hatte absolut keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre Handflächen wurden feucht. Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug und stand lauschend da, nahm die Geräusche des Waldes in sich auf und versuchte, sich an ihnen zu orientieren. Dort, wo Edie herkam, auf der Insel Ellesmere, knapp achthundert Kilometer vom Nordpol entfernt, gab es keine Bäume, nur raue, steinige Tundra. An klaren Tagen konnte man die Krümmung der Erde sehen. Die unbekannte Landschaft Alaskas war auch so eine Sache, die Edie sich nicht richtig klargemacht hatte, als sie sich bereit erklärte, Sammy zu helfen, nachdem sein einziger noch lebender Sohn, Willa, sich den Arm gebrochen hatte. Jetzt frischte der Wind auf, fegte über den Waldboden und zerstieb den Schnee zu kleinen Flockenfontänen. Die Fichtenstämme ringsum knarrten ganz leise, und eine Pulverschneewehe schneite von den Ästen auf die Erde. Wäre sie länger als zwei Tage in Alaska gewesen, wüsste sie möglicherweise schon, woher der Wind überwiegend wehte, aber nicht mal damit war sie vertraut. Sie blickte nach oben, konnte die Sonne durch die Wipfel jedoch nicht sehen. Sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, in welche Richtung sie sich bewegte. Weit entfernt krächzten Raben, ganz nah knackte ein Zweig, und dicht über dem Boden raschelte etwas, ein Fuchs vielleicht. Es war extrem unverantwortlich gewesen, ohne Gewehr hier herauszukommen, so wie sie es gemacht hatte, als sie noch trank. Eine Gewohnheit, die sie hoffentlich ein für alle Mal abgelegt hatte. Sie nahm ein Vibrieren wahr, das sich dann langsam zum tiefen Heulen eines Motors steigerte. Sie war so erleichtert, dass sie hätte juchzen können. Das Geräusch näherte sich, und kurz darauf kam ein Schneemobil in Sicht. Edie grinste, winkte und wartete, aber das Gefährt setzte seinen Weg fort, ohne auch nur zu verlangsamen. Edie lief ihm in den Weg, schrie und gestikulierte wild mit den Händen. Der Fahrer schob sein Visier hoch, und heraus schauten zwei Augen, die inmitten des graumelierten Bartgewirrs fast verloren wirkten. Hinter ihm saß teilnahmslos eine Beifahrerin mit Silberfuchsfäustlingen an den Händen. Unter den Daunenparkas trugen beide anscheinend lange, bauschige Kasacks und dazu passende Hosen. Das Paar kam offensichtlich vom wöchentlichen Lebensmitteleinkauf. Das Schneemobil war über und über mit Taschen behängt. «Hey, haben Sie mich nicht winken gesehen?» Edie war ärgerlich. Hatten die Leute hier unten keine Manieren? «Ich habe mich verirrt. Ich muss zum Hatcher Pass zurück.» Der Mann zuckte die Achseln. «Sie sind hier auf Altgläubigen- Besitz», sagte er nur. Sie hätte am liebsten gesagt, ihr sei schnuppe, ob sie auf Leckmich-Besitz sei, aber sie beherrschte sich. «Ich weiß nicht mehr, wo mein Fahrzeug ist.» Der Mann blickte erstaunt, deutete dann aber mit dem Kopf in die Richtung, aus der er und seine Beifahrerin gerade gekommen waren. «Wenn Sie Ihre Spuren nicht finden können, folgen Sie unseren», sagte er. «Ist das Ihr Motorschlitten da unten auf dem Weg?» Motorschlitten. So nannten sie die Gefährte hier unten im Süden, in Alaska. Wo Edie herkam, fuhr man nicht einfach vorbei, wenn man ein Schneemobil sah, auf dem niemand saß, sondern hielt an, um zu sehen, ob jemand Hilfe brauchte. «Sind Sie immer so hilfsbereit?» Der Mann sog missbilligend die Luft durch die Zähne. «Die Sorgen der Welthaften sind nicht unsere Sorgen», sagte er und drehte sich zu der Frau hinter sich um. Danach wirkte er ein wenig nachgiebiger. «Wir haben es nicht gern, wenn Fremde sich unbefugt auf unserem Besitz herumtreiben, das ist alles. Ich an Ihrer Stelle würde mich hüten, so bald wieder dieses Weges zu kommen.» Damit löste er die Bremse, klappte sein Visier herunter und bediente den Gashebel. Das Schneemobil setzte sich in Bewegung, und Edie sah die zwei im finsteren Wald verschwinden. Sie kehrte um, die Spuren des Schneemobils immer im Blick behaltend, wie ihr der Mann geraten hatte. Kurze Zeit später war durch eine Lücke zwischen den Bäumen die Straße zu erkennen, die zurück in die Stadt führte, und in der Ferne erspähte sie ihr Schneemobil. Erleichtert ging sie darauf zu. Wo die Spuren schließlich dem Weg mit festgefahrenem Schnee wichen, erblickte sie am Fuß einer Fichte einen leuchtend gelben Gegenstand, der durch die Äste des Baumes vor Schnee geschützt war. Ihr kam der Gedanke, dass das Paar womöglich etwas von seinem Schneemobil geworfen hatte. Sie verließ den Weg und ging hin, um nachzusehen. Beim Näherkommen stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das gelbe Ding ein Miniaturhaus aus Holzbohlen war, einer kleinen Hundehütte nicht unähnlich, einen Meter lang und halb so breit, mit einem Schrägdach und stabilen Seitenwänden. Die Vorderseite war mit blumigen Ornamenten verziert, das Türchen mit einem groben Holzhebel versperrt. Edie sah sich um. Eine hauchdünne Schneeschicht hatte sich auf dem Dach angesammelt, aber an den Seiten war kein Schnee aufgehäuft, was darauf schließen ließ, dass die Hütte schon hier gestanden hatte, als es zuletzt schneite, aber höchstwahrscheinlich noch nicht viel länger. Ringsum waren weder Fußspuren von Tieren oder Menschen noch führten welche zu der Hütte hin. Sie stand da, als sei sie schon immer hier im Schnee gewesen, als würde sie einer anderen Wirklichkeit angehören und von kleinen Feen bewohnt. Jeder Gedanke an das Iditarod-Rennen war aus Edies Kopf verschwunden. Sie rief etwas, ohne jede Ahnung, wer oder was ihr antworten mochte, aber da war nichts als Stille. Bei der Hütte angekommen, duckte sie sich und legte den Hebel des Türchens um. Sie sah, dass drinnen etwas war, doch es war zu dunkel, um es deutlich zu erkennen. Ihr erster Gedanke war, es herauszuziehen, aber etwas hielt sie zurück. Der Geisterbär kam ihr in den Sinn, die Macht seiner stillen, gespenstischen Blässe. Plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass der Bär sie hierhergeführt hatte, dass die Geister ihren Boten gesandt hatten, um sie an diesen Ort zu bringen. Sie kehrte zum Schneemobil zurück, nahm ihre Taschenlampe aus der Satteltasche, stapfte wieder zu der Hütte und öffnete das Türchen ein zweites Mal. Der Strahl der Lampe fiel auf ein Paket, das in ein prächtig besticktes rotes Tuch gewickelt war. Edie streckte vorsichtig die Hand aus und fasste es an. Das Tuch war steif, aber nicht hart gefroren. Da schätzungsweise minus 25 Grad waren, war es selbst im relativen Schutz des Waldes unwahrscheinlich, dass es schon sehr lange dort lag. Edie machte das Türchen weit auf, griff hinein und zog an dem Ding. Es war nicht befestigt und kam leicht heraus. Der Stoff war kostbar, Satin, vermutete sie, über und über mit einem Muster aus Blumen und Ranken bestickt und mit mehreren zu Schleifen gebundenen Schnüren umwickelt. Was sich darin befand, war sehr hart, seit langem gefroren. Mit dem Paket in der Hand stand sie auf, ging zum Schneemobil und legte es auf den Sattel, um es genauer betrachten zu können. Unter dem verzierten Stoff befand sich ein viereckiges weißes Leinentuch. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, und sogleich löste sich das Tuch. Wie von selbst gingen die Schnüre um das Paket auf und enthüllten, was darin lag. Ihr stockte der Atem, ein beklemmendes Brennen schoss ihr den Rücken hinauf. Sie kniff die Augen zu, wollte das entsetzliche Etwas zum Verschwinden bringen, aber als sie die Augen wieder öffnete, war es noch da. Sie wich taumelnd zurück. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, sie hielt sich am nächsten Baum fest. Sie glaubte ohnmächtig zu werden, sich übergeben zu müssen, aber keins von beidem geschah. Sie schlug die Arme um sich, schloss die Augen und drückte sie so fest zu, bis der Schmerz sie beruhigte. Als ihr Atem wiederkehrte, ungleichmäßig, keuchend, ging sie vorsichtig zurück zu dem Entsetzlichen, das sie aus dem gelben Miniaturhaus befreit hatte. Auf dem Sattel des Schneemobils lag ein Baby, vielleicht ein, zwei Monate alt, auf dem Bauch, tot und steif gefroren. Die Ärmchen waren erhoben, die Händchen zu winzigen Fäusten geballt, die Haut glitzerte von Eiskristallen. An einer Schulter war die Haut narbig wie von Frostbrand, aber es gab keine weiteren Verletzungen oder Anzeichen, die darauf schließen ließen, wie oder wann das Baby gestorben war. Unendlich behutsam fasste Edie mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen das tote Kind an den Schultern und drehte es langsam herum. Es war die Leiche eines Jungen. Sein Gesichtchen war mit Eis überzogen, die Augen waren geschlossen, seine Miene sanft und friedlich. Er sah so wächsern aus, so abwesend, dass Edie sich einen winzigen Moment lang einredete, es sei eine Puppe, obwohl sie genau wusste, dass sie einen Leichnam vor sich hatte. Auf die zarte neue Haut des Jungen hatte jemand mit Fett und Zeichenkohle, möglicherweise auch mit Asche, ein kunstvolles, auf dem Kopf stehendes Kreuz gemalt. 2 Chuck Hillingberg, der Bürgermeister von Anchorage, half seiner Frau Marsha vor der Zentrale des Iditarod-Rennens aus dem Dienstwagen und strahlte in die Kameras. J. G. Dillard, sein Kollege im Rathaus von Wasilla, der einzige Bürgermeister in ganz Alaska mit Überkämmfrisur, schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, seine mausgraue Frau hinter sich herziehend, begierig, mit auf die Fotos zu kommen. Chuck interessierte der Mann nicht - anders als er selbst, der bei den kommenden Wahlen als Kandidat für den Gouverneursposten ins Rennen ging, strebte Bürgermeister Dillard nichts an - aber heute kam es darauf an, sich leutselig zu geben. «Es freut uns sehr, Sie beide hier zu haben», sagte Dillard. «Ich dachte, nach der langen Zeit in der Großstadt haben Sie womöglich ganz vergessen, dass Ihre Wurzeln hier in Wasilla sind.» Dies wurde in jovialem Ton geäußert, von Bürgermeister zu Bürgermeister, entbehrte aber nicht einer gewissen Spitze. Auf der Fahrt hierher (Chuck hatte den Bürgermeister-Hubschrauber nehmen wollen, doch Marsha hatte es ihm mit der Begründung ausgeredet, das wirke zu protzig, womit sie, wie so oft, richtig lag) hatte er beschlossen, sich in diesem Tagesabschnitt ganz und gar loyal zu geben. Jetzt war er noch keine fünf Minuten hier, und schon stellte Dillard seine Heimatverbundenheit in Frage. Das kotzte ihn an. Chuck schüttelte ihm die Hand. «Die Heimat vergesse ich nie, J. G.», sagte er. Das entsprach insofern der Wahrheit, als Chuck Jersey City in New Jersey, seine eigentliche Heimat, nicht vergessen hatte. Mit vier Jahren hatte er sie verlassen, und bis heute empfand er eine fast schmerzliche Sehnsucht nach ihr. Gegen Wasilla aber hegte er eine leidenschaftliche Abneigung. Die Leute schwärmten von der spektakulären Lage der Stadt, die im Süden von grünen Tälern, im Osten vom Chugach-Gebirge und im Norden von den Talkeetnabergen begrenzt wurde. Sie faselten von dem klaren Wasser der Stadt, von den christlichen Werten und dem Gemeinschaftsgeist. Leute wie J. G. Dillard.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Sammy Inukpuk lenkte den Hundeschlitten von der glatten Eisfläche des Meeres hinauf zur Baumgrenze. Nichts schien auf dem Pfad anders zu sein als an den vorhergehenden Tagen. Es war ein später, mondheller Abend, die Luft war kalt und trocken, der Schnee zernarbt von den Kufen der Schlitten vor ihnen, aber kompakt und reibungsfrei. Die fünfzehn im Gespann verbliebenen Hunde - einer musste vor ein paar Tagen ausscheiden, weil er sich an einem Eissplitter die Pfote aufgeschnitten hatte - mühten sich mit hängenden Zungen die langgestreckte Steigung hinauf; ihre straff gespannten muskulösen Körper zeugten von Willenskraft und Anstrengung. Über die vergangenen zehn Tage und sechzehnhundert Kilometer hatte Sammy sie im leichten Galopp laufen lassen, mit proteinreichem Mischfutter in Schwung gehalten und ihnen nur dann Ruhe gegönnt, wenn die Regeln des Iditarod-Rennens es vorschrieben. Als der Schlitten in den dunklen Schatten der Bäume eintauchte, trieb Sammy die Hunde mit lauten Rufen an; er kletterte vom Gefährt und lief neben dem Gespann her, um zu verhindern, dass die Tiere vor dem veränderten Licht oder der plötzlichen Stille zurückschreckten. Einen halben Kilometer ging es weiter bergan. Kurz bevor sie den höchsten Punkt erreichten, legte die Leithündin in freudiger Erregung ein irrsinniges Tempo vor. Das Gespann taumelte im Geschirr nervös hinter ihr her. Auf dem Kamm holte Sammy tief Luft und ließ die Hunde verlangsamen. Er klappte die Bremsmatte herunter, die dem Schlitten bei der Abfahrt Widerstand verlieh. Die Leithündin schnupperte in die Luft und führte das Gespann vorsichtig den Hang hinab, wobei sie die Krallen der Vorderpfoten ins Eis grub, um Halt zu haben. Ein Stück weiter unten wurden die Hunde unruhig und nahmen Tempo auf. Sammy suchte mit den Augen die Gegend ab, fragte sich, ob sie vielleicht ein anderes Tier gewittert hatten, einen Fuchs womöglich. Er nahm jedoch keine Bewegung wahr, und es waren auch keine frischen Spuren zu sehen. Sammy befahl dem Gespann, zu verlangsamen, aber die Hunde waren jetzt so aufgeregt, dass sie nicht gehorchten. Quietschend sauste der Schlitten immer schneller bergab, schwankte gefährlich von einer Seite zur anderen. Sammy packte den Haltegriff, trat mit dem rechten Fuß auf die Bremse, zuerst sachte, dann fester, bis sie sich in den kompakten Schnee krallte. Sammy zitterte am ganzen Leib vor Anstrengung. Die Hunde sträubten sich kurz, gingen dann wieder in Formation und schlugen ein gemächlicheres Tempo an, wodurch der Schlitten wieder mehr Kontakt mit dem Pfad bekam. Just als Sammy sich ein bisschen entspannte, tat es unter ihm einen lauten Krach: Eine Seite der Bremsstange war komplett abgerissen. Unversehens schnellte der Schlitten vorwärts. Entsetzt, aber machtlos, klammerte Sammy sich an den Haltegriff, befahl den Hunden schreiend, langsamer zu laufen. Die Tiere deuteten den plötzlichen Ruck des Schlittens jedoch als Signal zum Beschleunigen. Immer schneller galoppierten sie den eisglatten Hang hinab.
Angst durchzuckte Sammy wie ein Blitz. Vor sich sah er einen Buckel, er rief nakilivaa!, langsam!, aber zu spät. Ein Stoß, ein Knirschen, und plötzlich flog der Schlitten in hohem Bogen durch die Luft. Sammy fühlte sich schwerelos und benommen und versuchte verzweifelt, den Haltegriff umklammert zu halten. Den Bruchteil einer Sekunde darauf schlug der Schlitten mit einem heftigen Krachen auf. Sammy schnappte nach Luft. Der Schlitten war nicht umgekippt, rutschte aber wie wild von einer Seite auf die andere. Sammy krallte sich mit aller Kraft fest. Dann passierte, was er am meisten befürchtete: Ein Hund rutschte aus. Taumelnd, aber noch im Geschirr, drehte er sich auf dem Eis, mitgerissen vom Tempo der vor ihm laufenden Hunde. Andere stolperten über das gestürzte Tier. Am Ende standen von den fünfzehn Hunden im Gespann nur noch sieben oder acht aufrecht. Die anderen, heillos im Geschirr und miteinander verheddert, purzelten und schlitterten den Pfad hinab. Sammy spürte, wie der Schlitten heftig auf der Achse wankte. Ein Fichtenzweig peitschte ihm ins Gesicht, dann noch einer. Sie waren jetzt abseits vom Pfad und schlitterten durch die Bäume abwärts. Ein schwindelerregender Adrenalinstoß durchströmte Sammys Brust. Und da kippte der Schlitten um. Sammy wurde in die Luft geschleudert und starrte mit Schrecken auf die riesengroße, ungerührte Fichte, die in Windeseile auf ihn zuzurasen schien.
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Edie Kiglatuk konnte nicht sagen, wie lange der Bär sie schon ansah. Seine runden braunen Augen waren wie in Pelzwolken gebettete dunkle Sterne am Sommerhimmel. Er hob die Nase, schnupperte, nahm Edies Witterung auf. Sein massiger Körper war eingerahmt von den verschneiten Bäumen des alaskischen Fichtenwaldes. Edie hatte in ihrem Leben oft genug mit Eisbären zu tun gehabt, um sicher zu sein, dass dies hier trotz seiner Färbung keiner war. Eisbären hatten längere Köpfe, spitzere Schnauzen und kleinere Ohren. Dieses Tier sah anders aus, es war stumpfschnauzig und zottig und so groß wie ein Schwarzbär. Aber eben nicht schwarz. Und mit den braunen Augen auch kein Albino. Auf dem langen Flug von Autisaq in der kanadischen Hocharktis, wo sie zu Hause war, hatte Edie sich die Zeit mit Handbüchern über die alaskische Flora und Fauna vertrieben, und jetzt kam ihr die Vermutung, dass dieses Tier ein Geisterbär war. Die qalunaat, die Weißen, nannten sie Kermodebären, doch die Gitga'at, die Einheimischen, kannten sie als mooksgm'ol und machten niemals Jagd auf sie. Sie sagten, diese Bären seien außerirdische Tiere, Wesen, denen die Macht gegeben war, Botschaften zwischen den Lebenden und den Toten zu übermitteln.
Irgendetwas drängte Edie, näher heranzugehen. Sie schwang sich von ihrem Schneemobil und landete mit einem dumpfen Plumps im Schnee. Das erschreckte Tier stieß ein kurzes Bellen aus und stellte sich auf die Hinterbeine. Es war etwa einen Meter achtzig groß, doch seine Haltung war weniger angriffslustig als ... als was? Edie kannte Bären von klein auf, aber der hier hatte etwas an sich, das sie nicht deuten konnte. Das Tier sah sie noch einen Moment an - seine Nüstern bebten, die kleinen braunen Augen glänzten wie ein regennasser Stein - , dann ließ es sich wieder auf alle viere fallen und stapfte langsam durch die Bäume davon. Von Zeit zu Zeit wandte es den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht folgte. Oder vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte. An einem sonnenbeschienenen Flecken zwischen zwei Fichten blieb der Bär stehen und sah sich um. Er stieß ein leises Husten aus, sein Atem trübte die Luft. Er wartete. Edie bewegte sich auf ihn zu, langsam zuerst, dann mit mehr Zuversicht. Einige Sekunden lang stand er unbewegt, dann drehte er sich um und schlurfte tiefer in den Wald hinein. Sie ging weiter vorwärts, überzeugt, dass der Bär sie irgendwohin führte, dass er sie auserkoren hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. In zwei Stunden würde Sammy Inukpuk zum offiziellen Start des Iditarodundeschlittenrennens in Willow eintreffen und seine Exfrau bei der Helfertruppe erwarten. Es war ihre Aufgabe, ihn mit allem Notwendigen zu versorgen und ihn zu Beginn der zwei wohl härtesten Wochen seines Lebens, in denen er mit sechzehn Hunden gut 1850 Kilometer durch eines der rauesten Gebiete der Erde rasen würde, moralisch zu unterstützen. Von da an würde sie in Anchorage bleiben, Vorräte organisieren und zur Stelle sein, um die Hunde in Empfang zu nehmen, die sich unterwegs verletzt hatten. Ihr Freund und Gefährte Derek Palliser war für Logistik und Kommunikation zuständig - im Nordwesten in der Stadt Nome, dem Zielort des Rennens. Der Bär war etwa zwanzig Meter vor ihr; Edie ging weiter, vorbei an Weißfichten, dann an Zitterpappeln, stapfte durch Tiefschnee, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Ihrem Gefühl nach waren sie schon lange Zeit unterwegs, als der Bär jäh stehen blieb und sich umdrehte. Er war jetzt weit entfernt und zwischen den Bäumen nur undeutlich zu sehen, wie Nebelschwaden im Dunkeln. Er beobachtete eine Weile, wie Edie sich ihm näherte, dann hob er den Kopf, schnupperte in die Luft, machte kehrt und trabte davon. Edie sah sich um. Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben musste sie feststellen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Ein Blick auf ihre Fußspuren, die längliche Achten ergaben, sagte ihr, dass der Bär sie in Kreisen herumgeführt hatte. Sie befand sich in einer nasskalten Welt voll beweglicher Schatten und seltsamen Geflüsters, wie in einem Kindertraum, und sie hatte absolut keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre Handflächen wurden feucht. Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug und stand lauschend da, nahm die Geräusche des Waldes in sich auf und versuchte, sich an ihnen zu orientieren. Dort, wo Edie herkam, auf der Insel Ellesmere, knapp achthundert Kilometer vom Nordpol entfernt, gab es keine Bäume, nur raue, steinige Tundra. An klaren Tagen konnte man die Krümmung der Erde sehen. Die unbekannte Landschaft Alaskas war auch so eine Sache, die Edie sich nicht richtig klargemacht hatte, als sie sich bereit erklärte, Sammy zu helfen, nachdem sein einziger noch lebender Sohn, Willa, sich den Arm gebrochen hatte. Jetzt frischte der Wind auf, fegte über den Waldboden und zerstieb den Schnee zu kleinen Flockenfontänen. Die Fichtenstämme ringsum knarrten ganz leise, und eine Pulverschneewehe schneite von den Ästen auf die Erde. Wäre sie länger als zwei Tage in Alaska gewesen, wüsste sie möglicherweise schon, woher der Wind überwiegend wehte, aber nicht mal damit war sie vertraut. Sie blickte nach oben, konnte die Sonne durch die Wipfel jedoch nicht sehen. Sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, in welche Richtung sie sich bewegte. Weit entfernt krächzten Raben, ganz nah knackte ein Zweig, und dicht über dem Boden raschelte etwas, ein Fuchs vielleicht. Es war extrem unverantwortlich gewesen, ohne Gewehr hier herauszukommen, so wie sie es gemacht hatte, als sie noch trank. Eine Gewohnheit, die sie hoffentlich ein für alle Mal abgelegt hatte. Sie nahm ein Vibrieren wahr, das sich dann langsam zum tiefen Heulen eines Motors steigerte. Sie war so erleichtert, dass sie hätte juchzen können. Das Geräusch näherte sich, und kurz darauf kam ein Schneemobil in Sicht. Edie grinste, winkte und wartete, aber das Gefährt setzte seinen Weg fort, ohne auch nur zu verlangsamen. Edie lief ihm in den Weg, schrie und gestikulierte wild mit den Händen. Der Fahrer schob sein Visier hoch, und heraus schauten zwei Augen, die inmitten des graumelierten Bartgewirrs fast verloren wirkten. Hinter ihm saß teilnahmslos eine Beifahrerin mit Silberfuchsfäustlingen an den Händen. Unter den Daunenparkas trugen beide anscheinend lange, bauschige Kasacks und dazu passende Hosen. Das Paar kam offensichtlich vom wöchentlichen Lebensmitteleinkauf. Das Schneemobil war über und über mit Taschen behängt. «Hey, haben Sie mich nicht winken gesehen?» Edie war ärgerlich. Hatten die Leute hier unten keine Manieren? «Ich habe mich verirrt. Ich muss zum Hatcher Pass zurück.» Der Mann zuckte die Achseln. «Sie sind hier auf Altgläubigen- Besitz», sagte er nur. Sie hätte am liebsten gesagt, ihr sei schnuppe, ob sie auf Leckmich-Besitz sei, aber sie beherrschte sich. «Ich weiß nicht mehr, wo mein Fahrzeug ist.» Der Mann blickte erstaunt, deutete dann aber mit dem Kopf in die Richtung, aus der er und seine Beifahrerin gerade gekommen waren. «Wenn Sie Ihre Spuren nicht finden können, folgen Sie unseren», sagte er. «Ist das Ihr Motorschlitten da unten auf dem Weg?» Motorschlitten. So nannten sie die Gefährte hier unten im Süden, in Alaska. Wo Edie herkam, fuhr man nicht einfach vorbei, wenn man ein Schneemobil sah, auf dem niemand saß, sondern hielt an, um zu sehen, ob jemand Hilfe brauchte. «Sind Sie immer so hilfsbereit?» Der Mann sog missbilligend die Luft durch die Zähne. «Die Sorgen der Welthaften sind nicht unsere Sorgen», sagte er und drehte sich zu der Frau hinter sich um. Danach wirkte er ein wenig nachgiebiger. «Wir haben es nicht gern, wenn Fremde sich unbefugt auf unserem Besitz herumtreiben, das ist alles. Ich an Ihrer Stelle würde mich hüten, so bald wieder dieses Weges zu kommen.» Damit löste er die Bremse, klappte sein Visier herunter und bediente den Gashebel. Das Schneemobil setzte sich in Bewegung, und Edie sah die zwei im finsteren Wald verschwinden. Sie kehrte um, die Spuren des Schneemobils immer im Blick behaltend, wie ihr der Mann geraten hatte. Kurze Zeit später war durch eine Lücke zwischen den Bäumen die Straße zu erkennen, die zurück in die Stadt führte, und in der Ferne erspähte sie ihr Schneemobil. Erleichtert ging sie darauf zu. Wo die Spuren schließlich dem Weg mit festgefahrenem Schnee wichen, erblickte sie am Fuß einer Fichte einen leuchtend gelben Gegenstand, der durch die Äste des Baumes vor Schnee geschützt war. Ihr kam der Gedanke, dass das Paar womöglich etwas von seinem Schneemobil geworfen hatte. Sie verließ den Weg und ging hin, um nachzusehen. Beim Näherkommen stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das gelbe Ding ein Miniaturhaus aus Holzbohlen war, einer kleinen Hundehütte nicht unähnlich, einen Meter lang und halb so breit, mit einem Schrägdach und stabilen Seitenwänden. Die Vorderseite war mit blumigen Ornamenten verziert, das Türchen mit einem groben Holzhebel versperrt. Edie sah sich um. Eine hauchdünne Schneeschicht hatte sich auf dem Dach angesammelt, aber an den Seiten war kein Schnee aufgehäuft, was darauf schließen ließ, dass die Hütte schon hier gestanden hatte, als es zuletzt schneite, aber höchstwahrscheinlich noch nicht viel länger. Ringsum waren weder Fußspuren von Tieren oder Menschen noch führten welche zu der Hütte hin. Sie stand da, als sei sie schon immer hier im Schnee gewesen, als würde sie einer anderen Wirklichkeit angehören und von kleinen Feen bewohnt. Jeder Gedanke an das Iditarod-Rennen war aus Edies Kopf verschwunden. Sie rief etwas, ohne jede Ahnung, wer oder was ihr antworten mochte, aber da war nichts als Stille. Bei der Hütte angekommen, duckte sie sich und legte den Hebel des Türchens um. Sie sah, dass drinnen etwas war, doch es war zu dunkel, um es deutlich zu erkennen. Ihr erster Gedanke war, es herauszuziehen, aber etwas hielt sie zurück. Der Geisterbär kam ihr in den Sinn, die Macht seiner stillen, gespenstischen Blässe. Plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass der Bär sie hierhergeführt hatte, dass die Geister ihren Boten gesandt hatten, um sie an diesen Ort zu bringen. Sie kehrte zum Schneemobil zurück, nahm ihre Taschenlampe aus der Satteltasche, stapfte wieder zu der Hütte und öffnete das Türchen ein zweites Mal. Der Strahl der Lampe fiel auf ein Paket, das in ein prächtig besticktes rotes Tuch gewickelt war. Edie streckte vorsichtig die Hand aus und fasste es an. Das Tuch war steif, aber nicht hart gefroren. Da schätzungsweise minus 25 Grad waren, war es selbst im relativen Schutz des Waldes unwahrscheinlich, dass es schon sehr lange dort lag. Edie machte das Türchen weit auf, griff hinein und zog an dem Ding. Es war nicht befestigt und kam leicht heraus. Der Stoff war kostbar, Satin, vermutete sie, über und über mit einem Muster aus Blumen und Ranken bestickt und mit mehreren zu Schleifen gebundenen Schnüren umwickelt. Was sich darin befand, war sehr hart, seit langem gefroren. Mit dem Paket in der Hand stand sie auf, ging zum Schneemobil und legte es auf den Sattel, um es genauer betrachten zu können. Unter dem verzierten Stoff befand sich ein viereckiges weißes Leinentuch. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, und sogleich löste sich das Tuch. Wie von selbst gingen die Schnüre um das Paket auf und enthüllten, was darin lag. Ihr stockte der Atem, ein beklemmendes Brennen schoss ihr den Rücken hinauf. Sie kniff die Augen zu, wollte das entsetzliche Etwas zum Verschwinden bringen, aber als sie die Augen wieder öffnete, war es noch da. Sie wich taumelnd zurück. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, sie hielt sich am nächsten Baum fest. Sie glaubte ohnmächtig zu werden, sich übergeben zu müssen, aber keins von beidem geschah. Sie schlug die Arme um sich, schloss die Augen und drückte sie so fest zu, bis der Schmerz sie beruhigte. Als ihr Atem wiederkehrte, ungleichmäßig, keuchend, ging sie vorsichtig zurück zu dem Entsetzlichen, das sie aus dem gelben Miniaturhaus befreit hatte. Auf dem Sattel des Schneemobils lag ein Baby, vielleicht ein, zwei Monate alt, auf dem Bauch, tot und steif gefroren. Die Ärmchen waren erhoben, die Händchen zu winzigen Fäusten geballt, die Haut glitzerte von Eiskristallen. An einer Schulter war die Haut narbig wie von Frostbrand, aber es gab keine weiteren Verletzungen oder Anzeichen, die darauf schließen ließen, wie oder wann das Baby gestorben war. Unendlich behutsam fasste Edie mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen das tote Kind an den Schultern und drehte es langsam herum. Es war die Leiche eines Jungen. Sein Gesichtchen war mit Eis überzogen, die Augen waren geschlossen, seine Miene sanft und friedlich. Er sah so wächsern aus, so abwesend, dass Edie sich einen winzigen Moment lang einredete, es sei eine Puppe, obwohl sie genau wusste, dass sie einen Leichnam vor sich hatte. Auf die zarte neue Haut des Jungen hatte jemand mit Fett und Zeichenkohle, möglicherweise auch mit Asche, ein kunstvolles, auf dem Kopf stehendes Kreuz gemalt. 2 Chuck Hillingberg, der Bürgermeister von Anchorage, half seiner Frau Marsha vor der Zentrale des Iditarod-Rennens aus dem Dienstwagen und strahlte in die Kameras. J. G. Dillard, sein Kollege im Rathaus von Wasilla, der einzige Bürgermeister in ganz Alaska mit Überkämmfrisur, schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, seine mausgraue Frau hinter sich herziehend, begierig, mit auf die Fotos zu kommen. Chuck interessierte der Mann nicht - anders als er selbst, der bei den kommenden Wahlen als Kandidat für den Gouverneursposten ins Rennen ging, strebte Bürgermeister Dillard nichts an - aber heute kam es darauf an, sich leutselig zu geben. «Es freut uns sehr, Sie beide hier zu haben», sagte Dillard. «Ich dachte, nach der langen Zeit in der Großstadt haben Sie womöglich ganz vergessen, dass Ihre Wurzeln hier in Wasilla sind.» Dies wurde in jovialem Ton geäußert, von Bürgermeister zu Bürgermeister, entbehrte aber nicht einer gewissen Spitze. Auf der Fahrt hierher (Chuck hatte den Bürgermeister-Hubschrauber nehmen wollen, doch Marsha hatte es ihm mit der Begründung ausgeredet, das wirke zu protzig, womit sie, wie so oft, richtig lag) hatte er beschlossen, sich in diesem Tagesabschnitt ganz und gar loyal zu geben. Jetzt war er noch keine fünf Minuten hier, und schon stellte Dillard seine Heimatverbundenheit in Frage. Das kotzte ihn an. Chuck schüttelte ihm die Hand. «Die Heimat vergesse ich nie, J. G.», sagte er. Das entsprach insofern der Wahrheit, als Chuck Jersey City in New Jersey, seine eigentliche Heimat, nicht vergessen hatte. Mit vier Jahren hatte er sie verlassen, und bis heute empfand er eine fast schmerzliche Sehnsucht nach ihr. Gegen Wasilla aber hegte er eine leidenschaftliche Abneigung. Die Leute schwärmten von der spektakulären Lage der Stadt, die im Süden von grünen Tälern, im Osten vom Chugach-Gebirge und im Norden von den Talkeetnabergen begrenzt wurde. Sie faselten von dem klaren Wasser der Stadt, von den christlichen Werten und dem Gemeinschaftsgeist. Leute wie J. G. Dillard.
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Autoren-Porträt von Melanie McGrath
Melanie McGrath wurde in Essex geboren. Sie ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihren Sachbüchern begeisterte sie Presse und Leser gleichermaßen, für ihr erstes Buch "Instant Karma" (Rowohlt, 1999) wurde sie als beste britische Autorin unter 35 mit dem "Llewelyn-Rhys-Mail on Sunday" -Preis ausgezeichnet. Nach "Im Eis" ist "Zeichen im Schnee" der zweite Roman in der Serie um die Inuk-Ermittlerin Edie Kiglatuk. Melanie McGrath schreibt für diverse britische Zeitungen und arbeitet außerdem als Radio-Redakteurin. Sie lebt in London. Sabine Längsfeld übersetzt bereits in zweiter Generation Literatur verschiedenster Genres aus dem Englischen in ihre Muttersprache. Zu den von ihr übertragenen AutorInnen zählen Anna McPartlin, Sara Gruen, Glennon Doyle, Malala Yousafzai, Roddy Doyle und Simon Beckett.
Bibliographische Angaben
- Autor: Melanie McGrath
- 2013, 1. Auflage, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Margarete Längsfeld, Sabine Längsfeld
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 3463405954
- ISBN-13: 9783463405957
- Erscheinungsdatum: 05.03.2013
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