Ein freies Leben
Roman
'Der preisgekrönte amerikanische Autor Ha Jin erzählt in einem großen Entwicklungsroman mit ergreifender Kraft vom Schicksal einer chinesischen Familie in den USA und von der Suche des Menschen nach Liebe und dem richtigen Platz im Leben.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein freies Leben “
'Der preisgekrönte amerikanische Autor Ha Jin erzählt in einem großen Entwicklungsroman mit ergreifender Kraft vom Schicksal einer chinesischen Familie in den USA und von der Suche des Menschen nach Liebe und dem richtigen Platz im Leben.
Klappentext zu „Ein freies Leben “
'Der chinesische Student Nan Wu und seine Frau Pingping entschließen sich im Sommer 1989, kurz nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, in den USA zu bleiben und dort ein neues Leben zu beginnen. Es sollte nur ein Studienaufenthalt werden, doch mit jedem Jahr in den Staaten steigt die Wut auf die politischen Verhältnisse in der fernen Heimat. Endlich dürfen sie nun auch ihren sechsjährigen Sohn Taotao zu sich holen, der sich schnell an die neue Umgebung gewöhnt. Nan aber träumt davon, ein großer Dichter zu sein, und hat es wesentlich schwerer: Ihn plagen Schuldgefühle seiner Frau gegenüber, der er sich eher solidarisch als in Liebe verbunden fühlt, weil er seine Jugendfreundin Beina nicht vergessen kann; schwer wiegt auch die Verantwortung, seiner Familie ein sicheres Auskommen zu ermöglichen. Über zwölf Jahre begleiten wir Leser den Alltag der Familie Wu, ihr tägliches Ringen um Heimat, Liebe und Glück. Seite für Seite wachsen sie uns ans Herz, weil unsere eigenen Träume sich in den ihren spiegeln.
Lese-Probe zu „Ein freies Leben “
Ein Freies Leben von Ha Jin
Endlich war Taotao im Besitz von Pass und Visum. Seine Eltern hatten wochenlang in der Angst gelebt, China könnte, wenn nicht die Grenzen schließen, so doch Ausreisebeschränkungen verhängen. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 hatten alle amerikanischen Fluglinien mit Ausnahme der United Airlines ihre Flüge nach Beijing und Schanghai gestrichen. Pingping brach beim Eintreffen dieser guten Nachricht in Tränen aus. Rasch spülte sie das Sieb aus, in dem sie die geraspelten Rüben für den Quallensalat gewässert hatte, nahm die Schürze ab und machte sich mit ihrem Mann Nan Wu in die Innenstadt von Woodland auf zu Travel International.
Das Flugticket war um siebzig Prozent teurer als sonst, da sie es nicht drei Wochen im Voraus hatten kaufen können. Doch die Wus zögerten nicht; Taotao rechtzeitig und sicher aus China herauszubringen, rechtfertigte jeden Preis. Für sich selbst buchten sie außerdem Hin- und Rückflug von Boston nach San Francisco.
... mehr
Weder Pingping noch Nan Wu konnten nach China zurück, um Taotao, der die letzten drei Jahre bei Pingpings Eltern gelebt hatte, abzuholen. Und da in Pingpings Familie niemand einen Reisepass besaß – die Schwierigkeit, von der amerikanischen Botschaft ein Einreisevisum zu bekommen, einmal beiseitegelassen –, musste der Junge allein fliegen. Pingpings Bruder, Physiklehrer in einer Mittelschule, war gerade für die Sommerferien nach Hause gekommen und hatte sich bereit erklärt, seinen Nef
fen von Jinan nach Schanghai zu bringen. Dort würde er Taotao den amerikanischen Stewardessen anvertrauen. Mit seinen knapp sechs Jahren durfte der Kleine nur in Begleitung Erwachsener in ein anderes Flugzeug umsteigen, weshalb seine Eltern ihn in San Francisco abholen mussten. Die Dame im Reisebüro, eine vollbusige Brünette mit olivenfarbener Haut und langem Haar, war Nan behilflich, ein möglichst billiges Zimmer unweit des Union Square zu reservieren. Dort würden die drei eine Nacht verbringen, bevor sie nach Boston zurückflogen. Insgesamt kostete sie das an die 3000 Dollar. Nie zuvor hatten die Wus so viel Geld ausgegeben.
Am 11. Juli kamen sie frühmorgens in San Francisco an. Das Wetter war wider Erwarten kühl; ein frischer Wind fuhr den Passanten durchs Haar und ließ sie blinzeln. Am Abend zuvor war ein Unwetter niedergegangen; es hatte Ladenschilder zerfetzt und durchweicht sowie einige Verkehrsampeln außer Kraft gesetzt, die nun unaufhörlich blinkten. Dafür glänzten die dunklen Fassaden mancher Gebäude wie frisch gewaschen, und der kräftige Wind brachte den Geruch des Ozeans mit. Pingping, die keine warmen Sachen dabeihatte, zitterte vor Kälte und bekam auf dem Weg zum Hotel einen heftigen Schluckauf. Nan massierte ihr den Nacken, um die Krämpfe zu lösen, und schlug ihr auf den Rücken. Der Trick hatte schon hin und wieder funktioniert, aber diesmal half er nicht.
Nan hatte bereits zweimal bei United Airlines angerufen, um herauszufinden, ob Taotao tatsächlich an Bord war, aber niemand konnte ihm Genaues sagen. Man teilte ihm nur mit, dass der Name des Jungen nicht auf der Liste im Computer stehe. Die Situation in China war nach wie vor chaotisch. Viele Reisende, deren Gesellschaften den Flugbetrieb eingestellt hatten, waren auf diese Maschine umgebucht worden, und es existierten noch keine verlässlichen Passagierlisten. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Wu«, tröstete ihn eine angenehme weibliche Stimme, »es müsste alles klappen mit Ihrem Sohn.«
»Wir haben gehöa-t, er ist an Boa-d«, insistierte Nan. Noch immer hatte er hin und wieder Schwierigkeiten mit dem R.
»Dann wird es wohl so sein.«
»Können Sie das übea-prüfen?«
»Ich fürchte, nein, Sir. Wie gesagt, es müsste klappen.«
Aber zwischen »müsste« und »wird« klaffte für die Eltern des Jungen ein Abgrund der Ungewissheit. Wenn sie nur gewusst hätten, wo ihr Sohn sich derzeit befand!
Nans Schwager hatte am Telefon gesagt, er habe Taotao einer Gruppe amerikanischer Stewardessen übergeben, darunter eine Asiatin, die ein wenig Mandarin sprach. Die Wus konnten nur hoffen, dass Taotao sich tatsächlich an Bord der Maschine befand.
Drei Stunden nach ihrer Ankunft im Hotel fuhren sie schon wieder mit dem Shuttlebus zum Flughafen zurück. Die Maschine sollte um 12.30 Uhr landen. Da es sich um einen internationalen Flug handelte, durften die Wus das Ankunftsterminal nicht betreten. Sie mussten außerhalb der Zollkontrolle warten und starrten auf die kastanienbraune Tür, die offenbar beschlossen hatte, sich nie mehr öffnen zu wollen. Mehrmals erkundigten sie sich am Schalter, ob Taotao an Bord sei, doch niemand konnte ihnen das bestätigen. Dann erschien eine hagere Frau mit breitem Gesicht und dunkelblauer Uniform. Sie sah zwar chinesisch aus, sprach aber nur Englisch. In der Hoffnung, von ihr etwas über Taotao zu erfahren, wandten die beiden sich an sie. Augenblicklich verhärtete sich das Gesicht mit dem runden Kinn, die Frau schüttelte den Kopf. »Wenn die Dame am Schalter Ihnen nicht weiterhelfen konnte, kann ich es auch nicht.«
Verzweifelt bekniete Pingping sie auf Englisch: »Bitte Sie prüfen. Er ist einziges Kind, erst sechs. Ich habe drei Jahre nicht gesehen.«
»Ich sagte doch schon, ich kann Ihnen nicht helfen. Außerdem habe ich zu tun.«
Nan wollte sie ebenfalls um Hilfe bitten, unterließ es aber, als er ihren gereizten Gesichtsausdruck sah. In ihren Augen, in denen das Weiß gegenüber dem Schwarz überwog, glaubte er, eine Spur von Verachtung zu erkennen. Vermutlich weil die Frau annahm, dass sie vom chinesischen Festland kamen und immer noch durch und durch rot waren.
Er legte den Arm um Pingping und flüsterte ihr auf Chinesisch zu: »Warten wir noch ein bisschen. Ich bin sicher, er kommt bald. Man soll sich nicht unnötig verrückt machen.«
Es irritierte ihn, wie seine Frau die Angestellte der Fluggesellschaft angefleht hatte. Pingping, die dreiunddreißig war, hätte man wegen ihrer lebhaften Augen, der geraden Nase, dem schmalen Kinn und der zierlichen Figur leicht zehn Jahre jünger schätzen können. Vielleicht neidete diese Frau ihr das gute Aussehen und hatte Spaß daran, sie leiden zu sehen.
Endlich öffnete sich die Tür und entließ eine ganze Reihe von Fluggästen. Die meisten wirkten erschöpft; ihr Blick war glanzlos und müde, manche gingen mit unsicheren Schritten und zogen Rollkoffer oder Reisetaschen hinter sich her. Die Wus traten näher und starrten die Neuankömmlinge an. Einer nach dem anderen kam an ihnen vorbei. »Hey, Toni, schön, dass du da bist!«, schrie ein großer Mann in ausgebeultem Sakko. Er streckte den rechten Arm aus, über seiner linken Schulter hing eine Ukulele in dunklem Leinwandfutteral. Toni, eine magere junge Frau mit Nasenpiercing und vielen Zöpfchen, vergrub das Gesicht in seiner Schulter. Abgesehen von diesem Glücksmoment wirkten die Passagiere benommen und niedergeschlagen. Einige Asiaten blickten suchend umher und fragten sich offenbar, ob vielleicht einer der Abholer ihretwegen gekommen sei.
Innerhalb von fünf Minuten hatten alle Neuankömmlinge die Zollkontrolle passiert. Langsam schloss sich die Tür. Kalte Furcht senkte sich in Nans Herz; Pingping begann zu schluchzen. »Die müssen ihn verloren haben! Bestimmt haben sie ihn verloren!«, stöhnte sie auf Chinesisch. Sie packte Nan am Handgelenk und jammerte: »Ich habe gleich gesagt, wir sollten dieses Risiko nicht eingehen, aber du wolltest ja nicht hören.«
»Es wird alles gut, glaub mir.« Seine unsichere Stimme konnte nicht einmal ihn selbst überzeugen.
In der Ankunftshalle war es wieder still und fast menschenleer. Nan wusste nicht, was er tun sollte, und sagte zu Pingping: »Lass uns noch ein wenig warten, ja?«
»Das war die einzige Maschine aus China heute. Mach mir nichts
vor! Ist doch klar, dass er nicht an Bord war. Hätten wir bloß gewartet, bis jemand ihn begleiten kann. So etwas darf man nicht überstürzen.«
Dann öffnete sich die Tür erneut. Zwei Stewardessen traten in die Halle, die eine, groß und blond, hielt einen kleinen Jungen an der Hand, während die andere, eine Zierliche mit freundlichen Augen, sein rotes Köfferchen trug. »Taotao!«, schrie Pingping und rannte auf ihn zu. Sie schloss ihn in die Arme und bedeckte sein Ge sicht mit Küssen. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Geht es dir gut?«
Der Junge im Matrosenanzug lächelte. »Mama, Mama«, wimmerte er und drückte den Kopf an ihre Brust, als würde er sich vor den anderen verstecken. Dann blickte er zu Nan hinüber, doch in seiner Miene lag kein Zeichen des Wiedererkennens.
»Das ist dein Papa, Taotao«, sagte seine Mutter.
Der Junge sah noch einmal hin und lächelte seinen Vater dann zögerlich an, so als würde ihm ein älterer Freund vorgestellt. Pingping überhäufte ihn unterdessen mit Küssen, tätschelte seinen Rücken und strich ihm über den Kopf.
Die beiden Stewardessen baten Nan, sich auszuweisen, und er zeigte seinen Führerschein vor. Sie verglichen seinen Namen mit dem auf ihren Formularen, dann beglückwünschten sie ihn zur Familienzusammenführung.
»Er ist ganz brav und ruhig gewesen während des Fluges, er hatte nur ein bisschen Angst«, sagte die Kleinere, die aussah, als käme sie aus Malaysia. Sie reichte Nan den Koffer.
Er nahm ihn mit beiden Händen entgegen. »Vielen Dank für Ihre Bemühungen.«
»Es war uns ein Vergnügen«, sagte die Blonde mit der Dauerwelle; ihr stark geschminktes Gesicht wirkte ein wenig verknittert, als sie ihm zulächelte. »Es ist wunderbar, wenn eine Familie wieder vereint ist.«
Noch bevor Pingping etwas erwidern konnte, gingen die beiden Stewardessen davon, als gehörte dies zur täglichen Routine. »Danke!«, brachte sie schließlich heraus. Die beiden wandten die Köpfe und winkten, dann verschwanden sie in Richtung Gate.
fen von Jinan nach Schanghai zu bringen. Dort würde er Taotao den amerikanischen Stewardessen anvertrauen. Mit seinen knapp sechs Jahren durfte der Kleine nur in Begleitung Erwachsener in ein anderes Flugzeug umsteigen, weshalb seine Eltern ihn in San Francisco abholen mussten. Die Dame im Reisebüro, eine vollbusige Brünette mit olivenfarbener Haut und langem Haar, war Nan behilflich, ein möglichst billiges Zimmer unweit des Union Square zu reservieren. Dort würden die drei eine Nacht verbringen, bevor sie nach Boston zurückflogen. Insgesamt kostete sie das an die 3000 Dollar. Nie zuvor hatten die Wus so viel Geld ausgegeben.
Am 11. Juli kamen sie frühmorgens in San Francisco an. Das Wetter war wider Erwarten kühl; ein frischer Wind fuhr den Passanten durchs Haar und ließ sie blinzeln. Am Abend zuvor war ein Unwetter niedergegangen; es hatte Ladenschilder zerfetzt und durchweicht sowie einige Verkehrsampeln außer Kraft gesetzt, die nun unaufhörlich blinkten. Dafür glänzten die dunklen Fassaden mancher Gebäude wie frisch gewaschen, und der kräftige Wind brachte den Geruch des Ozeans mit. Pingping, die keine warmen Sachen dabeihatte, zitterte vor Kälte und bekam auf dem Weg zum Hotel einen heftigen Schluckauf. Nan massierte ihr den Nacken, um die Krämpfe zu lösen, und schlug ihr auf den Rücken. Der Trick hatte schon hin und wieder funktioniert, aber diesmal half er nicht.
Nan hatte bereits zweimal bei United Airlines angerufen, um herauszufinden, ob Taotao tatsächlich an Bord war, aber niemand konnte ihm Genaues sagen. Man teilte ihm nur mit, dass der Name des Jungen nicht auf der Liste im Computer stehe. Die Situation in China war nach wie vor chaotisch. Viele Reisende, deren Gesellschaften den Flugbetrieb eingestellt hatten, waren auf diese Maschine umgebucht worden, und es existierten noch keine verlässlichen Passagierlisten. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Wu«, tröstete ihn eine angenehme weibliche Stimme, »es müsste alles klappen mit Ihrem Sohn.«
»Wir haben gehöa-t, er ist an Boa-d«, insistierte Nan. Noch immer hatte er hin und wieder Schwierigkeiten mit dem R.
»Dann wird es wohl so sein.«
»Können Sie das übea-prüfen?«
»Ich fürchte, nein, Sir. Wie gesagt, es müsste klappen.«
Aber zwischen »müsste« und »wird« klaffte für die Eltern des Jungen ein Abgrund der Ungewissheit. Wenn sie nur gewusst hätten, wo ihr Sohn sich derzeit befand!
Nans Schwager hatte am Telefon gesagt, er habe Taotao einer Gruppe amerikanischer Stewardessen übergeben, darunter eine Asiatin, die ein wenig Mandarin sprach. Die Wus konnten nur hoffen, dass Taotao sich tatsächlich an Bord der Maschine befand.
Drei Stunden nach ihrer Ankunft im Hotel fuhren sie schon wieder mit dem Shuttlebus zum Flughafen zurück. Die Maschine sollte um 12.30 Uhr landen. Da es sich um einen internationalen Flug handelte, durften die Wus das Ankunftsterminal nicht betreten. Sie mussten außerhalb der Zollkontrolle warten und starrten auf die kastanienbraune Tür, die offenbar beschlossen hatte, sich nie mehr öffnen zu wollen. Mehrmals erkundigten sie sich am Schalter, ob Taotao an Bord sei, doch niemand konnte ihnen das bestätigen. Dann erschien eine hagere Frau mit breitem Gesicht und dunkelblauer Uniform. Sie sah zwar chinesisch aus, sprach aber nur Englisch. In der Hoffnung, von ihr etwas über Taotao zu erfahren, wandten die beiden sich an sie. Augenblicklich verhärtete sich das Gesicht mit dem runden Kinn, die Frau schüttelte den Kopf. »Wenn die Dame am Schalter Ihnen nicht weiterhelfen konnte, kann ich es auch nicht.«
Verzweifelt bekniete Pingping sie auf Englisch: »Bitte Sie prüfen. Er ist einziges Kind, erst sechs. Ich habe drei Jahre nicht gesehen.«
»Ich sagte doch schon, ich kann Ihnen nicht helfen. Außerdem habe ich zu tun.«
Nan wollte sie ebenfalls um Hilfe bitten, unterließ es aber, als er ihren gereizten Gesichtsausdruck sah. In ihren Augen, in denen das Weiß gegenüber dem Schwarz überwog, glaubte er, eine Spur von Verachtung zu erkennen. Vermutlich weil die Frau annahm, dass sie vom chinesischen Festland kamen und immer noch durch und durch rot waren.
Er legte den Arm um Pingping und flüsterte ihr auf Chinesisch zu: »Warten wir noch ein bisschen. Ich bin sicher, er kommt bald. Man soll sich nicht unnötig verrückt machen.«
Es irritierte ihn, wie seine Frau die Angestellte der Fluggesellschaft angefleht hatte. Pingping, die dreiunddreißig war, hätte man wegen ihrer lebhaften Augen, der geraden Nase, dem schmalen Kinn und der zierlichen Figur leicht zehn Jahre jünger schätzen können. Vielleicht neidete diese Frau ihr das gute Aussehen und hatte Spaß daran, sie leiden zu sehen.
Endlich öffnete sich die Tür und entließ eine ganze Reihe von Fluggästen. Die meisten wirkten erschöpft; ihr Blick war glanzlos und müde, manche gingen mit unsicheren Schritten und zogen Rollkoffer oder Reisetaschen hinter sich her. Die Wus traten näher und starrten die Neuankömmlinge an. Einer nach dem anderen kam an ihnen vorbei. »Hey, Toni, schön, dass du da bist!«, schrie ein großer Mann in ausgebeultem Sakko. Er streckte den rechten Arm aus, über seiner linken Schulter hing eine Ukulele in dunklem Leinwandfutteral. Toni, eine magere junge Frau mit Nasenpiercing und vielen Zöpfchen, vergrub das Gesicht in seiner Schulter. Abgesehen von diesem Glücksmoment wirkten die Passagiere benommen und niedergeschlagen. Einige Asiaten blickten suchend umher und fragten sich offenbar, ob vielleicht einer der Abholer ihretwegen gekommen sei.
Innerhalb von fünf Minuten hatten alle Neuankömmlinge die Zollkontrolle passiert. Langsam schloss sich die Tür. Kalte Furcht senkte sich in Nans Herz; Pingping begann zu schluchzen. »Die müssen ihn verloren haben! Bestimmt haben sie ihn verloren!«, stöhnte sie auf Chinesisch. Sie packte Nan am Handgelenk und jammerte: »Ich habe gleich gesagt, wir sollten dieses Risiko nicht eingehen, aber du wolltest ja nicht hören.«
»Es wird alles gut, glaub mir.« Seine unsichere Stimme konnte nicht einmal ihn selbst überzeugen.
In der Ankunftshalle war es wieder still und fast menschenleer. Nan wusste nicht, was er tun sollte, und sagte zu Pingping: »Lass uns noch ein wenig warten, ja?«
»Das war die einzige Maschine aus China heute. Mach mir nichts
vor! Ist doch klar, dass er nicht an Bord war. Hätten wir bloß gewartet, bis jemand ihn begleiten kann. So etwas darf man nicht überstürzen.«
Dann öffnete sich die Tür erneut. Zwei Stewardessen traten in die Halle, die eine, groß und blond, hielt einen kleinen Jungen an der Hand, während die andere, eine Zierliche mit freundlichen Augen, sein rotes Köfferchen trug. »Taotao!«, schrie Pingping und rannte auf ihn zu. Sie schloss ihn in die Arme und bedeckte sein Ge sicht mit Küssen. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Geht es dir gut?«
Der Junge im Matrosenanzug lächelte. »Mama, Mama«, wimmerte er und drückte den Kopf an ihre Brust, als würde er sich vor den anderen verstecken. Dann blickte er zu Nan hinüber, doch in seiner Miene lag kein Zeichen des Wiedererkennens.
»Das ist dein Papa, Taotao«, sagte seine Mutter.
Der Junge sah noch einmal hin und lächelte seinen Vater dann zögerlich an, so als würde ihm ein älterer Freund vorgestellt. Pingping überhäufte ihn unterdessen mit Küssen, tätschelte seinen Rücken und strich ihm über den Kopf.
Die beiden Stewardessen baten Nan, sich auszuweisen, und er zeigte seinen Führerschein vor. Sie verglichen seinen Namen mit dem auf ihren Formularen, dann beglückwünschten sie ihn zur Familienzusammenführung.
»Er ist ganz brav und ruhig gewesen während des Fluges, er hatte nur ein bisschen Angst«, sagte die Kleinere, die aussah, als käme sie aus Malaysia. Sie reichte Nan den Koffer.
Er nahm ihn mit beiden Händen entgegen. »Vielen Dank für Ihre Bemühungen.«
»Es war uns ein Vergnügen«, sagte die Blonde mit der Dauerwelle; ihr stark geschminktes Gesicht wirkte ein wenig verknittert, als sie ihm zulächelte. »Es ist wunderbar, wenn eine Familie wieder vereint ist.«
Noch bevor Pingping etwas erwidern konnte, gingen die beiden Stewardessen davon, als gehörte dies zur täglichen Routine. »Danke!«, brachte sie schließlich heraus. Die beiden wandten die Köpfe und winkten, dann verschwanden sie in Richtung Gate.
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Autoren-Porträt von Ha Jin
Ha Jin, geb. 1956 in der nordchinesischen Stadt Jinzhou, wo sein Vater, ein Offizier, stationiert war, trat mit 14 trat in die Volksbefreiungsarmee ein. 1977 wurden die im Zuge der Kulturrevolution geschlossenen Universitäten wieder eröffnet und Ha Jin begann an der Heilonjiang Universität Englisch zu studieren. Er wechselte einige Jahre später an die Shandong Universität, wo er seine Frau Lisha Bian kennen lernte, eine Mathematikdozentin. 1985 ging er in die USA, um an der Brandeis University in Waltham zu promovieren. 1987 begann er Gedichte in englischer Sprache zu verfassen, seit 1989 auch literarische Prosa. Er hat seit 1993 eine Professur für Englische Literatur an der Emory University inne und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn Wen in der Nähe von Atlanta. Seit 1997 ist er amerikanischer Staatsbürger. Von den Eltern seiner Frau, die Ärzte bei der Armee waren, hörte er die Geschichte eines Militärarztes, der 18 Jahre auf seine Scheidung wartete. Anfang der Neunziger beganner 'Warten' zu schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ha Jin
- 2009, 637 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Hornfeck, Sonja Hauser
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550087233
- ISBN-13: 9783550087233
Rezension zu „Ein freies Leben “
»Ha Jin schreibt mit dieser einfachen Bestimmtheit, von der die meisten Autoren nur träumen können.« New York Times Magazine »Ha Jins Sprache ist so unprätentiös, als solle sie ganz hinter dem Erzähltem zurücktreten, den schlichten Alltagssituationen, die die Nöte einer sozial benachteiligten Migrantenfamilie illustrieren. Es geht um das tastende Ausloten der eigenen Möglichkeiten im fremden Land, die latente Furcht vor Missverständnis, die ständige Erwartung, übers Ohr gehauen zu werden.« FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG/ Ariane Breyer/ 12.03.09 Von der Sehnsucht nach Freiheit»Ha Jin erzählt in seinem großen Entwicklungsroman mit ergreifender Kraft vom Schicksal einer chinesischen Familie in den USA. Ein freies Leben hält die Balance, durch die sich die großen von den kleinen Romanen unterscheiden.« FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG /22.02.09 /Andreas Kilb »Ein freies Leben ist ein unspektakuläres, durch Genauigkeit bestechendes Buch.« DAS MAGAZIN/ 21./22.02.09 »Ein kraftvolles und kluges Migrantenepos« MADAME/ 2009/03 » Ha Jin kommt in seinem Roman ohne spektakuläre Aktionen oder rasante Effekte aus. Er erzählt ein ganz alltägliches Leben mit seinen Höhen und Tiefen. Die Orientierung an amerikanischen Schriftstellern wie John Steinbeck (1902-1968) ist unübersehbar. Wie bei dem Träger des Literaturnobelpreises von 1962 gerät auch bei Ha Jin die Schilderung des Alltags zu einer eindringlichen Sozialkritik. Bei Ha Jin ist sie vielleicht noch leiser, Ironie oder Situationskomik sind noch verhaltener.« dpa/11.03.09/Katrin Börner »Ha Jin erzählt so akribisch, dass das Lesen bisweilen eine fast meditative Wirkung hat.« FÜR SIE / 03.03.09 »Ein leises Werk, psychologische Millimeterarbeit« MÄRKISCHE ALLGEMEINE/ 08.03.09/Lars Grote »Ein Loblied auf die Kraft der Sprache, die Grenzen überwindet und Kulturen vereint.«
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NDR1/24.03.09 / Margarete von Schwarzkopf »Selbst winzigste Anekdoten aus dem Einerlei seines sich zwar aufrecht um das Wohl seiner Kleinfamilie sorgenden Antihelden geraten ihm zur leuchtenden literarischen Miniatur, kurze, schlaglichtartige Beschreibungen, staunenswert schmucklos dargeboten.« Freitag/ Peter Henning/02.04.09
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Kommentar zu "Ein freies Leben"
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