Ein Haus am Ende der Welt
Ein Haus am Ende der Welt von Lis Vibeke Kristensen
LESEPROBE
Joyce
Ich bin im achtenMonat, und der Arzt des Stützpunkts tätschelt mir das Knie unter dem Laken, dasentweder mein oder sein Schamgefühl schonen soll, während ich mit den Beinen inden Schienen des Stuhls liege und mich darauf konzentriere, keinen fahren zulassen.
SolcheProbleme seien bei Schwangeren vollkommen normal, sagt er und lächelt seinzuvorkommendes Ärztelächeln.
DieBlähungen sind aber gar nicht mein Problem. Mein Problem ist, daß ich gar nicht schwanger sein will. Ich will nicht ineinem Kleidungsstück herumwatscheln, das einem Viermannzelt ähnelt. Ich will involler Feldausrüstung auf verschneiten Bergpfaden marschieren. Ich will michhinter einen Busch hocken können, meinen Durst mit lauwarmem Wasser aus einerFeldflasche löschen und die Nächte unter einem Moskitonetz verbringen.
Moskitonetzekönnte man in diesem Land an und für sich auch gut gebrauchen, aber Mücken sindmeine geringste Sorge an diesem Vormittag, an dem ich an einer Kreuzung in Reykjavík stehe und so diskret wie nur möglich einen fahrenlasse.
MeineGase riechen genauso schlimm wie die Schwefeldämpfe, die in diesem Land überalldort aus der Erde aufsteigen, wo man am wenigsten damit rechnet. Ich hoffe, dieUmstehenden halten das für eine Naturerscheinung, während ich darauf warte, daß der Verkehr nachläßt.
DerGestank aus meinem Inneren ist nur eines der Symptome meines Verfalls. MeinGehirn ist ein Moorloch, aus dem nur Sumpfgas entweicht. Ich werde ausfälliggegen alle und jeden und besonders gegen den armen Bill, der nur das getan hat,was von einem Mann in seiner Situation zu erwarten war, nämlich mich zuheiraten, als es für die morgendliche Übelkeit und die ausgebliebene Regelkeine Ausrede mehr gab.
Ich binfünfundzwanzig und sitze in einer furchtbaren Falle. Wäre nicht alles sokatastrophal, dann könnte ich an dieser Alliteration sogar Gefallen finden.
Bill,durchtrainiert und fürchterlich uninspirierend, hat von mir geträumt, seit wirin der High-School ein Liebespaar waren. Es ist nichtauszuschließen, daß er seit dem Moment, in dem ich sein Organ losließ, kurz bevor er auf der Rückbank desPontiacs meines Vaters gekommen wäre, mit einer Erektion herumgelaufen ist.
Partnersind, wie meine Basisgruppe schon lange festgestellt hat, ein notwendigesmentalhygienisches Übel und nur dazu geeignet, die Spannungen abzubauen, dieeinen daran hindern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In meinem Fallmein Fachgebiet, das ich mit unglaublicher Leidenschaft liebe. Sprache ist dieLuft, die ich zum Atmen brauche, und die linguistische Anthropologie verleihtmeiner Existenz ihren Sinn.
Als Billalso auf der Hochzeit meiner Schwester auftauchte, bei der ich eine etwasüberreife Brautjungfer darstellte, sah ich das als reine Entspannung.
Margerauschte in Taft und Tüll und auf Vaters Arm gestützt durch den Mittelgang, undich stand in malvenfarbenem Musselin mit einempassenden Strauß Margeriten da, und meine Gedanken kreisten um meineDoktorarbeit, die zu diesem Zeitpunkt
nur noch eine Frage von Zeit und Fleiß war. Und dann stand er
vor mir.
Mr. Middle America in frisch gebügelter Galauniform, mit glattrasiertem Nacken und glatter Haut, nach frischgeputztenSchuhen, Menthol und frischgereinigter Gabardineduftend.
Einalter Beau. Wo fühlt man sich geborgener als in einer Umarmung, die man kenntund die man bequem auf der Suche nach neuen Abenteuern wieder verlassen kann?
Odereben nicht.
DieFalle ist zugeschnappt. Es ist was unterwegs, und eine illegale Abtreibung istkeine Alternative. Obwohl ich das Geld vielleicht sogar aufbringen könnte, hatdie Sonntagsschule trotz allem ihre Spuren hinterlassen. Und Höllenqualenerscheinen mir weniger reizvoll als der schöne, langweilige Bill. Es gibtjedoch keinen Grund, die Familie mit einer weiteren Hochzeit zu behelligen.
EinFriedensrichter verwandelt in zweieinhalb Minuten Joyce DeirdreDunne M.A. in Mrs. William D. Turnbull.
Inmeinem keuschen Jugendzimmer übergebe ich mich so geräuschlos wie möglich ineine Plastiktüte, wenn ich nicht gerade das Notwendigste zusammenpacke, vorallen Dingen meine Reiseschreibmaschine, und einen Artikel über die isländischeSprachpolitik plane, der mein geistiges Überleben sichern soll, bis das Kindauf der Welt ist.
Ich weißnoch nicht, daß jeder Ehrgeiz, der das morgendliche Sich-aus-dem-Bett-Quälen übersteigt, unausweichlich blasenziehend in dem mentalen Morast versinkt, den dasMutterwerden mit sich bringt.
Wennschon etwas so Normales wie eine Schwangerschaft meine intellektuellen Fähigkeitenin diesem Ausmaß lähmt, wie sieht es dann erst aus, wenn daraus unausweichlichein Kind mit seinem unbestreitbaren Anrecht auf Stillen, Baden, Wickeln, Wiegenund Trost resultiert?
DasErgebnis meiner rudimentären Überlegungen über die Zukunft läßtsich in drei Worten zusammenfassen: Angst, Schrecken, Panik.
DerVerkehr rauscht an mir vorbei, so wie der Verkehr in dieser Einöde ebenrauscht. Meist sind es klapprige Karren, die die
Soldaten des Stützpunktes, die in die Heimat zurückgekehrt sind, mit Profitverkauft haben. Heckflossen und lila Lack dominieren. Auf den Schotterstraßenfahren alle schnell, wie richtige Wikinger eben.
Ein Buskeucht die leichte Steigung hinauf. Im Schutz des Lärms lasse ich noch einenfahren und verlagere dann mein nicht unbeträchtliches Gewicht auf das andereBein.
Ichstehe an einer Kreuzung in einem Ort, bei dem es sich wahrscheinlich um Reykjavík handelt. Direkt nach meiner Ankunft, ehe meineFigur ihre gegenwärtigen nilpferdhaften Ausmaßeannahm und mein Gehirnschwund einsetzte, wußte ichnoch, was der Name der Stadt bedeutet. Ich legte mir ein Wörterbuch zu, machtemich mit den Deklinationen der Substantive vertraut und telefonierte mit demnationalen Sprachinstitut.
Jetztbin ich mir nicht mehr sicher, ob Straßen über Namen verfügen oder Substantive Deklinationsendungen besitzen. Mein Horizont endet beimgegenüberliegenden Bürgersteig, wo ein roter Ballon im Wind treibt.
Einroter Ballon. Keiner dieser eleganten, heliumgefüllten, die befreit in denHimmel fliegen, sondern einer, den irgendeine ermattete Mutter mit der letztenKraft ihrer erschöpften Lungen aufgeblasen hat. Vielleicht kommt er direkt vonmeinem eigenen Stützpunkt. Ein echter amerikanischer Ballon, den ein Windstoßjetzt über die Straße treibt.
Einkleiner Junge wirft sich bereits über die Bordsteinkante. Seine entsetztenAugen sind auf den Ballon gerichtet. Seinen Ballon, vermute ich. Den amheißesten begehrten Ballon in der Geschichte Reykjavíks,nach dem Geheul des Knäbleins zu urteilen, als ihnseine Mutter am Ärmel packt und davor bewahrt, sich vor den Bus zu werfen.
Zweikräftige Windstöße schleudern den Ballon auf meine Seite, aber meineKörperfülle hindert mich daran, ihm nachzueilen, und er treibt weiter. Über denRasen des kleinen Parks, über die nächste Straße und den Abhang hinunter aufden schwarzblauen Atlantik zu.
DerJunge heult. Seine Mutter schüttelt ihn. Der Junge stampft wütend auf. DieMutter schüttelt ihn noch mehr.
Miteinem Quietschen hat der Bus gebremst. Vorn auf der Hose, die der Junge trägt,breitet sich rasch ein dunkler Fleck aus. Ein dünnes gelbes Rinnsal läuft ausseinem Hosenbein und bildet auf dem rissigen Asphalt des Bürgersteigs einePfütze.
Schwerfälligfährt der Bus an, und als er vorbei ist, sind die
beiden fort. Vermutlich sind sie auf die unterirdische Toilette verschwunden,die auch ich ab und zu benutze.
Sie sindfort, aber ich habe genug gesehen.
Getriebenvon dem Willen, mit dem ich auch mein Studium als Mitglied von Phi Beta Kappa in Rekordzeit mitBestnote abgeschlossen habe, getragen von unsichtbaren Flügeln und ohne nachrechts und links zu sehen, lege ich die Meilen zurück, die mich von demtrennen, was man als die Freiheit bezeichnen könnte.
Statt die Schritte Richtung Stützpunkt zu lenken, biege ich zumVerkehrsflugplatz ab, und obwohl die Nachrichten am Morgen voll davon waren,habe ich vergessen, daß heute Bobby-Tag ist. Mr.Fischer, das Schachwunder, hat endlich eingesehen, was sich gehört, und seinErscheinen angekündigt. Auf der anderen Seite des Globus bomben unsere Jungsdie Kommunisten zurück in die Steinzeit, auf dieser Seite konzentrieren wir unsdarauf, sie im Schach zu besiegen.
Einegrößere Menschenmenge sammelt sich an, aber die Größe meines Bauchs verschafftmir freien Durchgang. Niemand hat den Mut, in der Nähe zu sein, wenn dasFruchtwasser abgeht. So kann ich ungehindert Bobbys wieselähnliche Gestalt inAugenschein nehmen, die sich in den Schutz eines niedrigen, europäischen Autosflüchtet, um sich zu der Arena zu begeben, in der er die sogenannteZivilisation gegen die Barbaren verteidigen will.
Siehaben uns reingelegt, Bobby. Ich melde mich jetzt ab, was ist mit dir?
Als ichschließlich in der Abfertigungshalle stehe, fällt mir ein erschwerender Umstandauf. Ich habe kein Geld für ein Ticket.
InColorado ist es mitten in der Nacht. Das hindert meinen Vater jedoch nichtdaran, ein R-Gespräch anzunehmen.
»Hast dudas Telegramm bekommen?«
WelchesTelegramm? Etwas an Vaters Stimme, etwas Zerbrechliches, das ich nicht wiedererkenne, läßt meinen Atemstocken.
»Siebehalten sie vorläufig da.«
Siebehalten sie? Wen? Marge? Mutter? Die Großmütter haben schon längst dasZeitliche gesegnet, nur die engste Familie ist übrig.
»Margeist unterwegs«, schluchzt Vater. »Niemand weiß, wie lang es noch geht.«
DieVerzögerungen der transatlantischen Telefonleitung lassen seine Stimmekünstlich klingen, so wie die eines Roboters im Kino.
Margeist unterwegs. Es muß sich also um Mutter handeln.Ist ihr etwas zugestoßen? Danach klingt es nicht. Es klingt nach etwasSchleichendem, Unberechenbarem.
Vieletausend Meilen entfernt putzt sich mein Vater die Nase.
Als ichdrei Stunden später in der nächsten Maschine sitze, weiß ich alles, was es indiesem Stadium zu wissen gibt.
DieBetrachtung des Stuhlgangs und des Toilettenpapiers, mit dem meine Mutter ihrganzes Umfeld terrorisierte, hat ein Ende. Sie braucht sich keine Gedanken mehrzu machen.
Es istunter dem Radar hindurchgeschlüpft, während sie einen Augenblick langunaufmerksam war, während sie noch eine Pille einnahm oder noch einen Schluckeines Spezialgebräus trank.
Jetztist es ernst. Krebs im Enddarm, offenbar fortgeschritten. Eine palliative Operation ist übermorgen geplant. Einkünstlicher Darmausgang ermöglicht es, alles im Beutel im Auge zu behalten.
Vielleichthätte sie sich so einen schon längst zulegen sollen, vielleicht wäre ihr Lebendann glücklicher gewesen.
Jetztwird es nur kurz.
© PiperVerlag
Übersetzung:Holger Wolandt und Lotta Rüegger
Wladimira
Der Wagen ist bereitsverspätet. Wladimira steht auf dem Bürgersteig nebendem, den sie nicht leiden kann, und wartet.
Siehaben ein weiteres Treffen in dem weißen Gebäude hinter ihnen absolviert. Daß es ergebnislos verlaufen ist, liegt nicht an ihr. Wladimira beherrscht die Kunst, die Worte bedeutungsmäßigkorrekt und mit einem Gefühl, das demjenigen des Absenders haargenauentspricht, wiederzugeben.
Wladimiras Übersetzungen sind Klone des Originals undenthalten keinerlei Anteile ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn sie einmalselbständige Gedanken faßt, dann läßtsie sich von niemandem in die Karten sehen. Das ist am effektivsten und auch amsichersten.
DerMann, um den sich alles dreht, liegt noch in seinem Bett im Hotel. Obwohl allesunternommen wird, um ihn zu beschützen, läßt es sichnicht vermeiden, daß er mit fremden Mikroben in demfremden Land in Kontakt kommt. Nun hat er sich eine Infektion der Atemwegezugezogen.
DerMeister muß auf sein tägliches Tennismatch verzichtenund hinter den dicken Mauern des Hotels seinen Schnupfen auskurieren, wo er,wie man allgemein annimmt, die Zeit nutzen wird, um die früheren Schachpartienseines Herausforderers Zug um Zug durchzugehen.
Aber derMann, der schniefend, eine Kanne Tee in Reichweite, in seinem Hotelbett liegt,der Mann mit dem kräftigen Haar und den traurigen Augen, hat größere Problemeals eine banale Erkältung. Wladimiras Zimmer liegtdirekt unter seiner Suite. Nachtskann sie seine Schritte hören. Auf und ab, auf und ab. Sie kann ihn auchstöhnen hören.
Vermutlichdas Lampenfieber des Gladiators, ehe die Gitter der Arena hochgehievtund die Löwen losgelassen werden.
Vielleichtist es auch etwas anderes.
DerMann, den sie nicht mag, tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. SeineAugen hinter den dicken Brillengläsern sind halb geschlossen. Die Oberlippe istständig etwas über seine dunkelgelben Zähne hochgezogen. Das läßt sich nicht als Lächeln, aber auch nicht als Grimassebezeichnen. Außerdem stinkt er.
Ersthier auf Island ist Wladimira ihr Geruch aufgefallen.Sie riecht. Der Weltmeister und sein handverlesenes Gefolge riechen.
Nach demRauch brennender Briketts. Nach Kohl. Nach harter Seife. NachKörperausdünstungen. Nach Fußschweiß.
Indiesem Land herrschen andere Gerüche. Was nicht nach Fisch riecht, riecht nachParfüm. Die Seife im Hotelzimmer ist hellrot. Sie schäumt und duftet.
Jetztstampft er wieder ungeduldig mit den Füßen.
Wladimira ist geduldig. Der Wagen wird schon kommen. Wenn man aufseine Chance wartet, dann kommt sie. Früher oder später, das ist einNaturgesetz. Und es hängt von einem selbst ab, ob man sie ergreift.
Mannehme sich an ihr selbst ein Beispiel.
Wladimira glaubt nicht an Wunder. Dennoch steht sie in diesemAugenblick wie durch ein Wunder auf einem Bürgersteig in der Hauptstadt derHeimat ihrer Eltern.
DieDolmetscherin der Botschaft, vom KGB geprüft und genehmigt, wird von einerHirnhautentzündung heimgesucht, und gegen Krankheiten solcher Art ist nichteinmal der Sowjetmensch gefeit.
In derPanik des Augenblicks wird man auf sie aufmerksam, und jetzt ist sie hier.Rasch eingeflogen und schon bei der Arbeit. Ein unentbehrliches Rädchen in derMaschinerie, die das Schachturnier des Jahrhunderts ermöglicht, welches denendgültigen
Beweis dafür liefern soll, daß das System, an das Wladimiras Eltern geglaubt haben, an das ihre Mutter, dieüberlebt hat, immer noch glaubt und dem Wladimira,ohne zu viele Fragen zu stellen, immer noch dient, zu guter Letzt siegen wird.
DerVormittagsverkehr ist rege. Breite, chromblitzende Autos geben Gas undverschwinden in Richtung des Sees in der Mitte der Stadt. Weißblonde Frauen mitKinderwagen, aus denen weißblonde Kinder in die Sonne blinzeln, halten inne undunterhalten sich. Die Männer in den Autos haben es eilig. Die Frauen sehen aus,als hätten sie alle Zeit der Welt.
Wladimira versteht fast immer, was sie sagen, dafür um so seltener, was sie damit meinen. Eine Sprache muß den Dingen entsprechen, die man kennt, wenn sie etwasanderes sein soll als bloße Worte. Die blonden Frauen unterhalten sich überWaschmaschinen. Sie verwenden dabei das Wort Seifenflocken.
Wladimira kann die Worte übersetzen, das schon. Aber dieWirklichkeit, der sie entsprechen, ist eine andere als ihre. Das macht dasGanze komplizierter oder einfacher, je nach Temperament.
Vor dieWahl gestellt, entscheidet sich Wladimira immer für
das Einfache.
EineSchwangere geht wiegenden Schritts mit ihrem großen Bauch auf demgegenüberliegenden Bürgersteig entlang und versucht die stark befahrene Straßezu überqueren. Sie setzt probehalber einen Fuß auf den Bordstein und zieht ihndann rasch wieder zurück. Ein Oberbekleidungsstück, eine Art Mantel oder Umhang-, Wladimira sucht einen Augenblick nach dempassenden Ausdruck und entscheidet sich für Mantel -, verbirgt ihre um fangreiche Figur.
VerschwenderischeMengen eines aufgerauhten Stoffs haben für diesenMantel Verwendung gefunden. Er ist großkariert in Lila und Gelb, was besser zu Wladimiras schwarzen Haaren gepaßthätte.
Wladimira steckt sich ihr Haar jeden Morgen zu einem festen Knotenhoch. Hochgestecktes Haar muß man nicht so oftwaschen wie offenes, und das spart Zeit und Seife.
Die Frauauf der anderen Seite ist größer als Wladimira, inder Tat ungewöhnlich groß für eine Frau, und sie sieht, wie Wladimiraselbst auf diese Entfernung feststellt, provozierend gesund und
gepflegt aus. Das Gesicht unter der rotblonden Mähne ist fein geschnitten undhätte besser zu einem anderen, schlankeren Körper gepaßt.Sie ist etwa zehn Jahre jünger als Wladimira, diegerade vierunddreißig Jahre alt geworden ist.
Wladimira wurde in einer Winternacht gezeugt. In der Nacht vor demMorgen, an dem sie ihren Vater abholten. Das behauptet zumindest ihre Mutter.
Wladimira verspürt Genugtuung bei dem Gedanken daran, daß ihre Mutter eine letzte Liebesnacht erlebte, ehe sichdie Dämmerung über sie und das Kind legte, das nach dem eigentlichen Erfinderder Revolution benannt worden war.
DieGeschichte von Wladimiras Namen gehört zum Repertoireihrer Mutter.
»Würdenwir ein Kind bekommen, so sollte es Lenins Namen tragen.«Hier machte ihre Mutter immer eine Kunstpause. »Zu Ehren der Revolution.«
UnterSchmerzen geboren, etwas anderes kam ohnehin nicht in Frage, während ihr Vatersich außer Reichweite befand oder gar tot war.
Wladimiras Vater war Spion. Ein Volksfeind. Sogar ihreMutter glaubte das und glaubt es immer noch. Aus welchem Grund hätten sie ihnsonst festgenommen?
Aber derVolksfeind war trotz allem ihr Mann und WladimirasVater, und seinem Mann bringt man Essen. Soviel, wie man sich nur vom Mundabsparen kann. Und Zigaretten. Auch die, die man gut selbst hätte rauchenkönnen.
Vielleichthaben ja die Gefängniswärter das Essen gegessen und die Zigaretten geraucht,das kann die Mutter nicht ausschließen. Aber sie waren die Diener derRevolution. Sie arbeiteten hart für einen niedrigen Lohn. Die Wurstzipfel undZigaretten konnte man ihnen gönnen.
DerMann, den Wladimira nicht mag, nimmt sich immer dasgrößte Bratenstück mit dem wenigsten Fett und Knorpel. Rein mit der Gabel, undschon liegt der Klumpen auf seinem Teller. Er läßtauch immer etwas übrig. Er nimmt mehr, als er essen kann, und läßt den Rest übrig. Jetzt sucht er in seiner Manteltaschenach den Bonbons, die er dauernd lutscht und von denen er nie jemandemanbietet.
DerSchachkommissar ist ein Diener der Revolution. Es bereitet Wladimiraein schlechtes Gewissen, daß sie ihn nicht mag.
Loyalität,Wladimira. Die Stimme ihrer Mutter hallt in ihrenOhren wider, während ein plötzlicher Windstoß sie erschaudern läßt. Obwohl es mitten im Sommer ist, ist es hundekalt. In Reykjavík gebe es kein Wetter, hat ihre Mutter gesagt.Jetzt weiß Wladimira, was sie damit meinte.
DieLoyalität der Sache gegenüber, die das Ich übertraf, hatte ihren Vater und ihreMutter dazu veranlaßt, ihre Heimat zu verlassen, umden wirklichen Sozialismus mit aufzubauen.
MuttersGeschichten sind die Märchen ihrer Kindheit. Sie haben ebensowenigmit einer wiedererkennbaren Wirklichkeit zu tun wiedie Diktatur des Proletariats und die gleichen Rechte für alle Menschen. Vonder Mutter erhielt Wladimira ihre beiden Sprachen,Isländisch für die einfachen Dinge, Russisch für die wichtigen wie Solidarität,Pflicht und Kollektiv.
Auf derUniversität lernte sie, die Sprachen mit der Genauigkeit eines Chirurgenanzuwenden. Im Laufe der Zeit hat sie gelernt, zwischen Worten und wirklichenSachverhalten zu unterscheiden.
DerMann, den sie nicht mag, sagt etwas, aber die Worte werden vom Lärm einesBusses verschluckt, der keuchend in die Kurve am Fuß des kleinen Hügels biegt.
DasGeschrei des kleinen Jungen, der neben Wladimirasteht, übertönt das Keuchen des Busses. Ein Ballon hat sich aus seiner kleinenFaust losgerissen und treibt über die Straße. Eine Frau packt den Arm desJungen. Seine Mutter, vermutet Wladimira.
DerBallon ist so rot wie das Abzeichen, das die Mantelkragen der Delegationschmückt, mit Hammer, Sichel und den Strahlen der Sonne. Rot wie der roteStern, wie das Halstuch der Pioniere, wie ihr eigenes Pionierhalstuch.
EinKind, das sich nicht beherrschen kann, ist ein scheußlicher Anblick.Glücklicherweise schüttelt die Mutter den Jungen, er hat es nicht besserverdient. Wladimira hätte ihm an ihrer Stellewahrscheinlich eine Ohrfeige gegeben, damit er es sich merkt.
Mitunartikulierten Gefühlsausbrüchen hat Wladimira garkeine Geduld.
Vielleichtwaren ja mit ihrem Vater die Gefühle durchgegangen. Vielleicht hatte er ja deshalbdas Vertrauen der Herrschenden verloren oder war in einer Zeit aufgefallen, inder es lebensnotwendig war, unsichtbar zu sein. Einige der Geschichten derMutter ließen dies erahnen.
- Autor: Lis V. Kristensen
- 2006, 400 Seiten, Maße: 13,6 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Dän. v. Holger Wolandt u. Lotta Rüegger
- Übersetzer: Holger Wolandt, Lotta Rüegger
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492049354
- ISBN-13: 9783492049351
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