Ein Koffer voll Glück

eineeinzelne alte Eiche, die älter ist als das Gebäude selbst.

Eineschwarze Asphaltstraße führt hinauf zu der altertümlichen

Toreinfahrtund dem kleinen Parkplatz für meine

Gäste.Letztes Jahr habe ich das Haus gebrochen weiß streichen

lassen,mit Ausnahme des Dachs, welches schwarz ist.

Ichfinde, der Kontrast ist sehr aussagekräftig.

ClaraTucker Booth Yune, die ältere Schwester von Cle-

mentTucker und Ebbs berühmteste Einsiedlerin, bewohnt

dengesamten zweiten Stock des Hotels als Dauergast. Im

erstenStock befinden sich sechs Schlafzimmer. Ich wohne

indem, das zum Garten hinauszeigt, die anderen fünf werden

vermietet.Zu jedem Schlafzimmer gehört ein eigenes

Badezimmer,die Cornhusker-Suite hat sogar einen eigenen

Whirlpool.Im Erdgeschoss befinden sich ein Aufenthaltsraum

vonder Größe eines Tennisplatzes, ein Salon mit Fernseher,

einArbeitszimmer für meinen eigenen Gebrauch und

einriesiges Speisezimmer mit sechzehn Sitzplätzen. Außer

meinerKüche, die zweckmäßig eingerichtet ist, ist das ganze

Hausmit schönen Antiquitäten ausgestattet, die Clem

Tuckerhinterlassen hat oder die ich günstig auf Auktionen

gekauftund im Keller selbst restauriert habe.

Wiedie meisten Leute, die in Ebb wohnen, wurde auch

ichhier geboren, aber ungefähr eine Stunde, nachdem ich

meinAbschlusszeugnis der Highschool bekommen hatte,

stiegich in einen Bus nach North Platte. Fünfzehn Jahre

späterkam ich nach der Scheidung mit meinen zwei Töchtern

zurück.Beide Mädchen sind inzwischen erwachsen

undausgezogen. Eine Tochter wohnt oben in Omaha, die

andereauf der anderen Seite des Flusses in Council Bluffs.

Nachüblichen Maßstäben ist Ebb eine Kleinstadt. Es ist

zwardie Bezirkshauptstadt, aber im Stadtgebiet leben nur

zweitausendMenschen. Die meiste Zeit über gibt es hier

nichtviel zu tun, und das ist auch gut so. Wenn wir Aufregung

suchen,können wir nach Lincoln fahren. Seit zwanzig

Jahrenwird hier jeder Politiker nach dem Auswahlkriterium

»Nein-zu-Wal-Mart!«gewählt. Eine ähnlich altmodische

Haltungvertreten wir hinsichtlich Fastfood-Restaurantket-

ten,normalen Restaurantketten, Haushaltswarenketten

undallen anderen Ketten mit großen, bunt beleuchteten

Schriftzügenüber dem Eingang. Einzige Ausnahme ist das

neueStarbucks-Café in der Main Street, aber Ebb ist so

klein,dass wir nur diese eine Niederlassung davon haben.

Alleanderen Geschäfte in der Main Street sind einzigartig,

unddie meisten davon gibt es schon seit mehr als fünfzig

Jahren.Das größte und berühmteste ist das Millet s, das

letzteKaufhaus in dieser Region. Millet s liegt genau an der

Kreuzungvon Main Street und Bean Street, wo es schon

steht,seit Joshua Millet es in den 1920er Jahren eröffnet

hat.Es hat die Große Depression, Landflucht, drei Bankinsolvenzen,

denZweiten Weltkrieg, eine Flut und Gott weiß

wieviele Dürren und Tornados überstanden. Jetzt gehört es

CalvinMillet, dem einzigen Kind von June und Joshua III.

Calvinist ein tüchtiger, hart arbeitender junger Mann, und

jederhier aus dem Bezirk kauft bei ihm ein, als wäre das

einepatriotische Pflicht. Aber wir alle haben Angst, dass

dasMillet s die anhaltende Pechsträhne, die es verfolgt,

nichtüberstehen wird.

Calvinwar ein unscheinbares Baby, ohne Haare und mit

einemEierkopf. Aber er wuchs zu einem großen, gut aussehenden

jungenMann heran, schlaksig, mit schönen Haaren,

einwenig wie Gary Cooper. Er war zu schwächlich, um

ander Highschool Football zu spielen, eine Sportart, die in

dieserGegend beinahe religiösen Status hat. Aber er lernte

fleißigund bekam gute Noten, obwohl er im Laden seines

Vatersmithelfen musste. Nach dem Schulabschluss absolvierte

erin Lincoln eine vierjährige Ausbildung in Betriebswirtschaft,

dannging er zur Air Force, um etwas von der

Weltzu sehen. Sie schickten ihn nach Bossier City, Lousiana.

Calvinwar kaum fort, als seine Eltern bei einem Zugunglück

umsLeben kamen. Schon beim Begräbnis merkte ich,

dasser nicht mehr besonders gut hören konnte. Jetzt geht es

ihmgut, er trägt kleine, unscheinbare Hörgeräte an beiden

Ohren,aber die Air Force musste ihn aus gesundheitlichen

Gründenentlassen, und so kam er zurück nach Hause, um

daselterliche Geschäft weiterzuführen. Ungefähr ein Jahr

späterheiratete er Mary Beth Tucker, Clems einziges Kind

undein Dummkopf, aber eine wahre Augenweide und vom

finanziellenStandpunkt aus gesehen die beste Partie der Gegend.

SechsMonate später wurde Lucy geboren. Ich weiß,

wasSie jetzt denken, aber eine Schwangerschaft dauert im

ländlichenAmerika beim ersten Kind eben nur sechs Monate.

Danachsind es dann neun.

AlsLucy Millet acht Jahre alt war, erkrankte sie an einem

Nervenleiden.Meines Wissens handelt es sich um etwas

Ähnlicheswie das Lou-Gehrig-Syndrom, aber aggressiver

undäußerst schmerzhaft. Wie auch immer, eine schwer

krankeTochter war mehr, als Mary Beth ertragen konnte,

deshalbpackte sie ihre Sachen und zog nach L. A. Verschwand

einfachso, mitten in derNacht. Sie nahm den Jeep,

denHund und den George-Foreman-Grill mit und hinterließ

eineNachricht für Calvin, es tue ihr wirklich sehr Leid.

MaryBeths Verschwinden sorgte in unserem Nähclub für

großeAufregung. Die meisten von uns haben selbst eine

Scheidunghinter sich, deswegen liegt es uns fern, eine Frau

zukritisieren, die ihren Mann verlässt. Wir haben sogar ein

Unterstützungsprogrammins Leben gerufen: Berater, Juris-

ten,Kinderbetreuung, wenn nötig Polizeischutz. Aber Clem

TuckersTochter nahm dieses Programm nicht in Anspruch,

undihr Mann und ihre kranke Tochter litten unter der Situation.

Seitdemist Mary Beth in dieser Gegend nicht mehr

sonderlich willkommen.

Offensichtlichkonnte ihr neues Leben ihr nicht den Standard

bieten,den sie gewohnt war, deshalb kam sie nach

Hausezurück - gerade lange genug, um Calvin vor den

Scheidungsrichterzu zerren. Da sie nur ihren Mann und ihr

krankesKind über Nacht im Stich gelassen und obendrein

nochden Hund und den Jeep mitgenommen hatte, zeigte

dasGericht Verständnis für ihre schlimme Lage. Calvin

zahltihr jetzt Alimente. Falls Sie das etwas verwunderlich

finden,sollten Sie wissen, dass auch der Richter mit einer

Tuckerverheiratet ist.

Diekleine Lucy Millet ist das süßeste kleine blonde Mädchen,

dasman sich nur vorstellen kann, und sie ist schlau.

Aberihr Gesundheitszustand bessert sich nicht. In den letzten

dreiJahren ist Calvin mit ihr auf der Suche nach einem

Arzt,der sie heilen kann, durch das ganze Land geflogen,

aberalles, was dabei herauskam, war eine Verzögerung des

Krankheitsverlaufsund ein leeres Bankkonto. Calvin ist

zwarüber den Bauernverband krankenversichert, genau

wiejeder andere hier auch, aber die meisten von Lucys Behandlungen

warenexperimenteller Natur, was bedeutet,

dassdie Krankenkasse die Kosten dafür nicht übernimmt.

Wennnicht bald jemand diesen Kassen auf die Finger

klopft,kann ich mir vorstellen, dass noch zu meinen Lebzeiten

zweiAspirin und ein Glas Wasser als medizinisches Experiment

eingestuft werden.

DerTornado schlug letzte Woche zu, als Calvin und Lucy

geradein der Mayo-Klinik waren. Es war eigentlich zu früh

füreinen Tornado, aber das Wetter war schon das ganze

Jahrüber zu warm. Glücklicherweise war es nur ein kleiner

Wirbelsturm.Er verschonte die Stadt und alles andere in

RutherfordB. Hayes County, außer Rufus Bowes Getreidesilo

unddas Haus von Calvin Millet. Genau genommen

wurdedas Dach von Rufus Silo abgerissen und direkt

aufCalvins Haus geschleudert. Ich fuhr mit meiner besten

FreundinLoretta Parsons zum Unglücksort, um zu sehen,

waspassiert war. Loretta ist die einzige schwarze Einwohnerin

vonEbb und Besitzerin des Schönheitssalons Bold

Cut.Calvins Haus war sehenswert. Es sah aus wie ein Trümmerhaufen

miteiner riesigen Teetasse aus Aluminium obendrauf.

Manwürde nicht glauben, dass jemand so gut zielen

kann,nicht einmal Gott.

Nachdem Tornado wohnten Calvin und Lucy einige Tage

beimir im Hotel, bis er eine Hutschachtel von einem Haus

zurMiete gefunden hatte. Es steht in Carson, ungefähr fünfzehn

Minutendie Straße hinunter Richtung Kansas. Calvin

hatnoch nicht mit Buzz Busby wegen des Wiederaufbaus

gesprochen,obwohl das neue Haus so klein und so weit von

derStadt entfernt ist, ich wüsste sonst ganz bestimmt davon.

(...)

©Goldmann Verlag

Übersetzung:Gabriele Zigldrum