Eine Formel verändert die Welt
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Eine Formel verändert die Welt von Harald Fritzsch
LESEPROBE
Hallers Traum: Begegnung mit Newton
Nacheiner kurzen Pause ging ich zurück zum Trinity College, richtiger, ich liefschnell, als hätte ich einen dringenden Termin im College. Etwas trieb michzurück an Newtons Wirkungsstätte - nur wußte ich nicht, was. Atemlos erreichteich das Große Tor des College. Erneut begegnete ich dort jenem Herrn immittleren Alter, der es diesmal aber nicht eilig hatte, sondern stehenbliebund mich neugierig betrachtete.
»Ichsah Sie vorhin schon hier«, sagte er. »Suchen Sie etwas Bestimmtes? Kann ichIhnen helfen?«
Ichlächelte unwillkürlich bei dem Gedanken, daß ich ja eigentlich Newton suchteund daß diese Suche natürlich vollkommen verrückt war - wer sucht schon einenWissenschaftler, der vor mehr als 250 Jahren gestorben ist?
»Nein«,erwiderte ich hastig, »ich suche nichts Bestimmtes. Ich möchte mich hier nureinmal umsehen. Schon immer wollte ich mir mal Newtons Wirkungsstätte anschauen- heute habe ich endlich Gelegenheit dazu.«
»Wahrscheinlichsind Sie ein Physiker«, antwortete der Herr, mich aufmerksam betrachtend.
»Siehaben recht. Und Sie werden es nicht glauben - ich suche doch etwas hier,genauer gesagt: jemanden, nämlich Isaac Newton.«
Ichstaunte selbst über meine Antwort, die ebenso ehrlich wie absurd war, und überdie Tatsache, daß mein Gegenüber sie offensichtlich ganz selbstverständlichhinnahm, als hätte ich etwas völlig Alltägliches gesagt.
DerFremde lächelte und bemerkte trocken: »Sie brauchen nicht mehr zu suchen. Ich bin Isaac Newton.«
Indiesem Moment erkannte ich ihn. Vor mir stand tatsächlich Newton, und zwar deretwa vierzigjährige Newton zur Zeit der Niederschrift der »Principia«: derNewton, wie ich ihn von dem Gemälde Godfrey Knellers her kannte. Nur die Haarewaren kürzer - er trug keine Perücke. Auch war er durchaus nach unserer Modegekleidet - ein uneingeweihter Betrachter hätte Newton ohne weiteres für einender heutigen Professoren des Trinity College gehalten.
Indiesem Augenblick wunderte ich mich über mich selbst, vor allem darüber, daßich das plötzliche Auftauchen eines der größten Naturwissenschaftler derGeschichte fast als eine selbstverständliche Begegnung hinnahm. Mehr noch, ichbenahm mich so, als stände mir nicht Isaac Newton, sondern ein normaler CollegeProfessorgegenüber; folgerichtig stellte ich mich vor: als Physikprofessor AdrianHaller von der Universität Bern.
Newtonzeigte sich hocherfreut, einem Kollegen vom Festland zu begegnen, und fuhr dannfort: »Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Sie werden sichwundern, mich hier im Hof des College zu treffen. Schließlich sind fastdreihundert Jahre vergangen, seit ich an diesem College tätig war.«
Ichnickte und tat weiter so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, IsaacNewton hier in Cambridge zu treffen. Auch war ich überrascht, daß sich Newtonmir gegenüber so jovial, ja geradezu zuvorkommend verhielt. Während seinerZeit in Cambridge vor drei Jahrhunderten galt Newton als menschenscheu und überheblich,selbst für Kollegen kaum zugänglich. Offensichtlich hatte er sich seitherverändert, und nicht zu seinem Nachteil.
»Voreinigen Tagen wurde mir gestattet, meine alte Wirkungsstätte wieder zubesuchen«, sprach Newton weiter. »Seither halte ich mich hier in Cambridge auf.Sie können sich vorstellen, daß vieles neu für mich war - der Verkehr auf denStraßen, das helle Licht in den Räumen des College - Ihr modernen Leute sagt, glaubeich, elektrisches Licht dazu-, die merkwürdigen Bildapparate mit den gewölbtenGlasscheiben et cetera. Mittlerweile habe ich mich aber schon ganz guteingewöhnt. Im übrigen verbringe ich die meiste Zeit in der Bücherei undversuche herauszufinden,
wasaus der Naturlehre, mit der ich mich damals beschäftigte, geworden ist. Ichmuß gestehen, daß ich hierbei große Schwierigkeiten habe. Vieles in denLehrbüchern der Physik, die ich im Moment anschaue, verstehe ich nicht.«
»KeinWunder«, unterbrach ich Newton. »In den mehr als 300 Jahren seit dem ErscheinenIhrer >Principia< ist in den Wissenschaften viel passiert, und diePhysik war hierin wahrlich keine Ausnahme. Die neuen Phänomene in derAtomphysik, die man gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts entdeckte, konnte mannicht mehr mit Hilfe Ihrer Mechanik verstehen. Neue Theorien mußten entwickeltwerden, etwa die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik.«
»Daist er schon wieder - dieser Begriff >Relativitätstheorie«<, rief Newtonaus. »Schon mehrmals bin ich beim Studium der Bücher darauf gestoßen. Was istdenn diese Theorie? Muß man sie ernst nehmen? Vielleicht können Sie mir Näheresdazu sagen. Erst gestern abend habe ich versucht, aus den paar Bemerkungen überdiese Theorie in einem der Lehrbücher mir einen Reim zu machen, aber ich mußgestehen, es ist mir nicht gelungen. Nur eines wurde mir klar - es scheint, daßin dieser seltsamen Theorie meine These des absoluten Raumes nicht akzeptiertwird.«
Wassollte ich, ein Physiker, der täglich mit den Problemen seiner Wissenschaftheute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, beschäftigt ist, antworten? Wie konnteich die Bitte Newtons ablehnen, da es doch wohl eine einmalige Gelegenheitwäre, mit der Gedankenwelt und den Fähigkeiten dieses in der Weltgeschichteeinmaligen Genies vertraut zu werden?
»Abgemacht«,sagte ich. »Ich schlage vor, daß wir zusammen die wesentlichen Aspekte derRelativitätstheorie betrachten. Aber Sie müssen mir etwas zugestehen. Sie habendie Grundlagen der Mechanik erarbeitet, derjenigen Wissenschaft, die der Ausgangspunktfür die Entwicklung der Technik war, übrigens auch für die Entstehung derRelativitätstheorie. Ich wünsche mir, bei dieser Gelegenheit einen Einblick inIhre Gedankenwelt zu haben und auf diese Weise von unserem Austausch zuprofitieren. Zudem möchte ich in einigermaßen systematischer Weise vorgehen unddabei eine Reihe physikalischer Phänomene, die mit der Relativitätstheoriezusammenhängen und die im Verlauf des jetzigen, des 20. Jahrhunderts, entdecktwurden, anschauen. Das allerdings bedeutet, daß wir einige Zeit in dieseUnternehmung investieren sollten. Vielleicht werden wir sogar einige Tage brauchen.Wie lange hätten Sie denn Zeit?«
»Anmir soll's nicht liegen«, erwiderte Newton. »Nur trage ich Bedenken, Ihre Zeitso lange in Anspruch zu nehmen. Als ich vor dreihundert Jahren hier inCambridge forschte, hatte ich eine Menge Zeit. Ein paar Tage waren geradezunichts. Mir scheint, heute ist das anders. Ich habe den Eindruck, daß heutefast niemand Zeit genug hat, über irgend etwas mehr als nur in oberflächlicherWeise nachzudenken.«
»WissenSie, ich bin gerade im Begriff, zu einer Konferenz nach Amerika zu reisen. Aberwenn ich die Gelegenheit habe, einige Tage mit Isaac Newton zu verbringen, dannvergesse ich, was ich tun sollte, überlasse die Konferenz meinen Kollegen undbleibe hier.«
Newtonwar sehr erfreut, nun bald mehr darüber zu erfahren, was er nicht unbescheidenals die Fortentwicklung seiner Naturlehre bezeichnet hatte, und willigte sofortein, die nächsten Tage für die entsprechenden Diskussionen zu reservieren.
Dasowohl Newton als auch ich für den Rest des Vormittags keine bestimmten Plänehatten, begannen wir sofort auf dem Hof des College mit unseren Gesprächen. Wirbeschlossen, daß ich Newton zunächst unser heutiges Bild der Grundlagen derMechanik erläutern sollte - ein Unterfangen, daß natürlich so etwas war, wieEulen nach Athen zu tragen. Schließlich geht dieses Bild auch heute noch imwesentlichen auf Newtons eigene Beiträge zurück. Aus diesem Grunde konnte ichmich kurz fassen und brachte bald das Gespräch auf die Problematik desabsoluten Raumes. Bei passender Gelegenheit übernahm Sir Isaac das Wort, ummeine Ausführungen wie folgt zu resümieren.
Newton:Wenn ich Sie recht verstanden habe, war Ihre Behauptung, daß man anirgendeinem Punkt im Weltraum jederzeit ein Koordinatensystem als einInertialsystem einführen kann. Das Wesentliche eines solchen Systems ist dieTatsache, daß sich in ihm ein massiver Körper auf einer geraden Linie bewegt,wie es sich für einen Körper gehört, der keinerlei Kräften unterworfen ist. Hatman ein solches System konstruiert, kennt man gleichzeitig auch unendlich vieleandere solche Systeme, die sich zum ersten geradlinig und gleichförmig miteiner beliebigen Geschwindigkeit bewegen.
EinKoordinatensystem, das sich im Vergleich zum ersten System in einerDrehbewegung befindet, ist allerdings kein Inertialsystem, d. h. ein freierKörper bewegt sich in diesem System nicht auf einer geraden Linie, sondern aufeiner krummen Kurve. Diese wird durch die Drehbewegung des Systems »erzeugt«.Damit ergibt sich ein grundlegender Unterschied zwischen den Inertialsystemenund den sich drehenden Systemen. Darauf habe ich ja schon im Detail in den»Principia« hingewiesen. Ähnliches gilt für Bezugssysteme, deren Bewegung inirgendeiner Richtung beschleunigt erfolgt.
Ichwar immer der Ansicht, daß die Trägheitskraft, die man beispielsweise beimschnellen Abbremsen einer Kutsche oder, wenn Sie wollen, eines Automobilserfährt, ihren Ursprung in der Struktur des Raumes haben muß.Geschwindigkeiten sind ja immer relativ, aber Beschleunigungen sind absolut,unabhängig vom Bezugssystem. Wie aber kann die Beschleunigung eines Körpersabsolut feststellbar sein, wenn es keinen Raum gibt, der diese Absolutheitgarantiert?
Ebensomuß es irgend etwas geben, was ein drehendes System von einem Inertialsystemauszeichnet. Meiner Ansicht nach ist es die Struktur des Raumes selbst, die denUnterschied hervorruft. Raum und übrigens auch die Zeit sind ja die Dinge, dieübrigbleiben, wenn man die Materie aus dem Weltall entfernt. Haller: Sind Siesicher, daß überhaupt etwas übrigbleibt, wenn die Materie aus der Welt entferntwird? Newton: Selbstverständlich bleiben mindestens zwei Dinge übrig, Raum undZeit. [Offensichtlich wollte Newton bezüglich seiner Ideen über Raum und Zeitkeinen Widerspruch dulden.] Die Welt wurde am Anfang von Gott geschaffen, undzwar in Raum und Zeit, genauer im absoluten Raum und in der absoluten Zeit. Fürmich sind dieser Raum und diese Zeit etwas absolut Vollkommenes, gewissermaßenTeile von Gott. Sie sind genauso absolut wie Gott. Wir selbst, die wir nochdazu nicht im freien Weltraum, sondern nur auf diesem rotierenden PlanetenErde existieren, erfahren den absoluten Raum, dessen Koordinatensysteme dannauch eine absolute Ruhe definiert, niemals vollständig, sondern immer nurangenähert.
Auchdie Zeiten, die von unseren mehr oder weniger gut gehenden Uhren gemessenwerden, sind keineswegs mit der absoluten Zeit identisch, sondern beschreibensie nur unvollständig. In den »Principia« schrieb ich seinerzeit: »Der absoluteRaum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstandstets gleich und unbeweglich. Der relative Raum ist ein Maß oder einbeweglicher Teil des ersteren, welcher von unseren Sinnen durch seine Lagegegen andere Körper bezeichnet und gewöhnlich für den unbeweglichen Raumgenommen wird.« Meiner Ansicht nach ist bereits die Tatsache, daß sich alleKörper im Raum bewegen, der jedoch von letzteren offensichtlich in keiner Weisebeeinflußt oder verändert wird, Hinweis genug auf einen absoluten Raum, der wieein Gerüst Gottes wirkt, in das die Materie eingebettet ist.
Ähnlichesläßt sich über die Zeit sagen. Zwar erlebt jeder von uns den Ablauf der Zeitverschieden schnell - manchmal fliegt sie behende dahin wie der Pfeil einesIndianers, manchmal kriecht sie langsam wie ein Wurm. Solche Fluktuationenkönnen zum Glück mit einer Uhr vermieden werden. Wie immer wir aber die Zeit messen,man erhält immer nur eine recht dürftige Kopie der wahren, der absoluten Zeit.Die absolute Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig undohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand, ohne jegliche Beziehung zurMaterie im Weltall.
DieZeit ist wie das dahinströmende Wasser eines Flusses, in dem die einzelnenEreignisse wie kleine Holzstückchen schwimmen. Kaum ist eines erschienen, wirdes schon durch die starke
Strömunghinweggerissen. Unaufhaltsam fließt dieser Fluß der absoluten Zeit dahin,verwandelt die Zukunft in die Gegenwart und gleich darauf in die Vergangenheit.
Inmeiner Jugend habe ich lange und gründlich über die Zeit nachgedacht. Es gibtnichts, was einfacher und zugleich komplizierter wäre als die Zeit. Jeder vonuns durchlebt die Zeit, fühlt, wie sie zerrinnt - unsere Existenz ist nur inihr denkbar. Aber wenn jemand gefragt wird, was nun die Zeit eigentlich ist, soweiß niemand eine letztlich befriedigende Antwort. Vielleicht wird es einesolche Antwort auch niemals geben.
Ichglaube, die Zeit ist wie der Raum ein von Gott gegebenes Gerüst, in dem dieMaterie eingebettet ist. Sterne und Planeten vergehen, aber die Zeit bleibt - siehat keinen Anfang und kein Ende. Überall im Weltraum, ob hier auf der Erde oderin einem fernen Sternensystem, ist die absolute Zeit gleich. Sie ist ein vonGott gegebenes Bindeglied, das uns gleichsam mit den fernen Weltgegendenverbindet.
©Piper Verlag
- Autor: Harald Fritzsch
- 1990, 345 Seiten, 85 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 85 Abbildungen, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492213251
- ISBN-13: 9783492213257
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