Eine Frau in Berlin
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"Es ist müßig, dieses ungeheuerliche Buch mit anderen Aufzeichnungen jener Zeit, etwa den Berliner Tagebüchern von Marie Wassiltschikow und Ruth Andreas-Friedrich oder Margret Boveris 'Tagen des Überlebens', zu vergleichen: Es ist einzigartig. Vielmehr wünscht man der 'Frau in Berlin' eine breite Aufmerksamkeit, wie sie Günter Grass' Novelle 'Im Krebsgang' und Jörg Friedrichs Bombenkriegsstudie 'Der Brand' zuteil geworden ist." FAZ
"Das Buch strahlt nicht Kälte aus, wenn dann eher Entsetzen, aber zuallererst Intelligenz und Feinfühligkeit bei der Beurteilung von Freund und Feind. Außerdem versteht sie (die Autorin) es, ihr Leiden als Kollektiverlebnis, genauso aber auch ihren nüchternen Realitätssinn als spezielle Qualität vieler Frauen in Kriegszeiten einzuordnen. Dies ist ein außerordentlich beeindruckendes Dokument." Frankfurter Rundschau
Eine Frau in Berlin
LESEPROBE
Freitag, 20. April 1945, 16 Uhr
Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu.Was gestern noch fernes
Murren war, ist heuteDauergetrommel. Man atmet Geschützlärm
ein. Das Ohr ertaubt, es hört nurnoch die Abschüsse
schwerster Kaliber. Eine Richtungist längst nicht
mehr auszumachen. Wir leben in einemRing von Rohren,
der sich stündlich verengt.
Zwischendurch Stunden vonunheimlicher Lautlosigkeit.
Plötzlich fällt einem der Frühlingein. Durch die brandschwarzen
Ruinen der Siedlung weht in SchwadenFliederduft
aus herrenlosen Gärten. DerAkazienstumpf vor dem
Kino schäumt über von Grün.Irgendwann zwischen den
Alarmen müssen die Schrebergärtnergebuddelt haben,
denn bei den Lauben an der BerlinerStraße sieht man frisch
umbrochenes Land. Nur die Vögel mißtrauen diesem April;
unsere Dachrinne ist spatzenleer.
Gegen drei Uhr fuhr am Kiosk derZeitungsfahrer vor. Es
lauerten ihm schon zwei DutzendLeute auf. Im Nu verschwand
er zwischen Händen und Groschen.Gerda vom
Portier ergatterte eine Handvoll»Nachtausgaben« und ließ
mir eine. Gar keine richtige Zeitungmehr, bloß noch eine
Art Extrablatt, zweiseitig bedrucktund ganz feucht. Im
Weitergehen las ich als erstes denWehrmachtbericht. Neue
Ortsnamen: Müncheberg, Seelow,Buchholz. Klingt verdammt
märkisch und nah. Ein flüchtigerBlick auf die Westfront.
Was gehen uns jetzt die an? UnserSchicksal rollt von
Osten heran und wird unser Klimaändern, wie es einmal
die Eiszeit tat. Warum? Man quältsich mit unfruchtbaren
Fragen. Ich will jetzt nur den Tagsehen, die nahen Aufgaben.
Um den Kiosk herum überall Gruppenvon Menschen, käsige
Gesichter, Gemurmel:
»Nein, wer hätte das gedacht.«
»So n bißken Hoffnung hat wohl jeder noch jehabt.«
»Auf uns kommt s nicht an, wir sind Neese.«
Und, in bezugauf Westdeutschland: »Die haben s gut. Die
haben s überstanden.« Das Wort»Russen« spricht keiner
mehr aus. Es will nicht über dieLippen.
Wieder oben in der Dachwohnung. MeinZuhause ist sie
nicht. Ich hab keins mehr. Wohl warauch die möblierte Stube,
die mir weggebombt wurde, nichtmein. Immerhin hatte
ich sie im Lauf von sechs Wohnjahrenmit meiner Lebensluft
erfüllt. Mit meinen Büchern undBildern und den hundert
Sachen, die man um sich häuft. MeinSeestern vom letzten
Friedenssommer auf Norderney. DerKelim, den Gerd mir
aus Persien mitgebracht hatte. Dieverbeulte Weckeruhr.
Photos, alte Briefe, die Zither,meine Münzen aus zwölf Ländern,
die angefangene Strickerei - all dieAndenken, Häute,
Schalen, Ablagerungen, der warmeTrödel gelebter Jahre.
Jetzt, wo alles weg ist und mir nurein Handkoffer mit
Kleiderkram bleibt, fühle ich michnackt und leicht. Weil ich
nichts mehr habe, gehört mir alles.Zum Beispiel diese fremde
Dachwohnung. Das heißt, ganz fremdist sie nicht. Wohnungsinhaber
ist ein ehemaliger Kollege von mir.Ich war
des öfterenhier zu Gast, als er noch nicht einberufen war.
Wir tätigten zeitgemäße Geschäftemiteinander: seine dänischen
Fleischkonserven gegen meinenfranzösischen Ko-
gnak; meine französische Seife gegen dieStrümpfe, die er
über Prag bekam. Ich konnte ihm nocheben meine Ausbombung
mitteilen und bekam Erlaubnis, hiereinzuziehen.
Zuletzt hat er sich aus Wiengemeldet, wo er bei einer Zensurstelle
der Wehrmacht saß. Wo er jetzt ist -?Jedenfalls
sind Dachwohnungen wenig gefragt.Außerdem regnet es
durch, da die Ziegel zum Teil zertöppert sind oder weggepustet.
Ich finde keine Ruhe hier oben,trabe immerfort durch die
drei Räume. Systematisch habe ichalle Schränke und Schübe
nach Brauchbarem abgesucht, dasheißt nach Eßbarem,
Trinkbarem, Brennbarem. Leider fastnichts gefunden. Da
hat die Frau Weiers,die hier saubermachte, wohl vorgearbeitet.
Jetzt gehört alles allen. Man istnur noch lose mit
den Dingen verbunden, unterscheidetnicht mehr klar zwischen
eigenem und fremdem Besitz.
Eingeklemmt in einer Schubladenritzefand ich einen
Brief an den Wohnungsinhaber. Ichschämte mich, daß ich
ihn las, und las ihn doch. Einverliebter Liebesbrief, hab ihn
im Bad weggespült. (Noch haben wirdie meiste Zeit Wasser.)
Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Wasfür ferne, fremde
Wörter. Offenbar setzt einverfeinertes, wählerisches Liebesleben
regelmäßige, ausreichende Mahlzeitenvoraus.
Mein Zentrum ist, während ich diesschreibe, der Bauch. Alles
Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffenbeginnt beim
Essen.
Zwei Stunden später. Das Gas brenntmit sterbendem
Flämmchen. Seit Stunden stehen dieKartoffeln darauf. Die
armseligste Schnapskartoffel imLand, sie zerfällt zu Matsch
und schmeckt nach Pappe. Eine davonhab ich halb roh geschluckt.
Seit heute früh schon stopfe ichmich voll. Hab bei
Bolle die hellblauen Milchmarkeneingelöst, die Gerd mir zu
Weihnachten geschickt hat. Es warhöchste Zeit. Die Verkäuferin
schöpfte schon aus schräg gehaltenerKanne und
sagte, nun komme keine Milch mehrnach Berlin. Das heißt
Kindertod.
Gleich auf der Straße trank ich einpaar Schluck ab. Füllte
mir daheim den Magen mit Griesbreiund schickte einen
Brotkanten nach. Theoretisch bin ichso satt wie lange nicht.
Praktisch quält mich tierischerHunger. Vom Essen bin ich
erst richtig hungrig geworden.Bestimmt gibt es dafür eine
wissenschaftliche Erklärung. Etwa, daß Speise die Magensekretion
anregt und die Säfteverdauungslustig macht. Und
wenn diese dann richtig in Schwungkommen, ist der kleine
Vorrat schon wegverdaut.Dann grollen die Säfte.
Beim Kramen in den kümmerlichenBuchbeständen des
Hausherrn (ich fand auch die leereKladde dort, in die ich
jetzt schreibe) klappte ich einenRoman auf. Englisches
Adelsmilieu, darin etwa folgenderSatz: ».. . warf einen
flüchtigen Blick auf ihre unberührteMahlzeit, erhob sich
und ging|. . .« Ich war schon zehnZeilen weiter, als ich magnetisch
angezogen zu dem obigen Satzzurückkehrte. Ich
las ihn wohl ein dutzendmalund ertappte mich dabei, wie
ich mit den Nägeln über dieBuchstaben kratzte, als könnte
ich die unberührte Mahlzeit - siewar vorher genau beschrieben
worden - aus dem Schmökerherauskratzen. Verrückt
sowas. Beginn eines leichtenHungerwahnsinns. Schade,
daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman Hungernachlesen
kann. Selbst wenn ich nicht verbombtwäre, besäße ich das
Buch nicht mehr. Vor über zweiJahren ist es mir in der
U-Bahn aus der Einkaufstaschegeklaut worden. Es war in
eine Buchhülle aus Bast eingeschlagen.Offenbar ist es von
dem Dieb für eineLebensmittelkartentasche gehalten worden.
Der Arme! Mußder enttäuscht gewesen sein! Übrigens
eine Story, die Hamsun gefallenwürde.
Heute morgen beim Bäcker ging dasGerede: »Wenn die
kommen, holen sie alles Eßbare aus den Häusern. Die geben
uns nichts. Die haben ausgemacht, daß die Deutschen erst
mal acht Wochen hungern sollen. InSchlesien laufen sie
schon in die Wälder und graben nachWurzeln. Die Kinder
verrecken. Die Alten fressen Graswie die Tiere.«
Soweit die VoxPopuli. Man weiß ja nichts. Kein Völkischer
Beobachter liegt mehr auf der Treppe. KeineFrau Weiers
kommt und liest mir zum Frühstückdie fetten Schändungsbalken
vor. »Siebzigjährige Greisingeschändet. Ordensschwester
vierundzwanzigmal vergewaltigt.« (Wer
zählte da mit?) Das sind so dieSchlagzeilen. Sollen sie etwa
die Männer Berlins anstacheln, unsFrauen zu schützen und
zu verteidigen? Lachhaft.Tatsächlich werden dadurch nur
weitere Tausende hilfloser Frauenund Kinder auf die Ausfallstraßen
gen Westen gejagt, wo sie dannverhungern oder
durch Bordbeschußkrepieren dürfen. Beim Lesen kriegte
Frau Weiersimmer ganz runde, glänzende Augen. Irgend etwas
in ihr genoßdie Greuel. Oder ihr Unbewußtesfreute
sich, daßes sie nicht traf. Denn Angst hat sie, und weg wollte
sie unbedingt. Hab sie seitvorgestern nicht mehr gesehen.
Das Radio ist seit vier Tagen tot.Wieder mal merkt man,
was für zweifelhafte Sachen uns dieTechnik beschert hat.
Sie haben keinen Wert an sich, sindnur bedingt wertvoll, so
lange man sie irgendwo einstöpselnkann. Brot ist absolut.
Kohle ist absolut. Und Gold istGold, in Rom oder Peru oder
Breslau. Dagegen Radio, Gasherd,Zentralheizung, Kochplatte,
die ganze große Bescherung derNeuzeit - sinnloser
Ballast, wenn die Zentrale versagt.Wir sind zur Zeit auf
dem Rückmarsch in vergangeneJahrhunderte. Höhlenbewohner.
Freitag, schätzungsweise 19 Uhr. Habschnell noch eine
letzte Fahrt auf der Straßenbahngemacht, Richtung Rathaus.
Wummern und Rollen, pausenlosesGewitter der Geschütze.
Kläglich schrie die Schaffnerindagegen an. Ich fraß
die Gesichter der Menschen ringsum.Es steht alles darin,
was niemand ausspricht.
© Verlagsgruppe Random House
- Autor: Anonyma
- 2005, 282 Seiten, Maße: 11,7 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442732166
- ISBN-13: 9783442732166
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