Eine Porzellanscherbe im Graben
Eine Porzellanscherbeim Graben von Martha Kent
LESEPROBE
Ich drückte mein Gesicht gegen das Fenster. Im Hof liefen Frauenaus Mutters Baracke hin und her. Sie fielen abwechselnd hin und standen auf.Befehle waren zu hören: «Auf! Nieder! Auf! Nieder!» Einer der Wetter schlug aufKöpfe und Rücken, auf alles, worauf er einhauen konnte. Die letzte Frau fassteihren Kopf, um sich zu schützen. Es war nicht gut, die Letzte zu sein. Ichlauschte und wünschte mir einen guten Sonntag. An guten Sonntagen hatte Mutterkeine Beulen.
Das Gebrüll ging weiter. Die Frauen liefen, die Frauen stürzten.Ich suchte nach Mutter im Zentrum der Gruppe. Es war gut, mittendrin zu sein.Irgendwo war sie. Ich beobachtete die unglücklichen Nachzügler. Die Wetterschlugen sie mit Knüppeln und Gewehren. Sie traten die Frauen mit Stiefeln undprügelten weiter. Kahl geschorene Köpfe gingen auf und nieder. Hände hieltenFersen fest. Die Frauen humpelten und stürzten, bis sie alle am Boden lagen.Ein sanfter Windstoß fuhr durch ihre Kleidung.
Ich rieb mir die Arme. Mutter lag irgendwo auf dem kalten Boden.
Die Älteste jagte uns vom Fenster weg.
Die ganze Woche lang hoffte ich auf einen guten Sonntag ohneblaue Flecken, einen Sonntag, an dem es etwas zu essen gab. Mutter würdegeschäftig sein. Elfie und ich würden herumtrödeln und Neues entdecken. Anguten Sonntagen ging es jedem gut. Dann war es schön in Potulice.
Endlich war Sonntag! Ich öffnete die Tür zu Mutters Baracke.Ich atmete den Geruch des Tages ein, schnupperte die Luft. War es Schweiß vonSchwerarbeit, von Krankheit, von Hitze? Aus Mutters Raum kamen laute Schreie.Elfies Schreie. Ich rannte hin. Elfte saß in der Mitte ihres Bettes undbrüllte, so laut sie konnte. Ich tätschelte ihr das Gesicht und den Rücken. Esgab gute Sonntage, und es gab schlechte Sonntage. Manchmal wurde mir kaum klar,um was für einen Sonntag es sich gerade handelte.
Mutter kam endlich. Sie knöpfte ihr Hemd auf und gab Elfie dieBrust. Milch kam nicht, doch Elfte nuckelte so gern. Mutter ließ das zu, auchwenn es sich nicht gehörte, dass große Mädchen von vier Jahren die Mutterbrusthaben wollten. In Mutters Gesicht waren keine Schrammen zu entdecken. Ich warzufrieden.
Über uns schaukelte das Soldatenmädchen hin und her. Das ganzeGestell quietschte und schwankte.
Im nächsten Gestell saß Drei Hinrichtungen auf ihrer mittlerenPritsche. Ich bewunderte ihre großen Arme und Beine, die starken Knochen, diegroßen Schritte. Drei Hinrichtungen arbeitete im Sägewerk. Manchmal fielenSägespäne aus ihren Kleidern.
Mutter setzte Elfie aufs Bett zurück und knöpfte sich ihr Hemdzu.
«Martchen», sagte Mutter dann und tätschelte meine schmutzigeBacke, «wäscht euch niemand da drüben? Macht nichts. Ich schrubbe euch beideab.»
Wir bewegten uns in Richtung Waschraum. Überall zogen sichFrauen aus. Sie wuschen sich an einer Reihe weißer Becken. Sämtliche Klos, diean der gegenüberliegenden Seite des Raums lagen, waren besetzt. Ich zog meineHosen, mein Hemd und die geflickte Unterwäsche aus.
«Du legst dich wohl in diesen Dreck», sagte Mutter zu demAschenstaub, der mich bedeckte.
Ich biss die Zähne zusammen und hielt still, um mich kalt abreibenzu lassen. Seife gab es nicht. Mit Seife hatten wir uns schon lange nicht mehrgewaschen. Mutter übergoss mich mit kaltem Wasser und rubbelte mich ab.
Ich schaute mir die Körper rings um mich herum an, hervorstehendeRippen, flache Brüste, flache Pos. Ich sah Wunden, die von Schlägen herrührten,geschwollene Beine, Hungerrosen. Jede hatte etwas. Ich suchte nach starkenArmen und runden Gesichtern. Die weißen Waschbecken und die weißen Klos sahen alleheil aus, selbst wenn sie schmutzig waren.
Die Frau neben uns rieb ihre spärlichen blonden Haarstoppeln.Sie redete über ihr Betteln und Stehlen. Ihr waren die Beschimpfungen egal,solange sie dabei etwas zu essen bekam.
«In der Not frisst der Teufel Fliegen», sagteMutter.
Mutter sagte gerne Sprichwörter auf. Dieses gehörte zu ihrenliebsten.
Geschwollene Beine und aufgedunsene Körper machen einen kräftigenEindruck, sie sind es aber ganz und gar nicht. Sie stecken nur voller Wasser.Sie täuschen den Betrachter, wie Mutter versicherte. Sie waren wieangeschwollene Kröpfe. Richtige Ernährung konnte so etwas wieder in Ordnungbringen. Aber was hieß denn richtige Ernährung? Es war fast komisch, wie der Hungerden Körper da und dort aufblähen konnte.
Im Waschraum schaute sich jeder genau um, bemerkte Schwächenund Stärken. Jeder zählte, was für das Leben und was für den Tod sprach. Nurdie Schwangere nicht. Sie saß auf dem Klo. Ihr kugeliger Bauch lag bläulichgeschwollen wie ein Buckel oben auf ihren Knien. Sie starrte ins Nichts undsprach mit niemandem. Meine Blicke hingen an ihrem leeren Gesicht.
Mutter zog Elfie aus und legte mir ihre Kleider in die Arme.Elfte trug keine Gefängnissachen, sondern ihre geflickten Kleider. Teile vonHosen, vielleicht von Vater oder von Gustav. Teile von Kleidern, die noch nichtzu abgetragen oder verschlissen waren. Ich hielt Elfies Puppe, die auch ausLumpen zusammengenäht war: Sie bestand aus Streifen grauen Stoffs, eingeblümter Flicken bildete das Puppengesicht. Glückliche Elfie! Sie besaß einePuppe in Potulice. Sie konnte Mutter und Kind spielen.
Nun war Mutter dran. Ich hielt ihre Kleider, roch den Torfund Schweiß in ihren Sachen. Ihre Arme bewegten sich gleichmäßig. FeinerTorfstaub bedeckte ihren Oberkörper.
«Ich dachte, du hast Wagen gezogen», sagte ich.
«Die müssen zuerst beladen werden», antwortete Mutter.
Ich sah den Schmutz, der die Frauen bedeckte: an Holzpantoffelnden Schmutz aus den Feldern und Holzspäne aus den Möbelschreinereien. Ichkonnte die Werkstätten sehen, wenn ich zu Mutters Baracke ging, mich umdrehteund zurückschaute. Ich sammelte Holzspäne und roch daran. Das Holz duftete nachfrischem Regen, nach grünen Pflanzen, deren Geruch ich schon lange nicht mehrverspürt hatte. Elfie sammelte Holzspäne ein. Damit würde sie spielen können.
Wir drängten uns an Frauen vorbei, die darauf warteten, die Waschbeckenund die Toiletten benutzen zu können, an Frauen, die auf dem Gang warteten,kamen an den Bettstellen in Mutters Raum vorbei. Elfte und ich saßenzusammengedrängt auf der unteren Pritsche. Wir tunkten unser Sonntagsbrot inden kalten Kaffee. Mutter hob Brot auf, damit wir ein wenig mehr zu essenbekamen. Manchmal tauschte sie es auch gegen eine Rübe oder was immer siebekommen konnte. Mutter schaute zu, wie wir aßen. Über uns rollte sich dasSoldatenmädchen hin und her und brachte unser ganzes Bettgestell ins Wanken.Drei Hinrichtungen kletterte von der uns gegenüberliegenden mittleren Pritscheherunter.
Vom obersten Bettfach über Drei Hinrichtungen schaute die Läusesammlerinherab. Um uns herum dösten die Frauen, starrten, redeten oder schwiegen.Jemand schnarchte. Alles spielte sich in der Enge von Pritschen und Gestellenab.
Über uns erzählte das Soldatenmädchen seine immergleiche Geschichte.In ihrem Dorf hatten Rotarmisten sämtliche Frauen genommen. Sie hatten mit den Frauengetrieben, was Soldaten eben mit allen Frauen taten.
«So ging es eben zu», sagte stets die Läusesammlerin, dieflach auf ihrem Bett lag.
«Sie haben es gemacht», sagte das Soldatenmädchen undbrachte wieder alles ins Wanken.
Sie hatte ihr Los hingenommen, ohne dass es zum Kampf kam. Obwohlsie sich nicht wehrte, hatten sie ihr den Arm gebrochen. Die Soldaten konnteneben mit den Frauen des Dorfes machen, was sie wollten. Da waren sich alleFrauen einig.
Die Täter waren Rotarmisten, Sowjets, Kommunisten. Es war sinnlos,sich über sie Gedanken zu machen. Sie waren eben so und nicht anders. Irgendwiekonnte ich mir vorstellen, was die Soldaten mit den Frauen des Dorfes getanhatten. Ich hatte eine Ahnung davon. Sie hatten mit dein Mädchen getrieben, wasandere Soldaten mit Mutter getan hatten. Das, was jemand mit der Schwangerengetan hatte. So ungefähr musste es sein. Was würde mit der Schwangerenpassieren? Nach diesen Dingen zu fragen hatte keinen Sinn. Mutter würde keineAntwort geben. Sicher würde es nichts Gutes sein. (...)
© 2003 Scherz Verlag, Bern
Übersetzung: Klaus Kochmann
- Autor: Martha Kent
- 2004, 334 Seiten, 22 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596164427
- ISBN-13: 9783596164424
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