Einsamkeit
Die Entdeckung eines Lebensgefühls
Die Entdeckung eines Lebensgefühls. Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das ist kein Wunder, sagt Starjournalist und »Personifizierung des Supersingles« (taz) Ulf Poschardt, aber es ist falsch.
In den Niederungen des Alltags und in philosophischer Höhe...
In den Niederungen des Alltags und in philosophischer Höhe...
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Buch (Gebunden)
Produktdetails
Produktinformationen zu „Einsamkeit “
Die Entdeckung eines Lebensgefühls. Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das ist kein Wunder, sagt Starjournalist und »Personifizierung des Supersingles« (taz) Ulf Poschardt, aber es ist falsch.
In den Niederungen des Alltags und in philosophischer Höhe zeigt er uns die Spielarten der Einsamkeit: die gewollte und die nicht gewollte; die bewunderte und die bemitleidete; die selbstverliebte und die selbstverachtende; die unglückliche, vor allem jedoch die Entdeckung der glücklichen Einsamkeit dort, wo die Chance auf Selbstfindung und Glück wohnt.
In den Niederungen des Alltags und in philosophischer Höhe zeigt er uns die Spielarten der Einsamkeit: die gewollte und die nicht gewollte; die bewunderte und die bemitleidete; die selbstverliebte und die selbstverachtende; die unglückliche, vor allem jedoch die Entdeckung der glücklichen Einsamkeit dort, wo die Chance auf Selbstfindung und Glück wohnt.
Klappentext zu „Einsamkeit “
Ein Vertreter der Coolen zieht aus, um die Einsamkeit kennenzulernen. Ulf Poschardts Buch ist die Einstiegsdroge für alle, die lernen wollen, glücklich einsam zu sein. Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das ist kein Wunder, sagt Ulf Poschardt, Starjournalist und "Personifizierung des Supersingles" (taz), aber es ist falsch. Er will das Paradies der Einsamkeit suchen, den Ort, an dem die Chance auf Selbstfindung und Glück wohnt. Wir lesen von Lars, Tina, Sabine, Tobias und uns allen - zuerst ist man nur für einen Augenblick allein, dann sind neunzig Minuten Zeit zu füllen, es kommt das erste Weihnachten allein, ein Geburtstag allein, schließlich ist man ein Jahr nur mit sich...In den Niederungen des Alltags und in philosophischer Höhe zeigt Poschardt die Spielarten der Einsamkeit: die gewollte und die nicht gewollte, die kurze und die ewige, die bewunderte und die bemitleidete, die selbstverliebte und die selbstverachtende, die unglückliche, vor allem jedoch die Entdeckung der glücklichen Einsamkeit.
Lese-Probe zu „Einsamkeit “
Ulf PoschardtEinsamkeit
Die Entdeckung eines Lebensgefühls
Jeder ist einsam. Es gibt lediglich verschiedene Grade von Einsamkeit. Obwohl, oder gerade weil der Mensch ein Herdentier ist, fühlt er sich einsam. Immer mehr Menschen kennen dieses Gefühl, nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Überall dort, wo Menschen sich selbst verwirklichen, sich emanzipieren und frei leben dürfen. Jede Form von Freiheit hat ihren Schatten. Wer frei ist von Beziehungsterror, den Ansprüchen der Familie, den Verpflichtungen einer Ehe, wird dadurch nur kurz oder gar nicht glücklich. Die meisten Menschen sehnen sich nach Nähe und scheitern. Sie fühlen sich in Isolationshaft und leiden darunter. Zur Zeit leben in Deutschland über 14 Millionen Menschen allein. Tendenz steigend. Ganz zu schweigen von den Millionen Menschen, die in einer Ehe oder Beziehung geborgen sein sollten und sich einsamer fühlen denn je.
Einsamkeit geht jeden an. Bisher wird Einsamkeit vor allem als Problem begriffen. Wer unter dem Stichwort Einsamkeit googlet, landet auf Seiten über Depression, Isolation, Krankheit, Angst, Alter, Selbstmord. Nicht gerade eine verlockende Umgebung. Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das ist kein Wunder, aber ungerecht.
Einsamkeit bedeutet eine Chance auf Selbstfindung und Glück. Nur wer gelernt hat, einsam zu sein, kann sich selbst finden und dann auch einen Partner fürs Leben. Anstatt Einsamkeit zu problematisieren, müssen wir lernen, sie zu verstehen und zu nutzen. Sie ist der Königsweg zu einem erfüllten Leben in Souveränität. Sie macht stärker und unabhängiger, und sie hilft - so absurd das klingen mag -, sich leichter zu binden. Man liebt leidenschaftlicher, wenn man weiß, daß man auch alleine glücklich werden kann. Man will weder klammern noch glucken, sondern sucht jene Form von Zweisamkeit, die ohne Abhängigkeit auskommt.
Dieses Buch versucht nichts weniger, als der Einsamkeit einen besseren, vielleicht sogar guten Ruf zu verschaffen - und
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uns allen zu zeigen, wieviel wir einer bewußt erlebten Einsamkeit abgewinnen können. Gesetzt den Fall, wir wagen es, uns der Einsamkeit auszusetzen und freiwillig aus dem sozialen Netz und seinen vermeintlichen Sicherheiten herauszufallen. Einsamkeit ist eine Art Sozialdiät mit ebenso großem Euphoriepotential wie ein geschrumpfter Hintern nach der South-Beach-Diät oder eine gertenschlanke Taille nach Atkins. Vielleicht sollte ich das Ganze die Poschardt-Sozialdiät nennen, wir werden sehen.
Gestaunt jedenfalls haben die Verhaltensforscher des Max-Planck-Instituts im bayerischen Andechs, als sie Dutzende von Freiwilligen für mehrere Wochen alleine in ein Zimmer sperrten, ohne Telefon, Fernseher, Radio oder sonstige Kommunikationsmedien. Nicht einmal ein Fenster gab es, nur künstliches Licht. Kontakt zur Außenwelt war nur über Briefe möglich. Jeder durfte mitbringen, womit er sich am liebsten die Zeit vertreiben wollte. Die Teilnehmer konnten Klavieretüden üben oder die Bauchmuskeln trainieren. Am Anfang fürchteten alle, das Experiment nicht lange durchzuhalten. Doch als sich die Türen zur Außenwelt wieder öffneten, erklärten achtzig Prozent der Testpersonen, daß sie gerne wiederkommen würden. Sie waren danach "ruhiger und ausgeglichener", wie der Untersuchungsleiter erklärt. Sie haben offensichtlich gelernt, die Einsamkeit in ihrer extremsten Form zu genießen.
Die Grundthese dieses Buches ist, daß dies alle Menschen können. Einsamkeit richtig zu verstehen, heißt, sie als mentales Bodybuilding zu begreifen, als Chance, "ich" zu werden. Die Forscher vom Max-Planck-Institut betonen, wir alle seien "Rhythmus-Pausen-Menschen". Waren wir vielen Reizen und Menschen ausgesetzt, brauchen wir anschließend eine Ruhephase. Dies sei Teil unserer biologischen Ausstattung, doch diese natürlichen Rhythmen würden im Alltag zunehmend ausgelöscht.
In dieser Erkenntnis liegt der Kern jener Chance auf Glück, die Einsamkeit bietet. Einsamkeit gehört zum menschlichen Leben notwendigerweise dazu. Einsamkeit ist wie Einatmen, Gemeinschaft wie Ausatmen. Es geht um die richtige Balance.
Sehnen Sie sich nach anderen Menschen? Das ist gut so. Das ist die beste Voraussetzung, um einsam glücklich zu sein. Wie? Sie werden sehen.
Warum also haben so viele Menschen Angst vor der Einsamkeit? Weil sie dieses Gefühl nicht richtig dosieren können, und weil sie abergläubisch sind. Sie haben Angst, daß Einsamkeit eine ansteckende, unheilbare Krankheit ist: Einmal infiziert, wird man sie nicht mehr los. Zerfallende Familien, das Altern der Gesellschaft und die grassierende Bindungslosigkeit des Menschen in modernen Wohlstandsgesellschaften lassen realistisch erscheinen, daß schon Ende dieses Jahrzehnts jeder zweite Deutsche allein leben wird. Einsamkeit ist längst eine Volkskrankheit, und sie ist es vor allem deshalb, weil so viele Einsame sich krank fühlen. Glücklich Einsame sind eine Minderheit. Ich bin einsam und glücklich. Dies vorneweg. Alleinleben ist ein sozialstatistischer Befund, Einsamkeit ein psychischer Zustand. Man kann alleine sein und nicht einsam. Einsam und nicht alleine. Die einsamsten Menschen, mit denen ich sprach, waren verheiratet. Ulrich Beck hat Einsamkeit "das stabilste Fundament der Ehe" genannt. Demgegenüber steht die Sehnsucht als stabilstes Fundament der Einsamkeit.
Ich bin nicht immer einsam. Aber wenn ich es bin, nutze ich die Zeit. Es ist die Zeit, in der man wächst und lernt. Nicht gegen die anderen Menschen, sondern in innerer Unabhängigkeit. Einsamkeit richtet den inneren Kompaß neu aus. Sie sortiert das Innenleben für die Begegnung mit anderen. Sie schont das soziale Netzwerk, anstatt es zu zerstören.
Ich genieße Einsamkeit, weil sie immer endlich ist. Weil sie ein Freund und keine Krankheit ist. Und weil ich gelernt habe, mit ihr zu leben. Sie ist ein Kraftfeld, ein Ort von Ruhe, Schönheit und Konzentration, und sie ist ein Motor. Ich bade in Isolation, statt in Menschen. Baden Sie mit mir. Natürlich jeder für sich alleine.
Eine Minute Einsamkeit
Aller Anfang ist schwer. Was wohl ist der Moment, in dem ein kleines Kind zum ersten Mal spürt, daß es einsam ist? Wann versteht es, daß es verlassen wurde und nun ganz bei sich bleiben muß? Entwicklungspsychologen sprechen von einem traumatischen Einschnitt im Leben eines Säuglings. Diesen ersten Moment der Einsamkeit gibt es in jedem Leben. Die Frage ist nur, wann er kommt. Und welche Rückschlüsse der winzige Mensch daraus zieht.
Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal einsam zu sein? Ich habe keine Ahnung. Will es auch nicht wissen. Ich vermute aber, daß sich in jenem Moment alles entscheidet. Beginnt das Kind nicht zu schreien, sondern liegt einfach nur still und staunend da, blickt versonnen auf die Wände und den matten Glanz der Sonne auf dem Fensterbrett, dann könnte ein glücklicher Mensch aus ihm werden. Einer der weiß, daß er die anderen nicht braucht, um bei sich zu sein. Für den Einsamkeit nicht Isolation bedeutet, sondern jene Stille der Existenz, die Glück und Frieden sein kann. Aber vielleicht eile ich ein wenig voraus.
Wissenschaftler in Florida haben herausgefunden, daß Frühgeborene im Brutkasten, einem relativ einsamen Ort, ihren Reiferückstand schneller aufholen, wenn sie dreimal täglich gestreichelt werden. Sie können das Krankenhaus knapp eine Woche früher verlassen als jene, die nicht berührt werden. In der Tierwelt drosseln Neugeborene bei Mangel an Berührung ihren Stoffwechsel und hören auf zu wachsen. Sie warten darauf, wieder berührt zu werden. Wie alle Primaten braucht auch der Mensch diese Berührung, sonst stirbt er. Das heißt aber nicht, wie Mediziner betonen, daß die Suche nach Nähe in Widerspruch steht zum ebenfalls notwendigen Rückzug und Alleinsein.
Wer weiß, daß er wieder berührt werden wird, wächst auch ohne Berührung in dieser Zuversicht weiter. Wenn die erste Minute Einsamkeit des Kindes zwischen Momenten der Zärtlichkeit liegt, wird es besser gerüstet sein, ein Leben ohne Bindung als Freiheit zu genießen. Wer in der ersten Minute Einsamkeit Schwäche statt Stärke, Angst statt Mut verspürt, wird immer etwas brauchen, das ihn davor schützt, sich nackt und verlassen zu fühlen. Folgt man der Amputationsthese des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan, dann ist jede Form von Kultur und Zivilisation nur eine Prothese für jenes Gegenüber, das der Einsame vermißt. Dann gibt es Arbeit, Hobbys, Familie, Religion - und zu oft auch Liebe - nur deshalb, weil Menschen sich vor der Einsamkeit verstecken.
Der Mensch ist ein soziales Tier, mehr noch als ein vernunftbegabtes. Pointierter formuliert: der Mensch wird um so irrationaler, je mehr er sich in die Beziehungsnetze seiner Umwelt verstrickt. Dem entgehen heißt, die Einsamkeit zu wählen.
Früher oder später gewöhnt sich jeder an eine Minute Einsamkeit. Doch spätestens nach sechzig Sekunden bekommen zwei Drittel aller Menschen Angst, daß dies der Anfang eines einsamen Lebens sein könnte. Daß auf die erste Minute die zweite folgen wird, dann die dritte und vierte, eine Stunde, ein Monat, ein Leben. Deswegen beginnen sie nach gut vierzig Sekunden zu lächeln, nach fünfzig Sekunden zu flirten: egal mit wem oder was. Das macht sie sehr verletzlich, aber auch sehr sozial. Im besten Fall werden sie grandiose Netzwerker. Im schlimmsten Fall Talkshowmoderatoren.
Sie dürsten ständig nach Liebe und Zuneigung. Immer haben sie das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Sie lechzen nach Anerkennung wie Verdurstende nach einem Schluck Wasser. Sie bitten in einer Bar um Feuer und beginnen ungefragt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie nehmen im Flugzeug neben einem Platz und machen einen Witz. Sie stellen sich im Büro vor und merken auch nach drei Minuten nicht, daß sie stören. Sie haben ein dickes Fell und halten sich für sensibel.
Die erste Minute Einsamkeit stelle ich mir gern wie ein zartes Schweigen vor: Man hört den Atem der Existenz und steht vor der Wahl, sich künftig für Störgeräusche oder aber für möglichst viel Ruhe und Konzentration zu entscheiden. "Einsamkeit", so sinnierte - wohl ziemlich selbstzufrieden - der Kleinbürgerphilosoph Arthur Schopenhauer, "ist das Los aller hervorragenden Geister." Dieser Keim der Hybris ist der gefährlichste Motor, der Einsamkeit antreibt; er führt direkt in den Größenwahn oder anderen Irrsinn. Diese Haltung ist ebenso weit verbreitet wie gefährlich, ebenso unoriginell wie verblasen. Auf der anderen Seite kann sie auch sehr charmant sein. Jeder Freundeskreis mit Anspruch hält sich einen selbstbewußten, unterhaltsamen Autisten.
Ein Freund, Mitte Vierzig, protestierte, als ich ihm sagte, daß ich Einsamkeit schön und wichtig finde. Allein sein ja, meinte er, einsam sein nein. Einsam wäre er nie, nur viel allein. Alleinsein sei etwas, das er sehr gut könne - zur Verzweiflung seiner besten Freunde. Seine letzte große Liebe brachte sich nach einer drogeninduzierten Psychose um, seither lebt er allein - nicht einsam, wie er immer wieder betont - zwischen den Hunderten von Menschen, die sich in Hamburg, Berlin, New York oder Paris stets im Rudel durch Vernissagen, Opernpremieren und Geburtstagsempfänge treiben lassen. Er ist einer der Helden dieser sogenannten Crowd. Er ist groß, schmal, gutaussehend, frech, liebenswert, charmant - und bis zum Umfallen indiskret. In einer perfekten Kombination. Hinzu kommt eine Stilhoheit, die jeden beeindruckt. Er war vielleicht noch keine Sekunde einsam, weil er nicht wollte, daß man es so nennt.
Einsam und alleine sind für ihn nicht Nuancen, sondern unterschiedliche Kategorien. Alleine ist man, wenn man sein Leben auf andere Menschen ausgerichtet verbringt, diese aber gerade nicht "zuhanden" sind, wie Heidegger es nennen würde. Einsam ist man, wenn man diese Ausrichtung auf andere eben nicht besitzt, weil sie einem genommen wurde oder man sie sich selbst genommen hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man gerade mit oder ohne Menschen seine Zeit verbringt. Die niederländische Königin Juliane überschrieb ihre Memoiren mit "Einsam und doch nicht alleine." John Cacioppo, Leiter des weltweit größten Studienprogrammes zur Erforschung von Einsamkeit in Chikago, erklärt, Einsamkeit spiegele wider, wie ein Mensch seine Situation empfindet, wie isoliert oder innerlich abgetrennt von der Welt er sich fühlt.
Alleine läßt sich ein Abend anders verbringen als einsam. Einsam sein heißt, man ist aus den Bindungen herausgefallen. Die unfreiwillig Einsamen sind aus ihrem sozialen Netz verstoßen worden. Sie leiden. Andere wollten dieses soziale Netz zerreißen, um frei zu sein. In dieser Freiheit kann sich Liebe ereignen. Denn der Einsame hofft darauf, von dem Menschen geliebt zu werden, der wie in Platons Symposion die andere Hälfte des Selbst ist, die es erst vollkommen macht.
Der Einsame weiß, daß er Liebe will: Wenn es soweit ist, wird er lieben können. Seine Aura ist die des Wartenden, der innehält, auch über Jahre, um ankommen zu sehen, was sein Herz begehrt. In der Sekunde, in der das künftige Glück sein Leben betritt, wird er es spüren; er wird lächeln und den letzten tiefen Atemzug in Freiheit genießen, um sich dann zu binden. Einsam ist, wer geliebt werden will. Oder ist das jetzt zu romantisch gedacht? Nein, dieses Pathos der Einsamkeit ist wichtig, weil es Sehnsüchte schafft und erhält.
Die Ichwerdung des Menschen beginnt nach Meinung vieler Psychologen in dem Augenblick, in dem sich der Säugling im Spiegel als Selbst erkennt. Vielleicht aber auch in jenem ersten Moment der Einsamkeit.
Gestaunt jedenfalls haben die Verhaltensforscher des Max-Planck-Instituts im bayerischen Andechs, als sie Dutzende von Freiwilligen für mehrere Wochen alleine in ein Zimmer sperrten, ohne Telefon, Fernseher, Radio oder sonstige Kommunikationsmedien. Nicht einmal ein Fenster gab es, nur künstliches Licht. Kontakt zur Außenwelt war nur über Briefe möglich. Jeder durfte mitbringen, womit er sich am liebsten die Zeit vertreiben wollte. Die Teilnehmer konnten Klavieretüden üben oder die Bauchmuskeln trainieren. Am Anfang fürchteten alle, das Experiment nicht lange durchzuhalten. Doch als sich die Türen zur Außenwelt wieder öffneten, erklärten achtzig Prozent der Testpersonen, daß sie gerne wiederkommen würden. Sie waren danach "ruhiger und ausgeglichener", wie der Untersuchungsleiter erklärt. Sie haben offensichtlich gelernt, die Einsamkeit in ihrer extremsten Form zu genießen.
Die Grundthese dieses Buches ist, daß dies alle Menschen können. Einsamkeit richtig zu verstehen, heißt, sie als mentales Bodybuilding zu begreifen, als Chance, "ich" zu werden. Die Forscher vom Max-Planck-Institut betonen, wir alle seien "Rhythmus-Pausen-Menschen". Waren wir vielen Reizen und Menschen ausgesetzt, brauchen wir anschließend eine Ruhephase. Dies sei Teil unserer biologischen Ausstattung, doch diese natürlichen Rhythmen würden im Alltag zunehmend ausgelöscht.
In dieser Erkenntnis liegt der Kern jener Chance auf Glück, die Einsamkeit bietet. Einsamkeit gehört zum menschlichen Leben notwendigerweise dazu. Einsamkeit ist wie Einatmen, Gemeinschaft wie Ausatmen. Es geht um die richtige Balance.
Sehnen Sie sich nach anderen Menschen? Das ist gut so. Das ist die beste Voraussetzung, um einsam glücklich zu sein. Wie? Sie werden sehen.
Warum also haben so viele Menschen Angst vor der Einsamkeit? Weil sie dieses Gefühl nicht richtig dosieren können, und weil sie abergläubisch sind. Sie haben Angst, daß Einsamkeit eine ansteckende, unheilbare Krankheit ist: Einmal infiziert, wird man sie nicht mehr los. Zerfallende Familien, das Altern der Gesellschaft und die grassierende Bindungslosigkeit des Menschen in modernen Wohlstandsgesellschaften lassen realistisch erscheinen, daß schon Ende dieses Jahrzehnts jeder zweite Deutsche allein leben wird. Einsamkeit ist längst eine Volkskrankheit, und sie ist es vor allem deshalb, weil so viele Einsame sich krank fühlen. Glücklich Einsame sind eine Minderheit. Ich bin einsam und glücklich. Dies vorneweg. Alleinleben ist ein sozialstatistischer Befund, Einsamkeit ein psychischer Zustand. Man kann alleine sein und nicht einsam. Einsam und nicht alleine. Die einsamsten Menschen, mit denen ich sprach, waren verheiratet. Ulrich Beck hat Einsamkeit "das stabilste Fundament der Ehe" genannt. Demgegenüber steht die Sehnsucht als stabilstes Fundament der Einsamkeit.
Ich bin nicht immer einsam. Aber wenn ich es bin, nutze ich die Zeit. Es ist die Zeit, in der man wächst und lernt. Nicht gegen die anderen Menschen, sondern in innerer Unabhängigkeit. Einsamkeit richtet den inneren Kompaß neu aus. Sie sortiert das Innenleben für die Begegnung mit anderen. Sie schont das soziale Netzwerk, anstatt es zu zerstören.
Ich genieße Einsamkeit, weil sie immer endlich ist. Weil sie ein Freund und keine Krankheit ist. Und weil ich gelernt habe, mit ihr zu leben. Sie ist ein Kraftfeld, ein Ort von Ruhe, Schönheit und Konzentration, und sie ist ein Motor. Ich bade in Isolation, statt in Menschen. Baden Sie mit mir. Natürlich jeder für sich alleine.
Eine Minute Einsamkeit
Aller Anfang ist schwer. Was wohl ist der Moment, in dem ein kleines Kind zum ersten Mal spürt, daß es einsam ist? Wann versteht es, daß es verlassen wurde und nun ganz bei sich bleiben muß? Entwicklungspsychologen sprechen von einem traumatischen Einschnitt im Leben eines Säuglings. Diesen ersten Moment der Einsamkeit gibt es in jedem Leben. Die Frage ist nur, wann er kommt. Und welche Rückschlüsse der winzige Mensch daraus zieht.
Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal einsam zu sein? Ich habe keine Ahnung. Will es auch nicht wissen. Ich vermute aber, daß sich in jenem Moment alles entscheidet. Beginnt das Kind nicht zu schreien, sondern liegt einfach nur still und staunend da, blickt versonnen auf die Wände und den matten Glanz der Sonne auf dem Fensterbrett, dann könnte ein glücklicher Mensch aus ihm werden. Einer der weiß, daß er die anderen nicht braucht, um bei sich zu sein. Für den Einsamkeit nicht Isolation bedeutet, sondern jene Stille der Existenz, die Glück und Frieden sein kann. Aber vielleicht eile ich ein wenig voraus.
Wissenschaftler in Florida haben herausgefunden, daß Frühgeborene im Brutkasten, einem relativ einsamen Ort, ihren Reiferückstand schneller aufholen, wenn sie dreimal täglich gestreichelt werden. Sie können das Krankenhaus knapp eine Woche früher verlassen als jene, die nicht berührt werden. In der Tierwelt drosseln Neugeborene bei Mangel an Berührung ihren Stoffwechsel und hören auf zu wachsen. Sie warten darauf, wieder berührt zu werden. Wie alle Primaten braucht auch der Mensch diese Berührung, sonst stirbt er. Das heißt aber nicht, wie Mediziner betonen, daß die Suche nach Nähe in Widerspruch steht zum ebenfalls notwendigen Rückzug und Alleinsein.
Wer weiß, daß er wieder berührt werden wird, wächst auch ohne Berührung in dieser Zuversicht weiter. Wenn die erste Minute Einsamkeit des Kindes zwischen Momenten der Zärtlichkeit liegt, wird es besser gerüstet sein, ein Leben ohne Bindung als Freiheit zu genießen. Wer in der ersten Minute Einsamkeit Schwäche statt Stärke, Angst statt Mut verspürt, wird immer etwas brauchen, das ihn davor schützt, sich nackt und verlassen zu fühlen. Folgt man der Amputationsthese des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan, dann ist jede Form von Kultur und Zivilisation nur eine Prothese für jenes Gegenüber, das der Einsame vermißt. Dann gibt es Arbeit, Hobbys, Familie, Religion - und zu oft auch Liebe - nur deshalb, weil Menschen sich vor der Einsamkeit verstecken.
Der Mensch ist ein soziales Tier, mehr noch als ein vernunftbegabtes. Pointierter formuliert: der Mensch wird um so irrationaler, je mehr er sich in die Beziehungsnetze seiner Umwelt verstrickt. Dem entgehen heißt, die Einsamkeit zu wählen.
Früher oder später gewöhnt sich jeder an eine Minute Einsamkeit. Doch spätestens nach sechzig Sekunden bekommen zwei Drittel aller Menschen Angst, daß dies der Anfang eines einsamen Lebens sein könnte. Daß auf die erste Minute die zweite folgen wird, dann die dritte und vierte, eine Stunde, ein Monat, ein Leben. Deswegen beginnen sie nach gut vierzig Sekunden zu lächeln, nach fünfzig Sekunden zu flirten: egal mit wem oder was. Das macht sie sehr verletzlich, aber auch sehr sozial. Im besten Fall werden sie grandiose Netzwerker. Im schlimmsten Fall Talkshowmoderatoren.
Sie dürsten ständig nach Liebe und Zuneigung. Immer haben sie das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Sie lechzen nach Anerkennung wie Verdurstende nach einem Schluck Wasser. Sie bitten in einer Bar um Feuer und beginnen ungefragt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie nehmen im Flugzeug neben einem Platz und machen einen Witz. Sie stellen sich im Büro vor und merken auch nach drei Minuten nicht, daß sie stören. Sie haben ein dickes Fell und halten sich für sensibel.
Die erste Minute Einsamkeit stelle ich mir gern wie ein zartes Schweigen vor: Man hört den Atem der Existenz und steht vor der Wahl, sich künftig für Störgeräusche oder aber für möglichst viel Ruhe und Konzentration zu entscheiden. "Einsamkeit", so sinnierte - wohl ziemlich selbstzufrieden - der Kleinbürgerphilosoph Arthur Schopenhauer, "ist das Los aller hervorragenden Geister." Dieser Keim der Hybris ist der gefährlichste Motor, der Einsamkeit antreibt; er führt direkt in den Größenwahn oder anderen Irrsinn. Diese Haltung ist ebenso weit verbreitet wie gefährlich, ebenso unoriginell wie verblasen. Auf der anderen Seite kann sie auch sehr charmant sein. Jeder Freundeskreis mit Anspruch hält sich einen selbstbewußten, unterhaltsamen Autisten.
Ein Freund, Mitte Vierzig, protestierte, als ich ihm sagte, daß ich Einsamkeit schön und wichtig finde. Allein sein ja, meinte er, einsam sein nein. Einsam wäre er nie, nur viel allein. Alleinsein sei etwas, das er sehr gut könne - zur Verzweiflung seiner besten Freunde. Seine letzte große Liebe brachte sich nach einer drogeninduzierten Psychose um, seither lebt er allein - nicht einsam, wie er immer wieder betont - zwischen den Hunderten von Menschen, die sich in Hamburg, Berlin, New York oder Paris stets im Rudel durch Vernissagen, Opernpremieren und Geburtstagsempfänge treiben lassen. Er ist einer der Helden dieser sogenannten Crowd. Er ist groß, schmal, gutaussehend, frech, liebenswert, charmant - und bis zum Umfallen indiskret. In einer perfekten Kombination. Hinzu kommt eine Stilhoheit, die jeden beeindruckt. Er war vielleicht noch keine Sekunde einsam, weil er nicht wollte, daß man es so nennt.
Einsam und alleine sind für ihn nicht Nuancen, sondern unterschiedliche Kategorien. Alleine ist man, wenn man sein Leben auf andere Menschen ausgerichtet verbringt, diese aber gerade nicht "zuhanden" sind, wie Heidegger es nennen würde. Einsam ist man, wenn man diese Ausrichtung auf andere eben nicht besitzt, weil sie einem genommen wurde oder man sie sich selbst genommen hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man gerade mit oder ohne Menschen seine Zeit verbringt. Die niederländische Königin Juliane überschrieb ihre Memoiren mit "Einsam und doch nicht alleine." John Cacioppo, Leiter des weltweit größten Studienprogrammes zur Erforschung von Einsamkeit in Chikago, erklärt, Einsamkeit spiegele wider, wie ein Mensch seine Situation empfindet, wie isoliert oder innerlich abgetrennt von der Welt er sich fühlt.
Alleine läßt sich ein Abend anders verbringen als einsam. Einsam sein heißt, man ist aus den Bindungen herausgefallen. Die unfreiwillig Einsamen sind aus ihrem sozialen Netz verstoßen worden. Sie leiden. Andere wollten dieses soziale Netz zerreißen, um frei zu sein. In dieser Freiheit kann sich Liebe ereignen. Denn der Einsame hofft darauf, von dem Menschen geliebt zu werden, der wie in Platons Symposion die andere Hälfte des Selbst ist, die es erst vollkommen macht.
Der Einsame weiß, daß er Liebe will: Wenn es soweit ist, wird er lieben können. Seine Aura ist die des Wartenden, der innehält, auch über Jahre, um ankommen zu sehen, was sein Herz begehrt. In der Sekunde, in der das künftige Glück sein Leben betritt, wird er es spüren; er wird lächeln und den letzten tiefen Atemzug in Freiheit genießen, um sich dann zu binden. Einsam ist, wer geliebt werden will. Oder ist das jetzt zu romantisch gedacht? Nein, dieses Pathos der Einsamkeit ist wichtig, weil es Sehnsüchte schafft und erhält.
Die Ichwerdung des Menschen beginnt nach Meinung vieler Psychologen in dem Augenblick, in dem sich der Säugling im Spiegel als Selbst erkennt. Vielleicht aber auch in jenem ersten Moment der Einsamkeit.
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Autoren-Porträt von Ulf Poschardt
Ulf Poschardt geboren 1967 in Nürnberg, ist promovierter Philosoph, stellvertretender Chefredakteur der "Welt" und der "Welt am Sonntag" und Porschefahrer. Er war Chefredakteur des "SZ-Magazins" und schrieb Autokolumnen in der Schweizer Wochenzeitung "Die Weltwoche".
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulf Poschardt
- 2006, 183 Seiten, Maße: 11,8 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kabel
- ISBN-10: 3822506737
- ISBN-13: 9783822506738
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