Engelsstimme / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.5
Kommissar Erlendur hat Anweisung, höchst diskret zu ermitteln. Die Spuren des...
Kommissar Erlendur hat Anweisung, höchst diskret zu ermitteln. Die Spuren des Mords führen bis in die Kindheit des Toten.
Arnaldur Indridason belegt mit seinen Krimis regelmäßig die oberen Ränge der Bestsellerlisten in Island - und lässt dabei sogar ''Harry Potter'' hinter sich.
''Der erste glaubwürdige Krimi-Autor Islands - schöne Insel, gutes Buch.''Die Welt
Engelsstimme von Arnaldur Indriðason
LESEPROBE
Endlichwar der Augenblick gekommen. Der Vorhang ging hoch, der Saal lag vor ihm. Eswar ein wunderbares Gefühl, von all diesen Leuten angeblickt zu werden, undseine Schüchternheit verflog im Nu. Er sah einige seiner Schulkameraden undLehrer, und sogar der Rektor war anwesend, der ihm wohlwollend zuzunickenschien. Aber sonst kannte er nur wenige. All diese Leute hatten sicheingefunden, um ihn zu hören, seine schöne Stimme zu hören, die auch im Auslandbereits Aufsehen erregt hatte.
DasSummen im Saal verstummte allmählich, und aller Augen waren in schweigenderErwartung auf ihn gerichtet.
Ersah seinen Vater in der Mitte der ersten Reihe mit übereinander geschlagenenBeinen sitzen, sah seine dicke, schwarze Hornbrille und auf dem Knie den Hutliegen. Er sah, dass er das Opernglas auf ihn gerichtet hatte und ihmaufmunternd zulächelte, das hier war für sie beide die große Stunde in ihremLeben. Von jetzt an würde nichts mehr so sein wie früher.
DerChordirigent hob die Hände. Schweigen senkte sich über den Saal.
Under begann zu singen, mit dieser reinen, schönen Stimme, von der sein Vatersagte, es sei eine Engelsstimme.
ErsterTag
Eins
Elínborg wartete im Hotel auf sie.
Eingroßer Weihnachtsbaum stand im Foyer, und die Halle war mit Tannenzweigen undglitzernden Kugeln weihnachtlich geschmückt. Holder Knabe im lockigen Haarerklang aus einer unsichtbaren Lautsprecheranlage. Große Reisebusse standen vordem Eingang, und die Menschen strömten in die Rezeption. Ausländer, dieWeihnachten und Neujahr in Island verbringen wollten, weil in ihren AugenIsland Abenteuer und Spannung versprach. Sie waren gerade erst gelandet, abertrotzdem hatten sich
einige bereits die typischen Islandpullover gekauft. Man trug sich eifrig alsGast in diesem fremden Winterland ein. Erlendurklopfte sich den nassen Schnee vom Mantel. Sigurður Óli ließ die Blicke über das Foyer schweifen und entdeckte Elínborg bei den Aufzügen. Er stieß Erlenduran, und sie gingen zu ihr hinüber. Sie hatte den Schauplatz bereits inAugenschein genommen. Die Polizisten, die zuerst eingetroffen waren, hattendafür gesorgt, dass nichts angerührt wurde.
DerHotelmanager bat händeringend darum, nicht überzureagieren. Das Wort hatte erverwendet, als er anrief. Dies war ein Hotel, und Hotels lebten von ihrerReputation, und er bat sie, Rücksicht darauf zu nehmen. Deswegen gab es draußenkeine Sirenen, und es gab auch keine uniformierten Polizisten, die durch dieHalle stürmten und Leute anrempelten. Der Hotelmanager erklärte, dass die Gästedes Hotels unter gar keinen Umständen in irgendeiner Weise beunruhigt werdendürften.
Islanddurfte nicht zu spannend und abenteuerlich sein.
Jetztstand der Hotelmanager an der Seite von Elínborg undgab Erlendur und Sigurður Óli die Hand. Der Mann war so fett, dass er kaum in seinenAnzug passte. Das Jackett war über dem Bauch mit einem Knopf zugeknöpft, dersicher nicht mehr lange halten würde. Der Hosenbund verschwand unter demenormen Bauch, der aus dem Jackett quoll, und der Mann schwitzte so stark, dasser das große, weiße Taschentuch, mit dem er sich in regelmäßigen AbständenStirn und Nacken abwischte, kaum wegstecken konnte. Der weiße Hemdkragen warschon schweißnass. Erlendur drückte seine feuchteHand.
"VielenDank", erklärte der Hotelmanager und blies vor lauter Besorgnis wie einWal. Er hatte das Hotel fast zwanzig Jahre lang geleitet, aber so etwas war ihmnoch nie untergekommen.
"Unddas mitten im Weihnachtsbetrieb", stöhnte er. "Ich begreife nicht,wie so etwas passieren kann. Wie kann so etwas passieren?", wiederholteer, und ihnen entging nicht, dass ihn die Situation völlig überforderte.
"Ister unten oder oben?", fragte Erlendur.
"Untenoder oben?", schnaufte der fette Hotelmanager. "Meinst du etwa, ob erzum Himmel gefahren ist?"
"Tja",sagte Erlendur. "Das müssen wir wohl unbedingtin Erfahrung bringen."
"Nehmenwir den Aufzug nach oben?", fragte Sigurður Óli.
"Nein",erwiderte der Hotelmanager, der sich auf den Arm genommen fühlte und Erlendur anstarrte. "Er ist hier unten im Keller. Hatda ein kleines Zimmer. Wir haben ihn nicht rauswerfen mögen. Und das ist dannder Dank dafür."
"Warumwolltet ihr ihn denn rauswerfen?", fragte Elínborg.
DerHotelmanager sah sie an, ohne zu antworten.
Siebegaben sich langsam auf der Treppe neben dem Aufzug nach unten. DerHotelmanager ging voran. Sogar treppabwärts waren dieStufen eine Anstrengung für ihn, und Erlendurüberlegte, wie er da wohl wieder hochkommen würde.
Siehatten sich damit einverstanden erklärt, möglichst rücksichtsvoll vorzugehen,nur Erlendur hatte nichts gesagt. Sie wolltenwenigstens versuchen, so diskret wie möglich zu arbeiten. Drei Polizeiautos undein Krankenwagen standen hinter dem Hotel. Polizei und Krankenwagenbesatzungwaren zum Hintereingang hereingekommen. Der Amtsarzt war unterwegs. Er würdeden Totenschein ausstellen und den Leichenwagen anfordern.
Siegingen einen langen Gang entlang, Schritt für Schritt hinter dem schnaufendenWal her. Uniformierte Polizisten grüßten sie. Je weiter sie nach hinten kamen,desto dunkler wurde der Gang, weil die Birnen an der Decke den Geist aufgegebenhatten und sich offenbar niemand die Mühe gemacht hatte, sie auszuwechseln.Schließlich kamen sie in der Finsternis an eine Tür, die halb offen stand und denBlick in einen kleinen Raum freigab. Der glich eher einer Abstellkammer alseiner menschlichen Behausung, aber enthielt immerhin ein schmales Bett undeinen kleinen Schreibtisch. Auf den dreckigen Fliesen lag ein abgewetzterBettvorleger, oben, knapp unterhalb der Decke, war ein kleines Fenster.
DerMann saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Bett. Er trug ein knallrotesWeihnachtsmannkostüm mit entsprechender Mütze, die ihm ins Gesicht gerutschtwar. Der weiße Weihnachtsmann-Rauschebart verdeckte den Rest des Gesichts. DieSchnalle des breiten Gürtels war über dem Bauch gelöst worden, und die Jackewar aufgeknöpft. Darunter trug er nichts weiter als ein weißes Unterhemd. Überdem Herzen war eine tödliche Stichwunde. Am Bauch waren noch weitere Verletzungen,aber der Stich ins Herz war der tödliche gewesen. Seine Hände wiesen ebenfallsStichwunden auf, als hätte er versucht, den Angriff abzuwehren.
DieHosen waren heruntergelassen. An seinem Glied hing ein Kondom.
"Morgenkommt der Weihnachtsmann", trällerte Sigurður Óli und schaute auf die Leiche hinunter.
Elínborg brachte ihn mit einem "Psst" zum Schweigen.
ImZimmer gab es noch einen kleinen Kleiderschrank. Der stand offen, und man sahzusammengefaltete Hosen und Pullover, gebügelte Hemden und Socken. Die Livreehing auf einem Bügel, dunkelblau mit goldenen Epauletten und glänzendenMessingknöpfen. Neben dem Schrank standen blank geputzte Lederschuhe.
Zeitungenund Zeitschriften stapelten sich auf dem Fußboden. Neben dem schmalen Bettstand ein Nachttisch mit einer Lampe. Auf dem Nachttisch lag ein Buch: A History of the Vienna Boys Choir.
"Hatdieser Mann hier gewohnt?", fragte Erlendur undblickte sich um. Elínborg und er hatten sich in dasZimmer hineingezwängt, Sigurður Óliund der Hotelmanager standen draußen. Für alle war drinnen kein Platz.
"Wirhaben ihm gestattet, sich hier einzurichten", sagte der Hotelmanagerverlegen und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. "Er arbeiteteschon seit langem bei uns, war schon da, als ich kam. Er war Portier."
"Standdie Tür offen, als man ihn gefunden hat?", fragte SigurðurÓli und versuchte amtlich zu klingen, um denAusrutscher von vorhin wieder wettzumachen.
"Ichhabe sie gebeten, auf euch zu warten", erklärte der Hotelmanager."Das Mädchen, das ihn gefunden hat. Sie ist in der Kantine für dieHotelangestellten. Das arme Ding steht unter Schock, das könnt ihr euch sichervorstellen." Der Hotelmanager vermied es, in das Zimmer zu blicken.
Erlendur trat zu der Leiche und untersuchte die Herzwunde. Er konnte sich nichtvorstellen, mit was für einem Messer der Mann getötet worden war. Er blicktehoch. Über dem Bett hing ein altes, vergilbtes Kinoplakat mit Shirley Temple, das an den Ecken mit Tesafilm angeklebt worden war.Erlendur kannte den Film nicht. Er hieß The Little Princess. Das Plakat war dereinzige Schmuck, den es im Zimmer gab.
"Werist denn das?", fragte Sigurður Óli, der an der Tür stand und das Plakat betrachtete.
"Dassteht doch da", sagte Erlendur. "Shirley Temple."
"Werwar das noch? Lebt sie noch?"
"Werwar Shirley Temple?", wiederholte Elínborg. "Weißt du wirklich nicht, wer sie war? Duhast doch angeblich in Amerika studiert."
"Warsie ein Hollywoodstar?", fragte Sigurður Óli und schaute immer noch auf das Plakat.
"Siewar ein Kinderstar", sagte Erlendur mürrisch."So gesehen ist sie also schon lange tot, ob sie nun noch am Leben istoder nicht."
"Aha",gab Sigurður Óli von sich,der mit dem Gesagten rein gar nichts anzufangen wusste.
"EinKinderstar", sagte Elínborg. "Wenn ich michnicht täusche, lebt sie noch. Ich erinnere mich nicht so genau. Ich glaube, siearbeitet im Auftrag der Vereinten Nationen."
Erlendur fiel auf, dass es keine weiteren persönlichen Gegenstände in dem Zimmergab. Er sah sich um, nirgends ein Buchregal oder Cds,kein Computer, kein Radio und kein Fernseher. Nur ein Schreibtisch, ein Stuhlneben dem Bett und eben das Bett mit einem zerwühlten Kopfkissen und einemschmutzigen Bettbezug. Der winzige Raum erinnerte ihn an eine Gefängniszelle.
Ertrat auf den Gang hinaus und spähte in die Dunkelheit. Er glaubte, einenschwachen Rauchgeruch wahrzunehmen, so als hätte jemand mit Streichhölzernherumhantiert, um sich Licht zu verschaffen.
"Wasgibt es da hinten sonst noch?", wandte er sich an den Hotelmanager.
"Nichts",erwiderte der und schaute zur Decke. "Nur das Ende des Gangs. Da fehlenein paar Birnen, ich lass das in Ordnung bringen."
"Wielange hat der Mann hier gelebt?", fragte Erlendurund ging in das Zimmer zurück.
"Ichweiß es nicht, das war vor meiner Zeit."
"Warer schon hier, als du Hotelmanager wurdest?"
"Ja."
"Willstdu mir damit sagen, dass er in diesem Kabuff mehr als zwanzig Jahre gelebthat?"
"Ja."
Elínborg betrachtete das Kondom.
"Aufjeden Fall hat er sich an Safersex gehalten", erklärte sie.
"Nichtsafe genug", meinte SigurðurÓli.
Indiesem Augenblick erschien der Amtsarzt im Gefolge eines Hotelangestellten, dersofort wieder Richtung Treppe verschwand. Der Arzt war ziemlich korpulent,konnte es aber keinesfalls mit dem Hotelmanager aufnehmen. Als er sich in dasZimmer zwängte, wurde es Elínborg zu eng und sieschlüpfte rasch hinaus.
"HalloErlendur", sagte der Amtsarzt.
"Na,was meinst du dazu?", fragte Erlendur.
"Herzstillstand?Aber ich muss mir das noch näher anschauen", erklärte der Amtsarzt, der fürseinen merkwürdigen Humor bekannt war.
Erlendur schaute Elínborg und SigurðurÓli an, die breit grinsten.
"Hastdu eine Ahnung, wann das passiert sein könnte?", fragte Erlendur.
"Langekann es nicht her sein. Irgendwann in den letzten zwei Stunden. Er ist nochwarm. Was ist mit den Rentieren, habt ihr die auch gefunden?"
Erlendur stöhnte.
DerAmtsarzt nahm die eine Hand von der Leiche.
"Ichstelle euch den Wisch aus", sagte der Arzt. "Ihr schickt ihn dann insLeichenschauhaus, und die öffnen ihn da. Ich habe gehört, dass ein OrgasmusÄhnlichkeit mit dem Sterben haben soll", fügte er hinzu und schaute aufdie Leiche herunter. "Er hats also doppelt bekommen."
"Doppeltbekommen?" Erlendur begriff ihn nicht.
"Einendoppelten Orgasmus", sagte der Arzt. "Ihr fotografiert das alles,nicht wahr?"
"Natürlich",sagte Erlendur.
"DieFotos werden sich prima in seinem Familienalbum machen."
"Ichhabe nicht den Eindruck, dass er Familie hat", entgegnete Erlendur und blickte sich um. "Bist du danneinstweilen fertig?", fragte er, langsam hatte er genug von dieser Art vonHumor.
DerAmtsarzt nickte, zwängte sich wieder auf den Gang und verschwand.
"Müssenwir nicht das Hotel schließen?", fragte Elínborgund sah, wie der Hotelmanager nach Luft schnappte. "Damit hier niemandraus- oder reinkommen kann. Alle Gäste verhören und alle Angestellten? DenFlugplatz dichtmachen. Den internationalen Schiffsverkehr "
"UmHimmels willen", stöhnte der Hotelmanager, knüllte sein Taschentuchzusammen und schaute beschwörend auf Erlendur. "Dasist doch bloß ein Portier!"
Mariaund Josef hätten hier nie eine Herberge bekommen, dachte Erlendur.
"Diese diese ekelhafte Angelegenheit hat nichts mit meinen Gästen zu tun", riefder Hotelmanager und bekam vor Empörung kaum Luft. "Das sind zum größtenTeil ausländische Touristen oder Isländer aus anderen Landesteilen, vermögendeLeute, die Reedereien und dergleichen besitzen. Keiner von denen hat irgendwasmit diesem Portier zu tun. Keiner! Dies ist das zweitgrößte Hotel in Reykjavík, und über die Feiertage ist es voll bis untersDach. Ihr könnt mir hier nicht dichtmachen! Das könnt ihr einfach nichtmachen!"
"Wirkönnten schon, aber wir werden es nicht tun", sagte Erlendurbeschwichtigend. "Wir müssen vielleicht den einen oder anderen Hotelgastvernehmen, und den größten Teil des Personals, denke ich."
"Gottsei Dank", stöhnte der Hotelmanager und schien sich wieder zu beruhigen.
"Wiehieß der Mann?"
"Guðlaugur", sagte der Hotelmanager. "Ich glaube,er ist so um die fünfzig. Und du hast wohl Recht, was seine Familie angeht. Ichglaube, er hat keine."
"Werhat ihn hier besucht?"
"Ichhabe keine Ahnung", schnaufte der Hotelmanager.
"Isthier im Hotel vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen, was mit diesemMann in Verbindung stand?"
"Nein."
"Diebstahl?"
"Nein,hier ist gar nichts vorgefallen."
"Beschwerden?"
"Nein."
"Erwar nicht in irgendwas verwickelt, was das hier erklären könnte?"
"Nicht,dass ich wüsste."
"Gibtes jemanden im Hotel, mit dem er nicht gut auskam?"
"Mirist nichts dergleichen bekannt."
"Vielleichtaußerhalb des Hotels?"
"Ichweiß von nichts, aber ich kenne ihn auch nicht besonders gut. Kannte ",korrigierte sich der Hotelmanager.
"Nichteinmal nach zwanzig Jahren?"
"Nein,eigentlich nicht. Er hatte nicht viel für andere Menschen übrig, glaube ich. Erlebte ziemlich für sich."
"Glaubstdu, dass ein Hotel der richtige Ort für solche Menschen ist?"
"Ich?Ich weiß ni Er war immer äußerst höflich, und es hatsich nie jemand über ihn beschwert. So gesehen."
"Sogesehen?"
"Nein,es hat sich nie jemand über ihn beschwert. Er war im Grunde genommen ganz gutin seinem Job."
"Woist die Kantine, von der du gesprochen hast?", fragte Erlendur.
"Ichbringe dich hin." Der Hotelmanager wischte sich den Schweiß von der Stirnund war offensichtlich erleichtert, dass sie das Hotel nicht schließen wollten.
"Hater häufig Besuch gehabt?"
"Was?",sagte der Hotelmanager.
"Besuch",wiederholte Erlendur. "Hier muss doch jemand beiihm gewesen sein, den er gekannt hat. Hast du nicht den Eindruck?"
DerHotelmanager schaute auf die Leiche, und sein Blick blieb an dem Kondom hängen.
"Ichhabe keine Ahnung, was er für Freundinnen hatte."
"Duweißt nicht gerade viel über diesen Mann", sagte Erlendur.
"Erist Portier hier", sagte der Hotelmanager. Er war offensichtlich derMeinung, dass Erlendur sich mit dieser Erklärungzufrieden geben könnte.
Sieverließen den Raum. Die Leute von der Spurensicherung rückten mit ihren Gerätenund Apparaten an, und ihnen folgten weitere Polizisten. Es war nicht ganzeinfach, sich an dem Hotelmanager vorbeizuzwängen. Erlendurtrug ihnen auf, auch den Gang und die dunkle Ecke hinter dem Zimmer genau zuuntersuchen. Sigurður Óliund Elínborg blieben noch kurz in dem Raum stehen undbetrachteten die Leiche.
"Alsoich möchte nicht so gefunden werden", sagte SigurðurÓli.
"Ihnjuckt das doch nicht mehr", erwiderte Elínborg.
"Nee,wahrscheinlich nicht", sagte Sigurður Óli.
"Istda was drin?", fragte Elínborg und zog einekleine Tüte mit Erdnüssen hervor. Sie hatte immer etwas zu knabbern in derTasche. Sigurður Óli hieltdas für ein Zeichen von Nervosität.
"Wasdrin?", fragte er.
Sienickte in Richtung der Leiche. Sigurður Óli schaute sie einen Augenblick an und begriff dann,worauf sie hinauswollte. Er zögerte etwas, kniete sich dann aber hin undbeäugte das Kondom.
"Nein",sagte er. "Nichts. Das Ding ist leer."
"Diehat ihn dann umgebracht, bevor er seinen Orgasmus hatte", sagte Elínborg. "Der Arzt glaubte "
"Die?",echote Sigurður Óli.
"Ja,liegt das nicht auf der Hand?", sagte Elínborgund stopfte sich eine Hand voll Erdnüsse in den Mund. Sie hielt Sigurður Óli die Tüte hin, deraber dankend ablehnte. "Kommt dir das Ganze nicht irgendwie nuttig vor? Er ist hier mit einer Frau zusammengewesen", erklärte sie. "Oder?"
"Dasist die nahe liegendste Erklärung", sagte Sigurður Óli und erhob sich.
"Duglaubst aber nicht daran?", fragte Elínborg.
"Ichweiß es nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer.
© Verlagsgruppe Lübbe
Übersetzung:Coletta Bürling
Interview mit Arnaldur Indridason
Erlendur, der ermittelnde Kommissar in "Todeshauch" und "Nordermoor", ist ein sympathischer Melancholiker umdie 50. Wie haben Sie Erlendur gefunden? Hatten SieVorbilder literarischer Art, etwa den schwedischen Kommissar Wallander, oder solche aus dem wirklichen Leben?
Ich habe nie ein Buch von Mankellgelesen. Es überrascht mich daher sehr, wenn Wallanderund Erlendur in einem Atemzug genannt werden. Als ichjünger war, habe ich die Bücher mit Kommissar Martin Beck von Sjöwall und Wahlöö gelesen. Ich mag auch Ed McBain und Fernsehserienwie Morse" und Taggart". Gelegentlich schaue ichsogar Derrick"; die Folgen liefen hier in Island jahrelang im Fernsehen. Ichlasse mich also von Europa und Amerika, aber natürlich auch von Islandbeeinflussen. Ich habe versucht, Erlendur als einenmürrischen, altmodischen Isländer darzustellen, der sich um die isländischeSprache Gedanken macht, viel über die Vergangenheit liest und auch irgendwie inder Vergangenheit lebt. Er konnte sich nie von den tragischen Ereignissen inseiner Jugend erholen und ist besessen davon, Geheimnissen auf die Spur zukommen - vor allem dann, wenn es um vermisste Personen geht.
Oftmals verknüpfen Sie in IhrenKriminalromanen mehrere Zeitebenen miteinander. So liegt auch das eigentlicheVerbrechen von "Todeshauch" 60 Jahre zurück. Gibt es etwas, das Siean solchen Zeitsprüngen besonders fasziniert? Was bedeutet Zeit für Sie?
In allmeinen Büchern spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Zeit fasziniertmich als eine Kraft, die verändert und zerstört, aber gleichzeitig auch Wundenheilt und Trost spendet. Das steht in engem Zusammenhang mit Erinnerungen - mitguten und mit schlechten. Es ist sehr interessant, welche Auswirkungen Zeit aufbestimmte Personen hat. Das kann man beispielsweise beobachten, wenn eine Figurin unterschiedlichen Lebensphasen vorgestellt wird. Es ist ein äußerstkompliziertes Thema, und ich habe selbst noch nicht alle Antworten daraufgefunden, wie der Aspekt Zeit meine Werke beeinflusst. Ich bin mir jedochsicher, dass er zu einem großen Teil meinen Stil und den Charakter meinerGeschichten bestimmt.
Sie leben mit Ihrer Frau und IhrenKindern in der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Wie sieht Ihr Leben dort aus?Schreiben Sie jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Stunden? Oder entstehen IhreBücher in einem "Schreibrausch"?
Ich arbeitezuhause. Meine Frau ist Lehrerin, und unsere Kinder gehen in die Schule. Dasheißt also, das ich in den Morgenstunden und am frühen Nachmittag ungestörtbin. Ich versuche, diese Zeit optimal zu nutzen. Ich setze mich morgens anmeinen Computer und arbeite, bis alle nach Hause kommen. Im Sommer oder wennich gerade ein Buch veröffentlicht habe, existiert dieser Tagesablauf natürlichnur in der Theorie. Aber ein Schriftsteller hört nie wirklich auf zu arbeiten -Tag und Nacht gehen einem Ideen im Kopf herum. Es ist ein nahezu aussichtslosesUnterfangen, Urlaub machen zu wollen - aber wir bemühen uns natürlich. Wenn ichschreibe, habe ich einige grundlegende Vorstellungen, was in dem Buch passierenwird. Bei Todeshauch" war mir von Anfang an klar, dass es darin um häuslicheGewalt gehen soll, und dass sich die Geschichte in zwei verschiedenen Zeitenabspielen wird. Aber bevor ich mit dem Schreiben beginne, muss ich nichtwissen, wie das Buch endet. Alle kleinen Details und Personen, die darinvorkommen, entstehen wirklich in einer Art Schreibrausch.
Island gilt als vergleichsweisefriedlicher Ort. Wie kamen Sie auf die Idee, Kriminalromane zu schreiben?
Bei meinemersten Buch hatte ich eine Idee und wollte einfach wissen, ob ich dazu in derLage bin, sie auch zu Papier zu bringen. Es ging dabei um illegaleMedikamententests in einer Grundschule. Ich habe diese Geschichte schließlichaufgeschrieben, und sie entwickelte sich zu einem Krimi. Bis zu dieser Zeit warin Island so gut wie kein einziger Kriminalroman veröffentlicht worden. MeinBuch wurde weder sonderlich gut besprochen, noch verkaufte es sich gut. Das hatmich jedoch nicht davon abgehalten, die Reihe um Erlendurzu entwickeln, die letztendlich sehr beliebt wurde. Ich weiß nicht, ob Islandals ein friedlicher Ort bezeichnet werden kann. Manchmal ist es das, manchmalaber auch nicht. Auf jeden Fall ist es ein faszinierendes Land für einenKrimiautor. Aber ich finde es auch nicht so entscheidend, wo die Geschichtespielt. Es kommt darauf an, dass sie gut ist. Ich glaube, die Tatsache, dassmeine Krimis in Island, bzw. in Reykjavik spielen, gibt meinen Büchern einezusätzliche Note. Ich versuche, diese Besonderheit als ein entscheidendesElement herauszuarbeiten. Ich bin eben Isländer, und die erste Regel, die einSchriftsteller befolgen sollte, ist, über das zu schreiben, was er kennt.
In Ihrer Heimat Island haben Siegroßen Erfolg, mehrere Ihrer Bücher finden sich in den Bestsellerlisten. Wieist es, auf einer Insel mit knapp 290.000 Einwohnern ein bekannterSchriftsteller zu sein? Sind Sie eine Art Nationalheld?
Ich habe wirklich keine Ahnung. Für einen Schriftsteller istes natürlich sehr schön, wenn seine Bücher gelesen und geschätzt werden. Ichbin sehr dankbar für das große Interesse der Isländer an meiner Arbeit. Es gibtmir das Gefühl, dass ich das Richtige tue.
Die Fragen stellteUlrike Künnecke, literaturtest.de.
- Autor: Arnaldur Indridason
- 2004, 379 Seiten, Maße: 12,7 x 20,6 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Bürling, Coletta
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 378571551X
- ISBN-13: 9783785715512
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