Esterházy, P: Produktionsroman (Zwei Produktionsromane)
Roman
Der erste Roman Péter Esterházys, neben Harmonia Cælestis und Einführung in die schöne Literatur einer der drei Grundpfeiler seines Werks. Als er 1979 in Ungarn erschien, schlug er wie eine Bombe ein und erlangte Kultstatus".
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Produktinformationen zu „Esterházy, P: Produktionsroman (Zwei Produktionsromane) “
Der erste Roman Péter Esterházys, neben Harmonia Cælestis und Einführung in die schöne Literatur einer der drei Grundpfeiler seines Werks. Als er 1979 in Ungarn erschien, schlug er wie eine Bombe ein und erlangte Kultstatus".
Klappentext zu „Esterházy, P: Produktionsroman (Zwei Produktionsromane) “
Ein Roman aus zwei Teilen. Teil I ist die grandiose Parodie eines Produktionsromans", jener Gattung, in der die Autoren der kommunistischen Hemisphäre gemäß der Doktrin des sozialistischen Realismus das Leben der Arbeiterklasse optimistisch widerzuspiegeln" hatten. Esterházy zeigt den Tagesablauf in einem mathematischen Institut, die Irrungen und Wirrungen des Rechentechnikers Imre und seines Genossen Generaldirektor Gregory Peck, beide hin(und her-)gerissen von der blonden Sekretärin Marilyn Monroe. Aber jede Produktion, die der Titel verspricht, wird von der Papierflut überschwemmt, die die groteske Slapstick-Suche nach einer verloren gegangenen Studie auslöst.Teil II heißt E.s Aufzeichnungen". Der Chronist Peter Eckermann (oder Péter Esterházy?) berichtet in Anmerkungen voller Verehrung und Respekt, aber hochvergnüglich über die Umstände, unter denen Teil I vom Meister" (Goethe?, Péter Esterházy?) geschrieben wurde, über dessen Privatleben - in Szenen von gnadenloser Alltäglichkeit, immer wieder unterbrochen von den Kommentaren des Meisters", seinen Reflexionen über den Roman. Nur scheinbar ein Anmerkungsteil, ist es in Wahrheit ein Produktionsroman" im Esterházy'schen Sinne, ein Roman über die Produktion eines Romans, die Keimzelle seiner späteren Themen und Schreibweisen und, zusammen mit den typo - graphischen Frechheiten und dem bischofsvioletten Umschlag (eine Reminiszenz an eine Jugend als Messdiener), ein Affront zu Zeiten der herrschenden Widerspiegelungstheorie", der Einbruch der Moderne in die ungarische Literatur.
Nach dem Erscheinen des Produktionsromans" 1979 gab es dort nur noch ein Davor" und Danach", und in der Weltliteratur hatte er nur einen Vorläufer: Nabokovs Fahles Feuer.
Lese-Probe zu „Esterházy, P: Produktionsroman (Zwei Produktionsromane) “
Ein Produktionsroman ( Zwei Produktionsromane ) von Péter EsterházyI. (oder Kurze s) Kapitel,
in welchem der Genosse Generaldirektor die Szene betritt, derweil sich seine Persönlichkeit gerade spaltet, wofür sich ein weites Feld auftut, eingedenk, dass er Drillinge ist, welche Tatsache nur auf den ersten, oberflächlichen Blick amüsant ist, doch die Zahl der unausweichlichen Hemden, Krawatten, Krawattennadeln, Pantalons, Siegelringe und der Erzählweisen deuten schon jene kompakte Traurigkeit an, welche hier dem Leser zukommt
Wir finden keine Worte. Wie versteinert sind wir. Erschrocken blinzeln wir: Sollten wir dermaßen unserer Lust-und-Laune ausgeliefert sein? Wir kriegen zu wenig Luft, dabei ist genug da. Uns zittert der Magen vor Erregung; dadurch entsteht der Eindruck: als ob uns die Hose zu weit wäre. Fast hätten wir zum Gürtel (Riemen) gegriffen. Wir heben den Rand des Sakkos an, versenken die Hände in den Hosentaschen, kramen. Wir stellen uns auf die Zehenspitzen, alsdann lassen wir uns auf die Fersen zurückfallen. Unser Kopf erbebt; das Kramen übernimmt jeden auffindbaren Rhythmus: den unseres Schaukelns, des Kopfes, des Herzens.2 Heißt das, wir können ab jetzt alles denken? Sollten wir unseren Verhältnissen dermaßen ausgeliefert sein? Gerne würden wir die Richtung verfolgen, die wir eingeschlagen haben, und gerne würden wir zurückweichen. Zwischen Zweifel und Hoffnung sind wir hin und her geworfen. Sollen wir zu brüllen anfangen, ruhig, verantwortungsbewusst? Aber sind wir denn ein verknöcherter Vertreter der buchhalterischen Denkungsart? ... Zu lange schon sehen wir die verschiedenfarbigen Telefone, die Mappen und den Ficus in der hinteren Ecke, um wegen so etwas beruhigt zu sein. Wir beruhigen uns auch nicht. Während wir zum Fenster hinausschauen, haben wir die Hände in den Taschen und wir
... mehr
schaukeln; das ist so »jugendlich«. Wir sind jugendlich. Die Krähenfüße um unsere Augen sind jetzt nicht mehr nur dann zu sehen, wenn wir lachen. Die Menschen auf dem Hof erscheinen einigermaßen verkleinert.3 Sie bewegen sich; das ist gut. Wir denken an zu vieles. Langsam wissen wir nicht mehr, wie was wo. Lasst uns partikulär denken. Ein paar Perspektiven verlieren. Wir sind nicht die Firma, wir sind eine lebendige Person, und die Firma ist es nicht. Wir sind Mitteleuropäer: unser Nervenkostüm ist verschlissen, unser Klopapier hart. Wir zittern nicht wie Espenlaub; wir hängen ab. Wir mögen uns nicht. So was gibt's. Ein Jemand erblickt einen anderen Jemand, der hat ein Haar im Ohr, und schon ist's vorbei! Dabei wäre man - der Jemand - unter Umständen sogar bereit, sich positiv über das Haar zu äußern! In unserem Ohr gibt es nicht ein einziges Haar: die menschliche Seele ist reich. Wie das Große so ist auch die Seele einfach: wir machen uns im Ministerium madig. Wenn wir darauf bestehen, können wir es ruhig wissen: wir sind der Mann des Ministeriums. Wir sind es eher des Planungsamts. Die Aktionen, die wir uns gegenüber anstrengen, taugten höchstens dazu, unsere Kraft zu demonstrieren, aber dafür taugen sie nicht. Kühl legen wir die Zeitung beiseite: es gibt immer einen Jugendfreund, der beweisen kann - der sich gerne daran erinnert -, dass wir die Beine der Spinne geschient oder - autsch! - einzeln ausgerissen haben. Wir wenden uns bedächtig vom Fenster ab: human sind wir, klassenkämpferisch sind wir, selbstbewusst sind wir, jede Minute des Tages denken wir an die Bedürfnisse des Verbrauchers, an die Bedürfnisse der Volkswirtschaft, an die Devisenbilanz und an den RGW, an die Probleme und Ergebnisse des internationalen Sozialismus, an die Effektivität steigernden Bemühungen und an die dem gleichsam gegenüberstehenden Bedürfnisse der Arbeiter, und an »die Bedürfnisse der Arbeiter« müssen wir extra denken, wir denken an die Gewinne des Betriebs und sind nicht gewinnzentrisch, wir denken an unser Prestige, an unsere Eitelkeit, unsere Selbstverwirklichungsbestrebungen, an die Rolle, die wir spielen4, welche wir uns wählen und welche sich uns wählt, oh, und wir denken an die Kreisparteileitung, an diese denken wir auf jeden Fall, und wir denken an die Wirkung all jener gesellschaftlichen Schichten, Gruppen, Organisationen, von denen wir abstammen, deren Mitglied wir sind, in die wir aufgenommen werden möchten oder bei denen es sich empfiehlt, ihre Meinung für wichtig zu halten, und last but not least denken wir auch daran, dass bei der Kettenscheibenmontage die gleichen Produkte auf die gleiche Maschine kommen, wodurch - hier werfen wir einen Blick auf die eintretende,erschrocken dreinblickende Sekretärin - die Einfädelzeit, die man für die Führung der Kettenfäden durch den Schaft und die Lamellen benötigt,
reduziert wird. Die Sekretärin verstößt gegen die Gepflogenheiten, also schicken wir sie wieder hinaus. Launig blicken wir ihr hinterher: da ist einfach diese schwer zu beschreibende Neigung der Schenkel, der gegenüber wir machtlos sind, und eine gewisse Anzahl von Schenkeln (zwei), die
uns gefangen nimmt. Die »Zulässigkeit« betrachten wir - wegen der Rundungsfehler - mit einer gewissen Toleranz (z. B.: 10-6), wir klingeln. Mit dem halben Hintern setzen wir uns auf den Schreibtisch, welcher von der Delegation bis auf die Knochen abgeweidet.5 Zerstreut blättern wir in einer Studie: abber, abber nach dem Semikolon - es sei denn ein Lajos folgt darauf - geht's klein weiter. Was ist das, fragen wir tadelnd die erneut eintretende Sekretärin. Die Züge des kleinen Fräuleins sind nun geordnet, auf den Lippen Lippenstift, die Hüften gewiegt, der Blick hart: es herrscht Demokratie. Na, wo drückt uns der Schuh, Genosse Generaldirektor? Trotzig wirft sie den Kopf zurück, auf ungarische Art, in ihrem Blute lodern uralte Hirtenfeuer, sie beginnt sich zu drehen, immer schneller, sie streckt ihr Kreuz, ihr Haar lodert in der Zugluft, sie stampft auf. Sie ist schön. Wir sprechen leise, damit sie zuhört.
Wir sind unzufrieden, da wir lesen müssen, dass wir - und ausgerechnet wir - denjenigen auszeichnen, der von 100 Mutterschafen 136 Lämmer hat. Dabei könnte man auch zweimal ablammen lassen; bei unseren Verhältnissen. Dasselbe gilt für das zweifache Brunften der Säue, und für die Zusatzbrunft. Wir sinnen nach. Unser ehrliches Empfinden ist: Wehe dem Lamm, das der Wolf erblickt, die elende Bestie. Je schöner das Lamm, umso. Der Wolf, wie wir sehr wohl wissen, lässt nur ein einziges Argument wirklich gelten: den Knüttel, der in der muskulösen Hand des vierschrötigen Hirten schwingt. Und der Wolf da heißt: Angst vor dem Neuen, Rückständigkeit, Unorganisiertheit, Faulheit, Indolenz. Und der Hirte da heißt: Disziplin (sozialistische). Und der Knüttel da heißt: kontinuierliche Materialversorgung, Reduktion der Stehzeiten, positive Ausnutzung der Arbeitszeit, integrierte Produktionsleitung, Verfahrensregelung mit Prozessorgraphen. Und das Lamm da heißt: Volkswirtschaft, sich entwickelndes, wachsendes, gedeihendes, unserem Herzen teures sozialistisches Vaterland. Die Sekretärin beendet plötzlich ihren Tanz, wendet sich uns zu, ihre Pupillen weiten sich. Wir untersuchen die Büschel in ihren Achselhöhlen. Wunsch ist der Vater des (kapitalistischen) Gedankens: wir wachen. Wir schälen die Sekretärin von uns herunter: wir haben kein Angebot gemacht. Noch und nicht: jetzt. Unsere Hände haben an so manchen Frauensteiß gegriffen, aber Blut klebt nicht an ihnen. Erwartungen gibt es wie Sand am Meer. Wir haben eine Strategie, aber wir haben keine beste Strategie, wir haben hervorragende Kompromisse, darunter gibt es einen besten, den nennen wir die beste Strategie, welche - so! - geworden ist! Von den Himmlischen rufen wir Engels zu Hülfe: was jeder einzelne wollte, hat jeder andere verhindert, was geworden ist, wollte keiner. Trotz des Lippenstifts: die Sekretärin fängt schon wieder an, erschrocken zu werden. Und könnten wohl die verschiedenen offiziellen und halboffiziellen Materialien, Berichte, Protokolle, Rechenschaftsberichte als grundlegende Quelle unserer Orientierung dienen, obwohl wir selbst sie herstellen? In diesen nicht sehr viele Daten, welche, und viele, die nicht. Wir tragen auf. Tja, also: nein. Genosse Generaldirektor, lieber Genosse Generaldirektor, das Übel ist so arg, wir bitten um deine Hilfe. Wir beleben uns. Das sind doch nicht etwa die Genossen um den Genossen Tomcsányi? Die Sekretärin nickt stumm. Wir werden uns die Zeit nehmen, wir werden uns kümmern, hinwirken, handeln werden wir, das Blaue vom Himmel versprechen werden wir, unser Interesse auf Einzelpersonen aufschlüsseln werden wir, in der Feldflasche wird es frisches Wasser geben und trockenes Schießpulver im Pulverhorn und alles wird erleuchtet sein. Wir werfen uns hinter unseren Schreibtisch, wir schnaufen. Wir verlangen nach einem Rechenschieber und nach P. J. Probys Bergbaukunde. Werden sie gerettet werden, lieber guter Genosse Generaldirektor? Sie werden. Damit wir ihn im zu erwartenden Chaos wiedererkennen, zerbrechen wir unseren Stift. Unsere Uhr, welche immer genauer, zeigt an.
II . Kapitel
in welchem der Helt*6 auftritt, Imre Tomcsányi, sowie der Wahrheit zum Siege verholfen wird; was auch in den anderen Kapiteln der Fall sein wird, aber hier ganz besonders
Tomcsányi läuft aufgeregt auf dem Flur des Instituts auf und ab, wo sich erst vor kurzem der Nebel und der Kaffeegeruch verzogen haben. Am Ende des Korridors ein leises Geräusch. Was ist das? Er geht näher heran. Die Töne kommen aus einer offenen Tür. Imre bleibt stehen. Sapperlot. Er steckt den Kopf durch die Tür: da kämpft jemand mit seinem Pullover: versucht gerade, sich ihn über den Kopf zu ziehen. Anhand der vielen verräterischen Utensilien erkennt Imre: die Putzfrau. Küssdiehand, grüßt er sie respektvoll. Vor Schreck entledigt sie sich des Pullovers mit einem Ruck. Das ist es, was sie gewollt hat. Ach, Sie sind es, Imrulein. Sie sind vielleicht leise unterwegs, irgendwas nicht in Ordnung? Iwo, verneint der junge Rechentechnikspezialist.
Die Frau fragt nicht weiter nach. Drehen Sie sich weg, sagt sie und greift nach dem blauen Kittel. Der junge Mann dreht sich weg. Die Frau lacht heiser auf. Ich sag das zu Ihnen, als wäre ich eine Frau. Dabei bin ich eine Greisin. Imre weiß nichts zu antworten, aber da er mit dem Rücken zu ihr steht, denkt er, braucht er das auch nicht. Stellen ie sich vor, Imrulein, dieser besoffene Friedhofswärter ist gestern Nacht bis zum Brunnenring hereingeflogen. Das Gartentor hat ihn hineingewirbelt. Sie knöpft den Kittel zu. Na, jetzt können Sie sich wieder umdrehen. Das fette Vieh, wie gerne das bellt, aber diesmal kein Mucks. Ich erwache und sehe, da steht dieser Mensch am Fußende meines Betts. Hätten Sie das gedacht? Ich sag das wegen der Greisin. Und? Undund. Die Putzfrau winkt ab. Er sang furchtbar falsch etwas aus der Tschardaschfürstin. Das Eintrittslied des Miska. Dann hörte er auf zu singen und verputzte mein ganzes Brot. Sie können es sich vorstellen. Die Frau setzt sich auf einen Hocker. Ihre Beine ein wenig auseinander, wie bei den Männern. Gehen Sie dahin? Sie deutet mit dem Kopf Richtung Konferenzraum. Na, seien Sie bloß vorsichtig ... Dem Miki Horváth können Sie vertrauen. Wir haben zusammen Flugblätter verteilt beim Herrn Weiss. Da war er noch ein kleiner Popel und ungeheuer draufgängerisch. Der ist sein Geld wert. Sie lacht, schüttelt den Kopf. Dieser Friedhofswärter hat kein Glück mit mir. Ich erinnere mich, als ob's gestern gewesen wär'. Kommt so eine Armeepostkarte, da steht drauf: Die Sári Kovács soll endlich dem Berti schreiben, der geht schon ganz zugrund vor Verdummung. Wer ist der Berti? Na, der Friedhofswärter. Um's kurz zu machen, er kam nach Hause. Wir verabredeten das Rendezvous, das erste Rendezvous meines Lebens. In einer Kleinstadt. Sie können sich's vorstellen, Imrulein. Ach was, können Sie nicht. Aber ich stand dazu. Irgendwie hatt' ich mich darin verliebt, dass er ganz verdummt. Na, und dann verdummte er auch, aber so richtig. Wir saßen im Café, zwei Eis, zwei Cognac. Ich erinnere mich gut an die klebrigen Kreise, die die Gläser auf der glänzenden Tischplatte hinterlassen haben. Na und dann landeten auf einmal zwei Fliegen dort, Sie wissen schon wie ... und aus, auf einmal war's vorbei. Kann sein, ich war noch ein Kind, aber mir kam so das Lachen an ... Vielleicht nur vor Verlegenheit. Aber dem Tölpel noch viel mehr. Doppeldecker-Fliege, sagte er, dass wir es als Witz nehmen sollten. Aber für mich war das Ganze schon so lächerlich geworden. Der arme Friedhofswärter. Und, als würde sie die Geschichte fortsetzen: Passen Sie bloß auf da drin. Sie sind noch jung, sehr verständnisvoll. Je älter ich werde, umso gehässiger werde ich, umso weniger bin ich nachsichtig. Besonders, wissen Sie, mein Junge, die Dummheit ... Ich muss gehen, Tante Sári.7 Die Frau greift im Sitzen hinunter in eine ADIDAS-Sporttasche. Der junge Mann schaut von der Tür des Konferenzraums zurück. Das ist alles, was er übrig gelassen hat, jetzt stellen Sie sich das mal vor, ruft ihm die Frau zu und hält einen ziemlichen Brotkanten hoch. Tomcsányi hört zu ihr hin und horcht gleichzeitig. Was geht im Konferenzraum vor sich? Ein Lied erklingt von dort.
In unsrer Heimat sind die Himmel blau,
Das Gras ist grün, die Wiesen satt,
Tausend Schätze von Fabrik und Feld
Allein den Arbeitern gehör'n,
Tausend Schätze von Fabrik und Feld
Allein den Arbeitern gehör'n.
Eine kräftige, ruhige Stimme ertönt mit dem Ende des Lieds. Na, na, Genosslein, die Stimme kämpft sich durch die gepolsterte Tür; Tomcsányi kann nicht feststellen, wem sie gehört. Horváth? Oder Péter Baittrok? Na, na, Genosslein! Ihr seht die Welt zu rosarot. Dabei ist das gar nicht unsere Farbe: nicht das Rosa. Das ist eine verdünnte Version, nicht wahr? Imres Hand auf der Klinke. Tante Sári8 fragt noch mal. Soll ich Ihnen ein bisschen Saures mitbringen? Aber Imre ist schon drin.
So viel Sehenswertes, so viel interessante und hervorragende Menschen! Gleich hier haben wir zwei äußerst interessante Persönlichkeiten, Giacomo und Kamerad Beverly, die beiden Wirtschaftsberater des Genossen Peck, zwei Goldhamster. Man hält sie in einem Topf, den man mit einer Zeitung ausgelegt hat, meistens mit der Népszabadság, was so viel wie Volksfreiheit bedeutet9; die beiden kleinen Hamster haben's auch nicht so recht geschafft, da herauszuklettern. Jetzt nuffnuffen und murren sie, mucken auf, der dichte Rauch stört sie. Bei Sitzungen welchen Niveaus auch immer erschien Kamerad Beverlys zurückhaltende, wenngleich etwas eckige Klugheit verständlicherweise anziehend; Giacomo seinerseits konnte bezaubernd grinsen. Sofern die Genossen neben ihren mannigfaltigen Beschäftigungen die Zeit fanden, liebten sie sie.
Copyright © 2010 Berlin Verlag
ISBN-10: 3827004071
reduziert wird. Die Sekretärin verstößt gegen die Gepflogenheiten, also schicken wir sie wieder hinaus. Launig blicken wir ihr hinterher: da ist einfach diese schwer zu beschreibende Neigung der Schenkel, der gegenüber wir machtlos sind, und eine gewisse Anzahl von Schenkeln (zwei), die
uns gefangen nimmt. Die »Zulässigkeit« betrachten wir - wegen der Rundungsfehler - mit einer gewissen Toleranz (z. B.: 10-6), wir klingeln. Mit dem halben Hintern setzen wir uns auf den Schreibtisch, welcher von der Delegation bis auf die Knochen abgeweidet.5 Zerstreut blättern wir in einer Studie: abber, abber nach dem Semikolon - es sei denn ein Lajos folgt darauf - geht's klein weiter. Was ist das, fragen wir tadelnd die erneut eintretende Sekretärin. Die Züge des kleinen Fräuleins sind nun geordnet, auf den Lippen Lippenstift, die Hüften gewiegt, der Blick hart: es herrscht Demokratie. Na, wo drückt uns der Schuh, Genosse Generaldirektor? Trotzig wirft sie den Kopf zurück, auf ungarische Art, in ihrem Blute lodern uralte Hirtenfeuer, sie beginnt sich zu drehen, immer schneller, sie streckt ihr Kreuz, ihr Haar lodert in der Zugluft, sie stampft auf. Sie ist schön. Wir sprechen leise, damit sie zuhört.
Wir sind unzufrieden, da wir lesen müssen, dass wir - und ausgerechnet wir - denjenigen auszeichnen, der von 100 Mutterschafen 136 Lämmer hat. Dabei könnte man auch zweimal ablammen lassen; bei unseren Verhältnissen. Dasselbe gilt für das zweifache Brunften der Säue, und für die Zusatzbrunft. Wir sinnen nach. Unser ehrliches Empfinden ist: Wehe dem Lamm, das der Wolf erblickt, die elende Bestie. Je schöner das Lamm, umso. Der Wolf, wie wir sehr wohl wissen, lässt nur ein einziges Argument wirklich gelten: den Knüttel, der in der muskulösen Hand des vierschrötigen Hirten schwingt. Und der Wolf da heißt: Angst vor dem Neuen, Rückständigkeit, Unorganisiertheit, Faulheit, Indolenz. Und der Hirte da heißt: Disziplin (sozialistische). Und der Knüttel da heißt: kontinuierliche Materialversorgung, Reduktion der Stehzeiten, positive Ausnutzung der Arbeitszeit, integrierte Produktionsleitung, Verfahrensregelung mit Prozessorgraphen. Und das Lamm da heißt: Volkswirtschaft, sich entwickelndes, wachsendes, gedeihendes, unserem Herzen teures sozialistisches Vaterland. Die Sekretärin beendet plötzlich ihren Tanz, wendet sich uns zu, ihre Pupillen weiten sich. Wir untersuchen die Büschel in ihren Achselhöhlen. Wunsch ist der Vater des (kapitalistischen) Gedankens: wir wachen. Wir schälen die Sekretärin von uns herunter: wir haben kein Angebot gemacht. Noch und nicht: jetzt. Unsere Hände haben an so manchen Frauensteiß gegriffen, aber Blut klebt nicht an ihnen. Erwartungen gibt es wie Sand am Meer. Wir haben eine Strategie, aber wir haben keine beste Strategie, wir haben hervorragende Kompromisse, darunter gibt es einen besten, den nennen wir die beste Strategie, welche - so! - geworden ist! Von den Himmlischen rufen wir Engels zu Hülfe: was jeder einzelne wollte, hat jeder andere verhindert, was geworden ist, wollte keiner. Trotz des Lippenstifts: die Sekretärin fängt schon wieder an, erschrocken zu werden. Und könnten wohl die verschiedenen offiziellen und halboffiziellen Materialien, Berichte, Protokolle, Rechenschaftsberichte als grundlegende Quelle unserer Orientierung dienen, obwohl wir selbst sie herstellen? In diesen nicht sehr viele Daten, welche, und viele, die nicht. Wir tragen auf. Tja, also: nein. Genosse Generaldirektor, lieber Genosse Generaldirektor, das Übel ist so arg, wir bitten um deine Hilfe. Wir beleben uns. Das sind doch nicht etwa die Genossen um den Genossen Tomcsányi? Die Sekretärin nickt stumm. Wir werden uns die Zeit nehmen, wir werden uns kümmern, hinwirken, handeln werden wir, das Blaue vom Himmel versprechen werden wir, unser Interesse auf Einzelpersonen aufschlüsseln werden wir, in der Feldflasche wird es frisches Wasser geben und trockenes Schießpulver im Pulverhorn und alles wird erleuchtet sein. Wir werfen uns hinter unseren Schreibtisch, wir schnaufen. Wir verlangen nach einem Rechenschieber und nach P. J. Probys Bergbaukunde. Werden sie gerettet werden, lieber guter Genosse Generaldirektor? Sie werden. Damit wir ihn im zu erwartenden Chaos wiedererkennen, zerbrechen wir unseren Stift. Unsere Uhr, welche immer genauer, zeigt an.
II . Kapitel
in welchem der Helt*6 auftritt, Imre Tomcsányi, sowie der Wahrheit zum Siege verholfen wird; was auch in den anderen Kapiteln der Fall sein wird, aber hier ganz besonders
Tomcsányi läuft aufgeregt auf dem Flur des Instituts auf und ab, wo sich erst vor kurzem der Nebel und der Kaffeegeruch verzogen haben. Am Ende des Korridors ein leises Geräusch. Was ist das? Er geht näher heran. Die Töne kommen aus einer offenen Tür. Imre bleibt stehen. Sapperlot. Er steckt den Kopf durch die Tür: da kämpft jemand mit seinem Pullover: versucht gerade, sich ihn über den Kopf zu ziehen. Anhand der vielen verräterischen Utensilien erkennt Imre: die Putzfrau. Küssdiehand, grüßt er sie respektvoll. Vor Schreck entledigt sie sich des Pullovers mit einem Ruck. Das ist es, was sie gewollt hat. Ach, Sie sind es, Imrulein. Sie sind vielleicht leise unterwegs, irgendwas nicht in Ordnung? Iwo, verneint der junge Rechentechnikspezialist.
Die Frau fragt nicht weiter nach. Drehen Sie sich weg, sagt sie und greift nach dem blauen Kittel. Der junge Mann dreht sich weg. Die Frau lacht heiser auf. Ich sag das zu Ihnen, als wäre ich eine Frau. Dabei bin ich eine Greisin. Imre weiß nichts zu antworten, aber da er mit dem Rücken zu ihr steht, denkt er, braucht er das auch nicht. Stellen ie sich vor, Imrulein, dieser besoffene Friedhofswärter ist gestern Nacht bis zum Brunnenring hereingeflogen. Das Gartentor hat ihn hineingewirbelt. Sie knöpft den Kittel zu. Na, jetzt können Sie sich wieder umdrehen. Das fette Vieh, wie gerne das bellt, aber diesmal kein Mucks. Ich erwache und sehe, da steht dieser Mensch am Fußende meines Betts. Hätten Sie das gedacht? Ich sag das wegen der Greisin. Und? Undund. Die Putzfrau winkt ab. Er sang furchtbar falsch etwas aus der Tschardaschfürstin. Das Eintrittslied des Miska. Dann hörte er auf zu singen und verputzte mein ganzes Brot. Sie können es sich vorstellen. Die Frau setzt sich auf einen Hocker. Ihre Beine ein wenig auseinander, wie bei den Männern. Gehen Sie dahin? Sie deutet mit dem Kopf Richtung Konferenzraum. Na, seien Sie bloß vorsichtig ... Dem Miki Horváth können Sie vertrauen. Wir haben zusammen Flugblätter verteilt beim Herrn Weiss. Da war er noch ein kleiner Popel und ungeheuer draufgängerisch. Der ist sein Geld wert. Sie lacht, schüttelt den Kopf. Dieser Friedhofswärter hat kein Glück mit mir. Ich erinnere mich, als ob's gestern gewesen wär'. Kommt so eine Armeepostkarte, da steht drauf: Die Sári Kovács soll endlich dem Berti schreiben, der geht schon ganz zugrund vor Verdummung. Wer ist der Berti? Na, der Friedhofswärter. Um's kurz zu machen, er kam nach Hause. Wir verabredeten das Rendezvous, das erste Rendezvous meines Lebens. In einer Kleinstadt. Sie können sich's vorstellen, Imrulein. Ach was, können Sie nicht. Aber ich stand dazu. Irgendwie hatt' ich mich darin verliebt, dass er ganz verdummt. Na, und dann verdummte er auch, aber so richtig. Wir saßen im Café, zwei Eis, zwei Cognac. Ich erinnere mich gut an die klebrigen Kreise, die die Gläser auf der glänzenden Tischplatte hinterlassen haben. Na und dann landeten auf einmal zwei Fliegen dort, Sie wissen schon wie ... und aus, auf einmal war's vorbei. Kann sein, ich war noch ein Kind, aber mir kam so das Lachen an ... Vielleicht nur vor Verlegenheit. Aber dem Tölpel noch viel mehr. Doppeldecker-Fliege, sagte er, dass wir es als Witz nehmen sollten. Aber für mich war das Ganze schon so lächerlich geworden. Der arme Friedhofswärter. Und, als würde sie die Geschichte fortsetzen: Passen Sie bloß auf da drin. Sie sind noch jung, sehr verständnisvoll. Je älter ich werde, umso gehässiger werde ich, umso weniger bin ich nachsichtig. Besonders, wissen Sie, mein Junge, die Dummheit ... Ich muss gehen, Tante Sári.7 Die Frau greift im Sitzen hinunter in eine ADIDAS-Sporttasche. Der junge Mann schaut von der Tür des Konferenzraums zurück. Das ist alles, was er übrig gelassen hat, jetzt stellen Sie sich das mal vor, ruft ihm die Frau zu und hält einen ziemlichen Brotkanten hoch. Tomcsányi hört zu ihr hin und horcht gleichzeitig. Was geht im Konferenzraum vor sich? Ein Lied erklingt von dort.
In unsrer Heimat sind die Himmel blau,
Das Gras ist grün, die Wiesen satt,
Tausend Schätze von Fabrik und Feld
Allein den Arbeitern gehör'n,
Tausend Schätze von Fabrik und Feld
Allein den Arbeitern gehör'n.
Eine kräftige, ruhige Stimme ertönt mit dem Ende des Lieds. Na, na, Genosslein, die Stimme kämpft sich durch die gepolsterte Tür; Tomcsányi kann nicht feststellen, wem sie gehört. Horváth? Oder Péter Baittrok? Na, na, Genosslein! Ihr seht die Welt zu rosarot. Dabei ist das gar nicht unsere Farbe: nicht das Rosa. Das ist eine verdünnte Version, nicht wahr? Imres Hand auf der Klinke. Tante Sári8 fragt noch mal. Soll ich Ihnen ein bisschen Saures mitbringen? Aber Imre ist schon drin.
So viel Sehenswertes, so viel interessante und hervorragende Menschen! Gleich hier haben wir zwei äußerst interessante Persönlichkeiten, Giacomo und Kamerad Beverly, die beiden Wirtschaftsberater des Genossen Peck, zwei Goldhamster. Man hält sie in einem Topf, den man mit einer Zeitung ausgelegt hat, meistens mit der Népszabadság, was so viel wie Volksfreiheit bedeutet9; die beiden kleinen Hamster haben's auch nicht so recht geschafft, da herauszuklettern. Jetzt nuffnuffen und murren sie, mucken auf, der dichte Rauch stört sie. Bei Sitzungen welchen Niveaus auch immer erschien Kamerad Beverlys zurückhaltende, wenngleich etwas eckige Klugheit verständlicherweise anziehend; Giacomo seinerseits konnte bezaubernd grinsen. Sofern die Genossen neben ihren mannigfaltigen Beschäftigungen die Zeit fanden, liebten sie sie.
Copyright © 2010 Berlin Verlag
ISBN-10: 3827004071
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Autoren-Porträt von Péter Esterházy
Péter Esterházy wurde 1950 in Budapest geboren, wo er auch heute lebt, seit 1978 als freier Schriftsteller. Für seinen Roman Harmonia Cælestis (BV 2001; BvT 2003) erhielt er u. a. den Ungarischen Literaturpreis und den Grinzane-Cavour-Preis. 2004 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Zuletzt erschienen im Berlin Verlag: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n (zusammen mit Imre Kertész und Ingo Schulze) (2008), Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors (BvT 2009), Die Hilfsverben des Herzens (BvT 2009) und Keine Kunst (2009).Bibliographische Angaben
- Autor: Péter Esterházy
- 2010, 544 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,9 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Terézia Mora
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827004071
- ISBN-13: 9783827004079
- Erscheinungsdatum: 30.10.2010
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