Evernight Bd.1
Roman
Bianca hasst das Elite-Internat Evernight - bis sie Lukas trifft. Er ist ebenso ein Einzelgänger wie sie, und fest entschlossen, das auch zu bleiben. Bianca merkt schnell, dass es eine magische Verbindung zwischen ihr und Lucas gibt aber auch dunkle...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Evernight Bd.1 “
Bianca hasst das Elite-Internat Evernight - bis sie Lukas trifft. Er ist ebenso ein Einzelgänger wie sie, und fest entschlossen, das auch zu bleiben. Bianca merkt schnell, dass es eine magische Verbindung zwischen ihr und Lucas gibt aber auch dunkle Geheimnisse, die alles bisher Dagewesene in Frage stellen.
Klappentext zu „Evernight Bd.1 “
Eine Liebe auf Leben und TodFesselnd und atemlos romantisch - eine junge Vampirin und ein Jäger kämpfen für eine Liebe, die es nicht geben darf
An jedem Ort wäre Bianca lieber als an diesem: Das Evernight-Internat ist eine Eliteschule, und die anderen Schüler sind einfach zu perfekt - zu clever, zu schön, zu rücksichtslos. Bianca weiß, dass sie niemals dazugehören wird, und reißt aus. Doch sie soll nicht weit kommen. Noch auf dem Gelände der Schule läuft sie Lucas in die Arme. Der junge Mann ist ebenso ein Einzelgänger wie sie, und er ist anscheinend fest entschlossen, das auch zu bleiben. Bianca merkt sehr schnell, dass es eine besondere Verbindung zwischen ihr und Lucas gibt, eine Anziehungskraft, die jedes normale Maß übersteigt. Doch sie muss auch erkennen, dass Lucas von dunklen Geheimnissen umgeben ist. Von Geheimnissen, die alles in Frage stellen, woran Bianca jemals geglaubt hat
Lese-Probe zu „Evernight Bd.1 “
Evernight von Claudia GrayRoman
Deutsch von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Evernight« bei HarperTeen, New York.
Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100
Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier Munken Premium
liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.
rolog
Der brennende Pfeil bohrte sich in die Wand.
Feuer. Das alte, trockene Holz des Versammlungshauses entzündete sich augenblicklich. Dunkler, öliger
Rauch schwängerte die Luft, brannte in meiner Lunge und
brachte mich zum Husten. Meine neuen Freunde um mich
herum schrien entsetzt auf, ehe sie nach ihren Waffen griffen und sich bereit machten, um ihr Leben zu kämpfen.
All das geschah meinetwegen.
Pfeil um Pfeil schwirrte durch die Luft und gab den
Flammen weiter neue Nahrung. Durch den Aschenebel
suchte ich verzweifelt Lucas’ Blick. Ich wusste, er würde
mich beschützen, was auch immer geschehen mochte,
aber auch er war in Gefahr. Wenn Lucas etwas zustieße,
während er versuchte, mich zu retten, würde ich mir das
nie verzeihen.
In der rußerfüllten Luft rang ich nach Atem, packte
Lucas’ Hand und rannte mit ihm zur Tür. Aber sie warteten schon auf uns.
Sie waren nur Silhouetten vor den Flammen – eine
dunkle, bedrohliche Phalanx, die unmittelbar vor dem
Versammlungshaus stand. Keine der Gestalten schwang
eine Waffe, aber das brauchten sie auch nicht, um ihrer
Drohung Nachdruck zu verleihen. Sie waren meinetwegen gekommen. Sie waren gekommen, um Lucas dafür zu
bestrafen, dass er ihre Regeln missachtet hatte. Sie waren
gekommen, um zu töten.
Das alles geschieht meinetwegen. Wenn Lucas stirbt, wird
es meine Schuld sein.
Wir konnten nirgendwohin fliehen, uns nirgends verbergen. Aber hier konnten wir auch nicht bleiben, nicht,
während
... mehr
dieses Feuersturms um uns herum, der bereits
so heiß tobte, dass er meine Haut versengte. Nicht mehr
lange und die Decke würde einstürzen und uns alle unter
sich begraben.
Draußen warteten die Vampire.
Es war der erste Schultag, was bedeutete: meine letzte
Chance, noch davonzulaufen.
Ich hatte keinen Rucksack voller Dinge, die man für ein
Überleben in der Wildnis braucht, kein dickes Portemonnaie mit Bargeld, von dem ich mir ein Flugticket nach irgendwohin kaufen konnte, und auch keinen Freund, der
am Ende der Straße in einem Fluchtauto auf mich wartete.
Vor allem fehlte mir das, was jeder Mensch mit gesundem
Verstand einen »Plan« nennen würde.
Aber das spielte alles keine Rolle. Auf keinen Fall würde
ich in der Evernight-Akademie bleiben.
Kaum zeichnete sich das erste, gedämpfte Morgenlicht
am Himmel ab, schlüpfte ich in meine Jeans und griff
nach einem wärmenden, schwarzen Sweatshirt – so früh
am Morgen und so hoch in den Hügeln fühlte sich selbst
der September frisch an. Achtlos band ich meine langen,
roten Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen und
zog meine Wanderstiefel an. Ich glaubte, leise sein zu müssen, obwohl ich mir keine Sorgen zu machen brauchte,
dass meine Eltern aufwachen könnten. Es reicht zu sagen,
dass sie nicht gerade Morgenmenschen seien. Gewöhnlich
schlafen sie wie Tote, bis der Wecker sie aus dem Schlaf
reißt, und das würde erst in einigen Stunden geschehen.
Was mir einen ordentlichen Vorsprung verschaffte.
Vor meinem Schlafzimmerfenster starrte mich ein
stei nerner Wasserspeier an, riesige Reißzähne vervollständigten seinen zur Grimasse verzerrten Mund. Ich
packte meine Jeansjacke und streckte dem Ungeheuer
die Zunge heraus. »Vielleicht hast du ja Lust, in der Festung der Verdammten herumzuhängen«, murmelte ich.
»Nur zu.«
Bevor ich verschwand, machte ich mein Bett. Normalerweise kostete es meine Mutter ewige Nörgeleien, bis
sie mich dazu brachte, aber diesmal wollte ich es selber.
Mir war klar, dass meine Eltern heute auch so einen Anfall kriegen würden, und ich hatte das Gefühl, sie ein bisschen dafür zu entschädigen, wenn ich die Bettdecke glatt
strich. Sie würden es vermutlich anders sehen, aber das
hielt mich nicht davon ab. Als ich die Kissen aufschüttelte,
blitzte plötzlich eine merkwürdige Erinnerung an etwas in
mir auf, das ich in der Nacht zuvor geträumt hatte, und das
Bild vor meinem geistigen Auge war so lebendig und unmittelbar, als träumte ich noch immer:
Eine Blume in der Farbe von Blut.
Der Wind heulte in den Bäumen um mich herum und
peitschte die Äste in alle Richtungen. Am Himmel über
mir wirbelten schwere, dunkle Wolken. Ich strich mir das
sturmzerzauste Haar aus der Stirn. Ich wollte nichts anderes
als mir die Blume ansehen.
Jedes einzelne, regenbenetzte Blütenblatt war leuchtend
rot, schmal und wie eine Klinge geformt, so wie es manchmal bei tropischen Orchideen der Fall ist. Doch die Blüte
war auch üppig und gefüllt, und sie klammerte sich nahe an
den Stängel wie eine Rose. Die Blume war das Exotischste,
Bezauberndste, was ich je gesehen hatte. Ich musste sie unbedingt für mich haben.
Warum ließ mich diese Erinnerung schaudern? Es war
nur ein Traum. Ich holte tief Luft und versuchte, meine
Gedanken wieder zu sammeln. Es war Zeit zu gehen.
Meine Umhängetasche lag griffbereit, denn ich hatte
sie bereits am Abend zuvor gepackt. Nur ein paar Dinge
hatte ich hineingeworfen – ein Buch, meine Sonnenbrille
und etwas Geld für den Fall, dass ich bis nach Riverton
kommen musste. Der einzige Ort hier in der Gegend, den
man ansatzweise als zivilisiert bezeichnen konnte. Diese
Dinge würden mir über den Tag helfen.
Ich lief also gar nicht weg. Jedenfalls nicht richtig, wie
wenn man eine Pause einlegt, eine neue Identität annimmt, ich weiß auch nicht, zum Zirkus geht oder so
was in der Art. Nein, was ich tat, war etwas anderes: Ich
wollte etwas deutlich machen. Seit meine Eltern zum ersten Mal vorgeschlagen hatten, dass wir an die Evernight-
Akademie wechseln sollten – sie als Lehrer, ich als Schülerin –, war ich dagegen gewesen. Wir hatten mein ganzes
Leben lang in derselben Kleinstadt gelebt, und ich war in
dieselbe Schule mit denselben Leuten gegangen, seit ich
fünf Jahre alt war. Und genau so wollte ich es auch haben.
Es gibt Menschen, die gerne Fremde kennenlernen, mühelos ein Gespräch beginnen und Freundschaften schließen, aber so war ich nie gewesen. Ganz im Gegenteil. Es
ist komisch: Wenn einen die Leute »schüchtern« nennen,
lächeln sie gewöhnlich dabei. Als wäre es ganz süß und
eine Angewohnheit, die verschwinden würde, wenn man
älter wurde, wie die Lücken zwischen den Zähnen, wenn
die Milchzähne ausfielen. Wenn sie wüssten, wie es sich
anfühlte, wirklich schüchtern zu sein, nicht nur ein wenig
scheu anfänglich, dann würde ihnen das Lächeln vergehen. Wenn sie wüssten, wie das Gefühl als Knoten in deinem Magen wächst, deine Handflächen schweißnass und
dich selbst unfähig macht, irgendetwas Sinnvolles von dir
zu geben: Das ist überhaupt nicht süß.
Meine Eltern lächelten nie, wenn sie das Wort aussprachen. Sie waren zu klug dafür, und ich hatte immer das
Gefühl, dass sie mich verstanden, bis sie entschieden, dass
sechzehn Jahre das richtige Alter für mich wäre, diese
Schüchternheit irgendwie zu überwinden. Und wo könnte
man besser damit beginnen als in einem Internat? Vor allem, wenn sie mit von der Partie wären.
Irgendwie konnte ich verstehen, was sie dazu gebracht
hatte. Aber das war nur Theorie. Vom ersten Moment an,
in dem wir in die Auffahrt zur Evernight-Akademie eingebogen waren und ich das riesige, klotzige, mittelalter liche
Steinmonstrum gesehen hatte, wusste ich, dass ich auf
überhaupt gar keinen Fall hier zur Schule gehen konnte.
Mum und Dad hatten mir keine Beachtung geschenkt.
Also musste ich sie nun dazu bringen, mir zuzuhören.
Auf Zehenspitzen schlich ich durch das kleine Fakultätsapartment, in dem meine Familie seit letztem Monat
wohnte. Hinter der geschlossenen Tür zum Schlafzimmer
meiner Eltern konnte ich meine Mutter leise schnarchen
hören. Ich streifte mir meine Tasche über die Schulter,
drehte langsam den Türknauf und begann, die Treppe hinunterzusteigen. Wir waren ganz oben in einem der Evernight-Türme untergebracht, was cooler klingt, als es ist. Es
bedeutete, dass ich Stufen nehmen musste, die vor mehr
als zwei Jahrhunderten aus dem Felsen gehauen worden
waren, was lange genug her war, sodass sie jetzt abgenutzt
und ganz schön unregelmäßig waren. Das lange Treppenhaus der Wendeltreppe hatte nur wenige Fenster, und noch
war kein Licht an, sodass ein dunkler, schwieriger Weg vor
mir lag.
Als ich nach der Blume griff, raschelte es in der Hecke. Der
Wind, dachte ich, aber es war nicht der Wind. Nein, die Hecke wuchs – wuchs so rasch, dass ich dabei zusehen konnte.
Wein und Dornenranken schoben sich zwischen den Blättern hervor und wurden zu verschlungenem Gewirr. Noch
ehe ich davonlaufen konnte, hatte die Hecke mich schon fast
eingeschlossen und mit einem Wall von Zweigen und Blättern und Dornen umgeben.
Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, wieder
meinen Albträumen nachzuhängen. Ich holte tief Luft
und ging weiter hinunter, bis ich die große Halle im Erdgeschoss erreichte. Es war ein würdevoller Ort, so gestaltet, dass er einen inspirierte oder zumindest beeindruckte:
Der Boden war mit Marmorfliesen bedeckt, die gewölbte
Decke erstreckte sich hoch oben, und bunte Glasfenster
reichten vom Boden bis zu den Dachsparren, jedes in einem anderen, kaleidoskopartigen Muster, abgesehen von
einem einzigen genau in der Mitte, das aus schlichtem
Glas bestand.
Offensichtlich hatte man am Abend zuvor alles für die
Ereignisse des heutigen Tages vorbereitet, denn es war bereits ein Podest für die Schulleiterin aufgestellt worden,
um die Schüler zu begrüßen, die später am heutigen Tage
ankommen würden. Niemand sonst schien schon wach zu
sein, was bedeutete, dass es niemanden gab, der mich hätte
aufhalten können. Mit einem kräftigen Ruck öffnete ich
die schwere, geschnitzte Außentür, und dann war ich frei.
Bläulich grauer Nebel waberte in Bodennähe, während
ich über das Gelände lief. Als man im achtzehnten Jahrhundert die Evernight-Akademie gebaut hatte, war diese
Gegend noch Wildnis gewesen. Auch wenn in der weiteren Umgebung einige kleinere Städtchen entstanden
waren, hatte sich doch keines von ihnen bis in die Nähe
von Evernight ausgedehnt, und trotz des schönen Ausblicks von den Hügeln und der dichten umliegenden Wälder hatte niemand je ein Haus in der Nähe gebaut. Wem
konnte man es schon verübeln, dass er diesen Ort meiden
wollte? Ich warf einen Blick auf die hohen Steintürme der
Schule hinter mir, die beide mit den wasserspeienden Fratzen umringt waren, und schauderte. Noch einige Schritte
und sie begannen mit dem Nebel zu verschmelzen.
Evernight erhob sich drohend hinter mir, die Steinmauern
der hohen Türme waren die einzige Barriere, der die Dornen nichts anhaben konnten. Ich hätte zur Schule rennen
sollen, aber ich tat es nicht. Evernight war gefährlicher als
die Dornen, und außerdem hatte ich nicht die Absicht, die
Blumen zurückzulassen.
Mittlerweile fühlte sich mein Albtraum realer an als die
Wirklichkeit. Beunruhigt wandte ich den Blick von der
Schule ab und verfiel in einen Laufschritt, um das Gelände
hinter mir zu lassen und im Wald zu verschwinden.
Bald ist alles überstanden, sagte ich mir selbst, wäh
rend ich durchs Unterholz rannte und abgefallene Kiefernzweige unter meinen Füßen knackten. Obwohl ich nur
einige hundert Meter von der Eingangstür entfernt war,
hatte ich das Gefühl, sie wäre viel weiter weg. Der dicke
Nebel ließ einen glauben, bereits tief im Wald zu sein.
Mum und Dad werden aufwachen und feststellen, dass
ich verschwunden bin. Dann werden sie endlich einsehen,
dass ich es nicht aushalten kann und dass sie mich nicht
dazu zwingen können. Sie werden mich suchen kommen,
und, na gut, sie werden sauer sein, weil ich ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe, aber sie werden es schon
verstehen. Am Ende sehen sie es immer ein, oder? Und dann
werden wir wieder wegziehen. Wir verlassen die Evernight-
Akademie und werden nie wiederkommen.
Mein Herz schlug schneller. Mit jedem Schritt, mit dem
ich die Evernight-Akademie weiter zurückließ, bekam ich
es mehr mit der Angst zu tun anstatt weniger. Als ich den
Plan geschmiedet hatte, war es mir wie eine absolut blendende Idee vorgekommen. Ich dachte, dabei könnte überhaupt nichts schiefgehen. Jetzt, wo ich ihn in die Tat umsetzte und allein im Wald war, um von hier aus in eine
Wildnis aufzubrechen, in der ich mich nicht auskannte,
war ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher. Vielleicht
war alles völlig sinnlos. Vielleicht würden sie mich wieder
zur Akademie zurückschleifen und sich auf keine Diskussion einlassen.
Ein Donnern ertönte. Mein Herz schlug schneller. Zum letzten Mal wandte ich mich von Evernight ab und betrachtete
die Blume, die an ihrem Zweig zitterte. Ein einziges Blütenblatt war vom Wind abgerissen worden. Ich schob die Hände
durch das Dornengewirr und spürte schmerzhafte Striemen
auf meiner Haut, aber wild entschlossen ging ich weiter.
Doch als meine Fingerspitzen die Blume berührten, wurde
sie augenblicklich dunkler, verwelkte und vertrocknete, bis jedes einzelne Blütenblatt schwarz geworden war.
Ich rannte wieder los, Richtung Osten, versuchte, eine
möglichst große Entfernung zwischen mich und Evernight
zu bringen. Mein Albtraum würde mir keine Ruhe lassen. Es war dieser Ort, der mich bedrückte und mir Angst
machte. Wenn ich erst mal von hier fort wäre, würde es
besser werden. Ich atmete schwer und warf einen Blick zurück, um zu sehen, wie weit ich gekommen war …
Und da sah ich ihn. Einen Mann im Wald, halb verborgen vom Nebel, vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt,
mit einem langen, dunklen Mantel bekleidet. Im gleichen
Moment, als ich ihn erblickte, setzte er sich in Bewegung
und rannte mir hinterher.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, was
wirkliche Angst war. Kaltes Entsetzen erfüllte mich wie eisiges Wasser, und ich stellte fest, wie schnell ich tatsächlich rennen konnte. Ich schrie nicht, denn das war sinnlos.
Ich war in den Wald geflüchtet, damit mich niemand finden würde, was das Dümmste war, was ich je getan hatte.
Und so, wie es aussah, war es auch meine letzte Tat. Ich
hatte nicht mal mein Handy mitgenommen, weil man hier
ohnehin keine Verbindung bekam. Es würde keine Hilfe
kommen, also musste ich einfach rennen wie verrückt.
Ich konnte seine Schritte hören, brechende Zweige, knisternde Blätter. Er kam näher. O Gott, er war schnell. Wie
konnte jemand nur so schnell sein?
Sie haben dir beigebracht, wie du dich selbst verteidigen
kannst, dachte ich. Du solltest wissen, was in einer solchen
Situation zu tun ist! Ich konnte mich nicht mehr erinnern.
Ich konnte nicht nachdenken. Zweige rissen an den Ärmeln meiner Jacke und zerrten an den Haarsträhnen, die
sich aus dem Knoten gelöst hatten. Ich stolperte über einen Stein und biss mir auf die Zunge, aber ich durfte nicht
langsamer werden. Er war jetzt näher bei mir, viel zu nah.
Irgendwie musste ich wieder einen Vorsprung bekommen.
Aber ich konnte nicht noch schneller rennen.
»Ah!«, stieß ich erstickt aus, als er mich zu fassen bekam, und gemeinsam fielen wir hin. Ich schlug mit dem
Rücken auf, sein Gewicht presste mich auf den Boden, und
seine Beine umschlangen meine. Er legte mir eine Hand
über den Mund, und dann riss ich einen Arm frei. In meiner alten Schule hatten sie uns im Selbstverteidigungs-
Workshop gesagt, wir sollten immer auf die Augen zielen,
also den Typen ganz ernsthaft die Augen ausstechen. Ich
hatte immer gedacht, dass ich das könnte, wenn ich mich
selbst oder jemand anderen retten müsste, aber nun war
ich vor Angst wie gelähmt und mir absolut nicht sicher,
dass ich das schaffen würde. Ich bog die Finger und versuchte, allen Mut zusammenzunehmen.
In diesem Augenblick flüsterte der Kerl: »Hast du gesehen, wer hinter dir her war?«
Einige Sekunden lang starrte ich ihn einfach nur an.
Dann löste er die Hand von meinem Mund, sodass ich
antworten konnte. Sein Körper lag schwer auf meinem,
und die Welt schien sich zu drehen. Endlich sagte ich: »Du
meinst: Wer außer dir?«
»Außer mir?« Er hatte keine Ahnung, wovon ich sprach.
Verstohlen warf er einen Blick hinter uns, als erwarte er
einen Angriff. »Du bist doch vor jemandem davongelaufen, oder?«
»Ich bin einfach nur gerannt. Es war niemand außer dir
hinter mir her.«
»Du meinst, du hast gedacht …« Der Typ sprang sofort
auf, sodass ich frei war. »Oh, zur Hölle. Tut mir leid. Ich
wollte nicht … Mann, ich muss dich ja zu Tode erschreckt
haben.«
»Du hast versucht, mir zu Hilfe zu kommen?« Ich
musste es aussprechen, ehe ich es selbst glauben konnte.
Rasch nickte er. Sein Gesicht war nahe vor meinem,
zu nahe, und es versperrte mir den Blick auf den Rest
der Welt. Es schien nichts mehr zu geben außer uns und
den Nebelschwaden. »Ich weiß, dass ich dir einen Mordsschrecken eingejagt haben muss, und das tut mir leid. Ich
dachte wirklich …«
Seine Worte machten die Sache nicht besser. Mir wurde
immer schwindeliger. Ich brauchte Luft und meine Ruhe,
und an beides war nicht zu denken, während er so dicht
vor mir stand. Ich fuchtelte mit dem Finger in seine Richtung und sagte etwas, das ich praktisch mein ganzes Leben
lang noch zu niemandem gesagt hatte und bestimmt noch
nie zu einem Fremden, schon gar nicht zu dem erschreckendsten Fremden, dem ich je begegnet war: »Halt –
doch – einfach – den – Mund.«
Er hielt den Mund.
Mit einem Seufzer ließ ich meinen Kopf wieder auf den
Boden sinken. Ich legte die Handflächen auf meine Augenlider und drückte so fest, dass ich rote Flecken vor den Augen sah. Mein Mund schmeckte unverkennbar nach Blut,
und mein Herz hämmerte so laut, dass es meinen Brustkorb zu sprengen drohte. Ich hätte mir in die Hose pinkeln
können, was so ziemlich das Einzige gewesen wäre, was
die Lage noch erniedrigender gemacht hätte, als sie bereits
war. Stattdessen zwang ich mich dazu, tief ein- und auszuatmen, bis ich mich wieder kräftig genug fühlte, um mich
aufzusetzen.
Der Typ saß noch immer neben mir. Schließlich gelang
es mir, ihn zu fragen: »Warum hast du mich umgeworfen?«
»Ich dachte, wir müssten uns verstecken und vor demjenigen verbergen, der hinter dir her war, aber es hat sich
ja herausgestellt …«, er sah verlegen aus, »dass es ihn gar
nicht gab.«
Er senkte den Kopf, und ich sah ihn zum ersten Mal
genauer an. Vorher war kaum Zeit dafür gewesen, irgendetwas an ihm zu bemerken. Wenn dein erster Eindruck
von jemandem der eines »Psychokillers« ist, dann nimmst
du dir nicht die Zeit, auf Einzelheiten zu achten. Jetzt jedoch konnte ich sehen, dass er kein erwachsener Mann
war, wie ich zuerst geglaubt hatte. Obwohl er groß war und
breite Schultern hatte, war er jung und vermutlich ungefähr in meinem Alter. Er hatte glatte, goldbraune Haare,
die ihm in die Stirn fielen und von der Verfolgungsjagd
zerzaust waren. Sein Unterkiefer war kräftig und kantig,
und er hatte einen festen, muskulösen Körper und erstaunlich dunkelgrüne Augen.
Am bemerkenswertesten überhaupt jedoch war, was er
unter seinem langen schwarzen Mantel trug: abgestoßene
schwarze Stiefel, schwarze wollene Hosen und ein dunkelrotes Sweatshirt mit V-Ausschnitt, auf dem ein Wappen
prangte. Auf jeder Seite eines silbernen Schwertes war ein
Rabe aufgestickt. Es war das Wappen von Evernight.
»Du bist ein Schüler hier an der Akademie«, stellte ich
fest.
»Ein zukünftiger Schüler zumindest.« Er sprach leise,
als befürchtete er, mich wieder zu verschrecken. »Und
du?«
Ich nickte, dann schüttelte ich mein wirres Haar aus
und begann es wieder hochzustecken. »Das ist mein erstes Jahr. Meine Eltern sind Evernight-Lehrer, also sitze ich
hier fest.«
Das schien ihm seltsam vorzukommen, denn er schaute
mich mit gerunzelter Stirn an, und seine grünen Augen
sahen mit einem Mal forschend und unsicher aus. Sofort
jedoch hatte er sich wieder im Griff und streckte seine
Hand aus. »Lucas Ross.«
»Oh. Hallo.« Es kam mir komisch vor, mich jemandem vorzustellen, von dem ich vor fünf Minuten noch geglaubt hatte, dass er mich umbringen wollte. Seine Hand
war breit und kalt, und sein Griff war fest. »Ich bin Bianca
Olivier.«
»Dein Puls rast«, murmelte Lucas. Er betrachtete mein
Gesicht eingehend, was mich wiederum nervös machte,
jetzt allerdings auf sehr viel angenehmere Art und Weise.
»Okay, wenn du nicht vor einem Angreifer davongerannt
bist, warum hast du es denn dann so eilig gehabt? Für mich
sah das keineswegs nach morgendlichem Joggen aus.«
Ich hätte ihn angelogen, wenn mir irgendeine brauchbare Erklärung eingefallen wäre, aber das war nicht der
Fall. »Ich bin früh aufgestanden, weil ich vorhatte … na ja,
ich wollte versuchen abzuhauen.«
»Behandeln dich deine Eltern schlecht? Tun sie dir was
an?«
»Nein! Damit hat es überhaupt nichts zu tun.« Ich war
empört und beleidigt, aber mir war klar, dass Lucas natürlich irgendetwas Derartiges vermuten musste. Warum
sonst sollte ein völlig normales Mädchen durch den Wald
hetzen, ehe die Sonne richtig aufgegangen war, als müsste
es um sein Leben rennen? Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, also hielt er mich vielleicht noch immer für
völlig normal. Ich beschloss, ihm nichts von den Bruchstücken des Albtraums zu erzählen, die immer wieder aufblitzten, denn dann würde das Pendel vermutlich in Richtung »durchgedreht« ausschlagen. »Aber ich will nicht hier
zur Schule gehen. Ich mochte unsere Heimatstadt, und außerdem ist die Evernight-Akademie so … Hier ist es so …«
»Verdammt unheimlich.«
»Genau.«
»Wohin wolltest du denn? Wartet vielleicht irgendwo
ein Job auf dich oder irgendetwas in der Art?«
Meine Wangen brannten, nicht nur von den Anstrengungen des Rennens. »Hm, nein. Ich bin eigentlich auch
gar nicht wirklich weggelaufen. Ich wollte nur ein Zeichen
setzen, sozusagen. Ich dachte, wenn ich das täte, würden
meine Eltern vielleicht endlich begreifen, wie ernst es mir
damit ist, dass ich nicht hier sein will, und vielleicht würden wir dann wegziehen.«
Lucas blinzelte eine Sekunde lang, dann grinste er. Sein
Lächeln löste all die seltsame, aufgestaute Energie in mir
und verwandelte sie von Angst in Neugierde, sogar Aufregung. »Wie ich mit meiner Steinschleuder.«
»Was bitte?«
»Als ich fünf Jahre alt war, fand ich, dass meine Mutter
gemein zu mir war. Also entschloss ich mich wegzulaufen.
Ich nahm meine Steinschleuder mit, weil ich ja ein großer,
starker Mann war, musst du wissen. Ich konnte für mich
selbst sorgen. Ich glaube, ich hatte auch eine Taschenlampe und eine Packung Kekse dabei.«
Trotz meiner Verlegenheit musste ich lächeln. »Ich
schätze, du hast deine Sachen besser als ich gepackt.«
»Ich stapfte also aus dem Haus, in dem wir wohnten,
und lief den weiten Weg bis … zum äußersten Ende des
Gartens. Dort verschanzte ich mich. Ich blieb den ganzen
Tag draußen, bis es anfing zu regnen. An einen Regenschirm hatte ich nicht gedacht.«
»Und das bei all dieser sorgfältigen Planung.« Ich
seufzte.
»Ja, ich weiß. Es ist tragisch. Ich ging also wieder ins
Haus, nass und mit schmerzendem Magen, nachdem ich
ungefähr zwanzig Kekse verdrückt hatte, und meine Mum,
die eine kluge Frau ist, auch wenn sie mich krank macht,
nun ja, sie tat so, als wenn nichts geschehen wäre.« Lucas
zuckte mit den Schultern. »Und das werden deine Eltern
auch tun. Das weißt du doch ganz genau, oder?«
»Stimmt.« Meine Kehle wurde vor Enttäuschung ganz
eng. Mir war die Wahrheit tatsächlich schon die ganze Zeit
klar gewesen. Ich hatte einfach irgendwas tun müssen, und
zwar eher, um meinen eigenen Frust auszuleben, als um
meinen Eltern eine Botschaft zu vermitteln.
Dann stellte mir Lucas eine Frage, die mich verblüffte:
»Willst du wirklich weg von hier?«
»Du meinst, ob ich wirklich … abhauen will?«
Lucas nickte, und er sah so aus, als ob er es ernst meinte.
Aber das tat er wohl doch nicht. Das konnte er nicht
ernst meinen. Bestimmt hatte er das gefragt, um mich
wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Und
so gab ich es zu: »Nein, will ich nicht. Ich werde zurückgehen und mich für die Schule fertig machen wie ein braves Mädchen.«
Und da war es wieder, dieses Grinsen. »Niemand hat
gesagt, du müsstest ein braves Mädchen sein.«
Er sagte das in einem Ton, bei dem ich mich ganz warm
und weich im Innern fühlte.
»Es ist nur so … Was die Evernight-Akademie angeht …
Ich glaube nicht, dass ich hier je dazugehören werde.«
»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Es
könnte eine gute Sache sein, wenn man hier nicht hergehört.« Er sah mich ernst und durchdringend an, als ob er
eine ganz andere Idee hätte, wohin ich gehören könnte.
Entweder mochte mich dieser Typ wirklich, oder ich bildete mir etwas ein, weil ich so gerne wollte, dass er mich
mochte. Ich hatte viel zu wenig Erfahrung, um sagen zu
können, was davon zutraf.
Eilig rappelte ich mich auf. Als Lucas ebenfalls aufgestanden war, fragte ich: »Und was hast du gerade gemacht,
als du mich gesehen hast?«
»Wie ich schon sagte, ich dachte, du wärst in Schwierigkeiten. Hier in der Gegend gibt es ganz schön raue
Burschen. Nicht jeder hat sich selbst unter Kontrolle.« Er
strich sich einige Kiefernnadeln vom Sweatshirt. »Ich hätte
keine falschen Schlüsse ziehen sollen. Mein Instinkt ist mit
mir durchgegangen. Tut mir leid.«
»Das ist in Ordnung, ehrlich. Ich hab schon verstanden,
dass du mir nur helfen wolltest. Ich meinte aber, was du
getan hast, bevor du mich gesehen hast. Die Einführungsveranstaltung fängt doch erst in einigen Stunden an. Es
ist wirklich früh. Sie haben den Schülern gesagt, sie sollen
so gegen zehn Uhr eintreffen.«
»Ich war nie gut darin, mich an die Regeln zu halten.«
Das war interessant. »Dann … bist du also ein Frühaufsteher, der zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett hüpft?«
»Eigentlich weniger. Ich bin noch gar nicht im Bett gewesen.« Sein Lächeln war einfach umwerfend, und mir war
bereits jetzt klar, dass er genau wusste, wie er es einzusetzen
hatte. Aber das war mir egal.
»Meine Mutter kann mich nicht selbst herbringen. Sie
ist auf Geschäftsreise, würdest du vermutlich sagen. Ich
habe den Nachtzug genommen und dachte mir, ich laufe
schon mal hierher. Schau mir ein bisschen die Umgebung
an. Rette in Not geratene junge Damen.«
Als ich daran dachte, wie schnell Lucas hinter mir hergerannt war, und mir klarmachte, dass er das getan hatte,
um mein Leben zu retten, änderte sich die Erinnerung.
Die Furcht war verschwunden, und nun musste ich darüber lächeln. »Warum bist du nach Evernight gekommen?
Ich sitze hier wegen meiner Eltern fest, aber du hättest dir
doch wahrscheinlich auch eine andere Schule aussuchen
können. Einen angenehmeren Ort. Also praktisch jeden
anderen.«
Lucas schien ernstlich nicht zu wissen, was er darauf
antworten sollte. Er schob die Zweige beiseite, während
wir durch den Wald liefen, damit sie mir nicht das Gesicht
zerkratzten. Niemand hatte je den Weg für mich freigemacht. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich hab’s nicht eilig zurückzugehen. Außerdem müs
sen wir vor der Einführung noch einige Stunden totschlagen.«
Er senkte den Kopf, hielt den Blick jedoch fest auf mich
gerichtet. Irgendetwas an dieser Bewegung war eindeutig
aufregend, doch ich wusste nicht, ob er das beabsichtigt
hatte. Seine Augen hatten beinahe genau die gleiche Farbe
wie der Efeu, der an den Türmen von Evernight wuchs.
»Es ist auch eine Art Geheimnis.«
»Ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Ich meine,
du wirst doch wohl ebenfalls kein Wort über das alles hier
verlieren, oder? Über das Weglaufen und Durchdrehen …«
»Ich werde es keinem verraten.« Nach einigen weite
ren Sekunden Bedenkzeit gestand Lucas schließlich: »Ein
Vorfahre von mir hat vor beinahe hundertfünfzig Jahren
versucht, hier zur Schule zu gehen. Aber er wurde … ausgesiebt, so sagt man wohl.« Lucas lachte, und es fühlte
sich an, als würde das Sonnenlicht durch die Baumkronen
brechen. »Also ist es an mir, die Familienehre wiederherzustellen.«
»Das ist nicht fair. Du solltest deine Entscheidung nicht
auf der Grundlage dessen treffen müssen, was er getan
oder gelassen hat.«
»Es betrifft ja nicht alle meine Entscheidungen. Ich darf
mir immerhin meine Socken frei aussuchen.« Er lächelte,
als er sein Hosenbein hochzog und so den Rand seiner
karierten Socken über seinen schweren schwarzen Stiefeln
enthüllte.
»Weshalb haben sie denn deinen Ur-Ur-was-auch-immer ausgesiebt?«
Lucas schüttelte mitleidsvoll den Kopf. »Er war in seiner
ersten Woche an einem Duell beteiligt.«
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Claudia Gray
Evernight
Roman
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-7645-3045-7
Penhaligon
Erscheinungstermin: Juli 2009
Eine Liebe auf Leben und Tod
An jedem Ort wäre Bianca lieber als an diesem: Das Evernight-Internat ist eine Eliteschule,
und die anderen Schüler sind einfach zu perfekt – zu clever, zu schön, zu rücksichtslos. Bianca
weiß, dass sie niemals dazugehören wird, und reißt aus. Doch sie soll nicht weit kommen.
Noch auf dem Gelände der Schule läuft sie Lucas in die Arme. Der junge Mann ist ebenso ein
Einzelgänger wie sie, und er ist anscheinend fest entschlossen, das auch zu bleiben. Bianca
merkt sehr schnell, dass es eine besondere Verbindung zwischen ihr und Lucas gibt, eine
Anziehungskraft, die jedes normale Maß übersteigt. Doch sie muss auch erkennen, dass Lucas
von dunklen Geheimnissen umgeben ist. Von Geheimnissen, die alles in Frage stellen, woran
Bianca jemals geglaubt hat …
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Amy Vincent
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Penhaligon Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen
Covergestaltung: © HildenDesign, München unter Verwendung
einer Illustration von © Antonino Conte
Schriftzug: © Sarah Jane Coleman
Redaktion: Werner Bauer
Lektorat: Holger Kappel
Herstellung: René Fink
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7645-3045-7
www.penhaligon.de
so heiß tobte, dass er meine Haut versengte. Nicht mehr
lange und die Decke würde einstürzen und uns alle unter
sich begraben.
Draußen warteten die Vampire.
Es war der erste Schultag, was bedeutete: meine letzte
Chance, noch davonzulaufen.
Ich hatte keinen Rucksack voller Dinge, die man für ein
Überleben in der Wildnis braucht, kein dickes Portemonnaie mit Bargeld, von dem ich mir ein Flugticket nach irgendwohin kaufen konnte, und auch keinen Freund, der
am Ende der Straße in einem Fluchtauto auf mich wartete.
Vor allem fehlte mir das, was jeder Mensch mit gesundem
Verstand einen »Plan« nennen würde.
Aber das spielte alles keine Rolle. Auf keinen Fall würde
ich in der Evernight-Akademie bleiben.
Kaum zeichnete sich das erste, gedämpfte Morgenlicht
am Himmel ab, schlüpfte ich in meine Jeans und griff
nach einem wärmenden, schwarzen Sweatshirt – so früh
am Morgen und so hoch in den Hügeln fühlte sich selbst
der September frisch an. Achtlos band ich meine langen,
roten Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen und
zog meine Wanderstiefel an. Ich glaubte, leise sein zu müssen, obwohl ich mir keine Sorgen zu machen brauchte,
dass meine Eltern aufwachen könnten. Es reicht zu sagen,
dass sie nicht gerade Morgenmenschen seien. Gewöhnlich
schlafen sie wie Tote, bis der Wecker sie aus dem Schlaf
reißt, und das würde erst in einigen Stunden geschehen.
Was mir einen ordentlichen Vorsprung verschaffte.
Vor meinem Schlafzimmerfenster starrte mich ein
stei nerner Wasserspeier an, riesige Reißzähne vervollständigten seinen zur Grimasse verzerrten Mund. Ich
packte meine Jeansjacke und streckte dem Ungeheuer
die Zunge heraus. »Vielleicht hast du ja Lust, in der Festung der Verdammten herumzuhängen«, murmelte ich.
»Nur zu.«
Bevor ich verschwand, machte ich mein Bett. Normalerweise kostete es meine Mutter ewige Nörgeleien, bis
sie mich dazu brachte, aber diesmal wollte ich es selber.
Mir war klar, dass meine Eltern heute auch so einen Anfall kriegen würden, und ich hatte das Gefühl, sie ein bisschen dafür zu entschädigen, wenn ich die Bettdecke glatt
strich. Sie würden es vermutlich anders sehen, aber das
hielt mich nicht davon ab. Als ich die Kissen aufschüttelte,
blitzte plötzlich eine merkwürdige Erinnerung an etwas in
mir auf, das ich in der Nacht zuvor geträumt hatte, und das
Bild vor meinem geistigen Auge war so lebendig und unmittelbar, als träumte ich noch immer:
Eine Blume in der Farbe von Blut.
Der Wind heulte in den Bäumen um mich herum und
peitschte die Äste in alle Richtungen. Am Himmel über
mir wirbelten schwere, dunkle Wolken. Ich strich mir das
sturmzerzauste Haar aus der Stirn. Ich wollte nichts anderes
als mir die Blume ansehen.
Jedes einzelne, regenbenetzte Blütenblatt war leuchtend
rot, schmal und wie eine Klinge geformt, so wie es manchmal bei tropischen Orchideen der Fall ist. Doch die Blüte
war auch üppig und gefüllt, und sie klammerte sich nahe an
den Stängel wie eine Rose. Die Blume war das Exotischste,
Bezauberndste, was ich je gesehen hatte. Ich musste sie unbedingt für mich haben.
Warum ließ mich diese Erinnerung schaudern? Es war
nur ein Traum. Ich holte tief Luft und versuchte, meine
Gedanken wieder zu sammeln. Es war Zeit zu gehen.
Meine Umhängetasche lag griffbereit, denn ich hatte
sie bereits am Abend zuvor gepackt. Nur ein paar Dinge
hatte ich hineingeworfen – ein Buch, meine Sonnenbrille
und etwas Geld für den Fall, dass ich bis nach Riverton
kommen musste. Der einzige Ort hier in der Gegend, den
man ansatzweise als zivilisiert bezeichnen konnte. Diese
Dinge würden mir über den Tag helfen.
Ich lief also gar nicht weg. Jedenfalls nicht richtig, wie
wenn man eine Pause einlegt, eine neue Identität annimmt, ich weiß auch nicht, zum Zirkus geht oder so
was in der Art. Nein, was ich tat, war etwas anderes: Ich
wollte etwas deutlich machen. Seit meine Eltern zum ersten Mal vorgeschlagen hatten, dass wir an die Evernight-
Akademie wechseln sollten – sie als Lehrer, ich als Schülerin –, war ich dagegen gewesen. Wir hatten mein ganzes
Leben lang in derselben Kleinstadt gelebt, und ich war in
dieselbe Schule mit denselben Leuten gegangen, seit ich
fünf Jahre alt war. Und genau so wollte ich es auch haben.
Es gibt Menschen, die gerne Fremde kennenlernen, mühelos ein Gespräch beginnen und Freundschaften schließen, aber so war ich nie gewesen. Ganz im Gegenteil. Es
ist komisch: Wenn einen die Leute »schüchtern« nennen,
lächeln sie gewöhnlich dabei. Als wäre es ganz süß und
eine Angewohnheit, die verschwinden würde, wenn man
älter wurde, wie die Lücken zwischen den Zähnen, wenn
die Milchzähne ausfielen. Wenn sie wüssten, wie es sich
anfühlte, wirklich schüchtern zu sein, nicht nur ein wenig
scheu anfänglich, dann würde ihnen das Lächeln vergehen. Wenn sie wüssten, wie das Gefühl als Knoten in deinem Magen wächst, deine Handflächen schweißnass und
dich selbst unfähig macht, irgendetwas Sinnvolles von dir
zu geben: Das ist überhaupt nicht süß.
Meine Eltern lächelten nie, wenn sie das Wort aussprachen. Sie waren zu klug dafür, und ich hatte immer das
Gefühl, dass sie mich verstanden, bis sie entschieden, dass
sechzehn Jahre das richtige Alter für mich wäre, diese
Schüchternheit irgendwie zu überwinden. Und wo könnte
man besser damit beginnen als in einem Internat? Vor allem, wenn sie mit von der Partie wären.
Irgendwie konnte ich verstehen, was sie dazu gebracht
hatte. Aber das war nur Theorie. Vom ersten Moment an,
in dem wir in die Auffahrt zur Evernight-Akademie eingebogen waren und ich das riesige, klotzige, mittelalter liche
Steinmonstrum gesehen hatte, wusste ich, dass ich auf
überhaupt gar keinen Fall hier zur Schule gehen konnte.
Mum und Dad hatten mir keine Beachtung geschenkt.
Also musste ich sie nun dazu bringen, mir zuzuhören.
Auf Zehenspitzen schlich ich durch das kleine Fakultätsapartment, in dem meine Familie seit letztem Monat
wohnte. Hinter der geschlossenen Tür zum Schlafzimmer
meiner Eltern konnte ich meine Mutter leise schnarchen
hören. Ich streifte mir meine Tasche über die Schulter,
drehte langsam den Türknauf und begann, die Treppe hinunterzusteigen. Wir waren ganz oben in einem der Evernight-Türme untergebracht, was cooler klingt, als es ist. Es
bedeutete, dass ich Stufen nehmen musste, die vor mehr
als zwei Jahrhunderten aus dem Felsen gehauen worden
waren, was lange genug her war, sodass sie jetzt abgenutzt
und ganz schön unregelmäßig waren. Das lange Treppenhaus der Wendeltreppe hatte nur wenige Fenster, und noch
war kein Licht an, sodass ein dunkler, schwieriger Weg vor
mir lag.
Als ich nach der Blume griff, raschelte es in der Hecke. Der
Wind, dachte ich, aber es war nicht der Wind. Nein, die Hecke wuchs – wuchs so rasch, dass ich dabei zusehen konnte.
Wein und Dornenranken schoben sich zwischen den Blättern hervor und wurden zu verschlungenem Gewirr. Noch
ehe ich davonlaufen konnte, hatte die Hecke mich schon fast
eingeschlossen und mit einem Wall von Zweigen und Blättern und Dornen umgeben.
Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, wieder
meinen Albträumen nachzuhängen. Ich holte tief Luft
und ging weiter hinunter, bis ich die große Halle im Erdgeschoss erreichte. Es war ein würdevoller Ort, so gestaltet, dass er einen inspirierte oder zumindest beeindruckte:
Der Boden war mit Marmorfliesen bedeckt, die gewölbte
Decke erstreckte sich hoch oben, und bunte Glasfenster
reichten vom Boden bis zu den Dachsparren, jedes in einem anderen, kaleidoskopartigen Muster, abgesehen von
einem einzigen genau in der Mitte, das aus schlichtem
Glas bestand.
Offensichtlich hatte man am Abend zuvor alles für die
Ereignisse des heutigen Tages vorbereitet, denn es war bereits ein Podest für die Schulleiterin aufgestellt worden,
um die Schüler zu begrüßen, die später am heutigen Tage
ankommen würden. Niemand sonst schien schon wach zu
sein, was bedeutete, dass es niemanden gab, der mich hätte
aufhalten können. Mit einem kräftigen Ruck öffnete ich
die schwere, geschnitzte Außentür, und dann war ich frei.
Bläulich grauer Nebel waberte in Bodennähe, während
ich über das Gelände lief. Als man im achtzehnten Jahrhundert die Evernight-Akademie gebaut hatte, war diese
Gegend noch Wildnis gewesen. Auch wenn in der weiteren Umgebung einige kleinere Städtchen entstanden
waren, hatte sich doch keines von ihnen bis in die Nähe
von Evernight ausgedehnt, und trotz des schönen Ausblicks von den Hügeln und der dichten umliegenden Wälder hatte niemand je ein Haus in der Nähe gebaut. Wem
konnte man es schon verübeln, dass er diesen Ort meiden
wollte? Ich warf einen Blick auf die hohen Steintürme der
Schule hinter mir, die beide mit den wasserspeienden Fratzen umringt waren, und schauderte. Noch einige Schritte
und sie begannen mit dem Nebel zu verschmelzen.
Evernight erhob sich drohend hinter mir, die Steinmauern
der hohen Türme waren die einzige Barriere, der die Dornen nichts anhaben konnten. Ich hätte zur Schule rennen
sollen, aber ich tat es nicht. Evernight war gefährlicher als
die Dornen, und außerdem hatte ich nicht die Absicht, die
Blumen zurückzulassen.
Mittlerweile fühlte sich mein Albtraum realer an als die
Wirklichkeit. Beunruhigt wandte ich den Blick von der
Schule ab und verfiel in einen Laufschritt, um das Gelände
hinter mir zu lassen und im Wald zu verschwinden.
Bald ist alles überstanden, sagte ich mir selbst, wäh
rend ich durchs Unterholz rannte und abgefallene Kiefernzweige unter meinen Füßen knackten. Obwohl ich nur
einige hundert Meter von der Eingangstür entfernt war,
hatte ich das Gefühl, sie wäre viel weiter weg. Der dicke
Nebel ließ einen glauben, bereits tief im Wald zu sein.
Mum und Dad werden aufwachen und feststellen, dass
ich verschwunden bin. Dann werden sie endlich einsehen,
dass ich es nicht aushalten kann und dass sie mich nicht
dazu zwingen können. Sie werden mich suchen kommen,
und, na gut, sie werden sauer sein, weil ich ihnen einen solchen Schrecken eingejagt habe, aber sie werden es schon
verstehen. Am Ende sehen sie es immer ein, oder? Und dann
werden wir wieder wegziehen. Wir verlassen die Evernight-
Akademie und werden nie wiederkommen.
Mein Herz schlug schneller. Mit jedem Schritt, mit dem
ich die Evernight-Akademie weiter zurückließ, bekam ich
es mehr mit der Angst zu tun anstatt weniger. Als ich den
Plan geschmiedet hatte, war es mir wie eine absolut blendende Idee vorgekommen. Ich dachte, dabei könnte überhaupt nichts schiefgehen. Jetzt, wo ich ihn in die Tat umsetzte und allein im Wald war, um von hier aus in eine
Wildnis aufzubrechen, in der ich mich nicht auskannte,
war ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher. Vielleicht
war alles völlig sinnlos. Vielleicht würden sie mich wieder
zur Akademie zurückschleifen und sich auf keine Diskussion einlassen.
Ein Donnern ertönte. Mein Herz schlug schneller. Zum letzten Mal wandte ich mich von Evernight ab und betrachtete
die Blume, die an ihrem Zweig zitterte. Ein einziges Blütenblatt war vom Wind abgerissen worden. Ich schob die Hände
durch das Dornengewirr und spürte schmerzhafte Striemen
auf meiner Haut, aber wild entschlossen ging ich weiter.
Doch als meine Fingerspitzen die Blume berührten, wurde
sie augenblicklich dunkler, verwelkte und vertrocknete, bis jedes einzelne Blütenblatt schwarz geworden war.
Ich rannte wieder los, Richtung Osten, versuchte, eine
möglichst große Entfernung zwischen mich und Evernight
zu bringen. Mein Albtraum würde mir keine Ruhe lassen. Es war dieser Ort, der mich bedrückte und mir Angst
machte. Wenn ich erst mal von hier fort wäre, würde es
besser werden. Ich atmete schwer und warf einen Blick zurück, um zu sehen, wie weit ich gekommen war …
Und da sah ich ihn. Einen Mann im Wald, halb verborgen vom Nebel, vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt,
mit einem langen, dunklen Mantel bekleidet. Im gleichen
Moment, als ich ihn erblickte, setzte er sich in Bewegung
und rannte mir hinterher.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, was
wirkliche Angst war. Kaltes Entsetzen erfüllte mich wie eisiges Wasser, und ich stellte fest, wie schnell ich tatsächlich rennen konnte. Ich schrie nicht, denn das war sinnlos.
Ich war in den Wald geflüchtet, damit mich niemand finden würde, was das Dümmste war, was ich je getan hatte.
Und so, wie es aussah, war es auch meine letzte Tat. Ich
hatte nicht mal mein Handy mitgenommen, weil man hier
ohnehin keine Verbindung bekam. Es würde keine Hilfe
kommen, also musste ich einfach rennen wie verrückt.
Ich konnte seine Schritte hören, brechende Zweige, knisternde Blätter. Er kam näher. O Gott, er war schnell. Wie
konnte jemand nur so schnell sein?
Sie haben dir beigebracht, wie du dich selbst verteidigen
kannst, dachte ich. Du solltest wissen, was in einer solchen
Situation zu tun ist! Ich konnte mich nicht mehr erinnern.
Ich konnte nicht nachdenken. Zweige rissen an den Ärmeln meiner Jacke und zerrten an den Haarsträhnen, die
sich aus dem Knoten gelöst hatten. Ich stolperte über einen Stein und biss mir auf die Zunge, aber ich durfte nicht
langsamer werden. Er war jetzt näher bei mir, viel zu nah.
Irgendwie musste ich wieder einen Vorsprung bekommen.
Aber ich konnte nicht noch schneller rennen.
»Ah!«, stieß ich erstickt aus, als er mich zu fassen bekam, und gemeinsam fielen wir hin. Ich schlug mit dem
Rücken auf, sein Gewicht presste mich auf den Boden, und
seine Beine umschlangen meine. Er legte mir eine Hand
über den Mund, und dann riss ich einen Arm frei. In meiner alten Schule hatten sie uns im Selbstverteidigungs-
Workshop gesagt, wir sollten immer auf die Augen zielen,
also den Typen ganz ernsthaft die Augen ausstechen. Ich
hatte immer gedacht, dass ich das könnte, wenn ich mich
selbst oder jemand anderen retten müsste, aber nun war
ich vor Angst wie gelähmt und mir absolut nicht sicher,
dass ich das schaffen würde. Ich bog die Finger und versuchte, allen Mut zusammenzunehmen.
In diesem Augenblick flüsterte der Kerl: »Hast du gesehen, wer hinter dir her war?«
Einige Sekunden lang starrte ich ihn einfach nur an.
Dann löste er die Hand von meinem Mund, sodass ich
antworten konnte. Sein Körper lag schwer auf meinem,
und die Welt schien sich zu drehen. Endlich sagte ich: »Du
meinst: Wer außer dir?«
»Außer mir?« Er hatte keine Ahnung, wovon ich sprach.
Verstohlen warf er einen Blick hinter uns, als erwarte er
einen Angriff. »Du bist doch vor jemandem davongelaufen, oder?«
»Ich bin einfach nur gerannt. Es war niemand außer dir
hinter mir her.«
»Du meinst, du hast gedacht …« Der Typ sprang sofort
auf, sodass ich frei war. »Oh, zur Hölle. Tut mir leid. Ich
wollte nicht … Mann, ich muss dich ja zu Tode erschreckt
haben.«
»Du hast versucht, mir zu Hilfe zu kommen?« Ich
musste es aussprechen, ehe ich es selbst glauben konnte.
Rasch nickte er. Sein Gesicht war nahe vor meinem,
zu nahe, und es versperrte mir den Blick auf den Rest
der Welt. Es schien nichts mehr zu geben außer uns und
den Nebelschwaden. »Ich weiß, dass ich dir einen Mordsschrecken eingejagt haben muss, und das tut mir leid. Ich
dachte wirklich …«
Seine Worte machten die Sache nicht besser. Mir wurde
immer schwindeliger. Ich brauchte Luft und meine Ruhe,
und an beides war nicht zu denken, während er so dicht
vor mir stand. Ich fuchtelte mit dem Finger in seine Richtung und sagte etwas, das ich praktisch mein ganzes Leben
lang noch zu niemandem gesagt hatte und bestimmt noch
nie zu einem Fremden, schon gar nicht zu dem erschreckendsten Fremden, dem ich je begegnet war: »Halt –
doch – einfach – den – Mund.«
Er hielt den Mund.
Mit einem Seufzer ließ ich meinen Kopf wieder auf den
Boden sinken. Ich legte die Handflächen auf meine Augenlider und drückte so fest, dass ich rote Flecken vor den Augen sah. Mein Mund schmeckte unverkennbar nach Blut,
und mein Herz hämmerte so laut, dass es meinen Brustkorb zu sprengen drohte. Ich hätte mir in die Hose pinkeln
können, was so ziemlich das Einzige gewesen wäre, was
die Lage noch erniedrigender gemacht hätte, als sie bereits
war. Stattdessen zwang ich mich dazu, tief ein- und auszuatmen, bis ich mich wieder kräftig genug fühlte, um mich
aufzusetzen.
Der Typ saß noch immer neben mir. Schließlich gelang
es mir, ihn zu fragen: »Warum hast du mich umgeworfen?«
»Ich dachte, wir müssten uns verstecken und vor demjenigen verbergen, der hinter dir her war, aber es hat sich
ja herausgestellt …«, er sah verlegen aus, »dass es ihn gar
nicht gab.«
Er senkte den Kopf, und ich sah ihn zum ersten Mal
genauer an. Vorher war kaum Zeit dafür gewesen, irgendetwas an ihm zu bemerken. Wenn dein erster Eindruck
von jemandem der eines »Psychokillers« ist, dann nimmst
du dir nicht die Zeit, auf Einzelheiten zu achten. Jetzt jedoch konnte ich sehen, dass er kein erwachsener Mann
war, wie ich zuerst geglaubt hatte. Obwohl er groß war und
breite Schultern hatte, war er jung und vermutlich ungefähr in meinem Alter. Er hatte glatte, goldbraune Haare,
die ihm in die Stirn fielen und von der Verfolgungsjagd
zerzaust waren. Sein Unterkiefer war kräftig und kantig,
und er hatte einen festen, muskulösen Körper und erstaunlich dunkelgrüne Augen.
Am bemerkenswertesten überhaupt jedoch war, was er
unter seinem langen schwarzen Mantel trug: abgestoßene
schwarze Stiefel, schwarze wollene Hosen und ein dunkelrotes Sweatshirt mit V-Ausschnitt, auf dem ein Wappen
prangte. Auf jeder Seite eines silbernen Schwertes war ein
Rabe aufgestickt. Es war das Wappen von Evernight.
»Du bist ein Schüler hier an der Akademie«, stellte ich
fest.
»Ein zukünftiger Schüler zumindest.« Er sprach leise,
als befürchtete er, mich wieder zu verschrecken. »Und
du?«
Ich nickte, dann schüttelte ich mein wirres Haar aus
und begann es wieder hochzustecken. »Das ist mein erstes Jahr. Meine Eltern sind Evernight-Lehrer, also sitze ich
hier fest.«
Das schien ihm seltsam vorzukommen, denn er schaute
mich mit gerunzelter Stirn an, und seine grünen Augen
sahen mit einem Mal forschend und unsicher aus. Sofort
jedoch hatte er sich wieder im Griff und streckte seine
Hand aus. »Lucas Ross.«
»Oh. Hallo.« Es kam mir komisch vor, mich jemandem vorzustellen, von dem ich vor fünf Minuten noch geglaubt hatte, dass er mich umbringen wollte. Seine Hand
war breit und kalt, und sein Griff war fest. »Ich bin Bianca
Olivier.«
»Dein Puls rast«, murmelte Lucas. Er betrachtete mein
Gesicht eingehend, was mich wiederum nervös machte,
jetzt allerdings auf sehr viel angenehmere Art und Weise.
»Okay, wenn du nicht vor einem Angreifer davongerannt
bist, warum hast du es denn dann so eilig gehabt? Für mich
sah das keineswegs nach morgendlichem Joggen aus.«
Ich hätte ihn angelogen, wenn mir irgendeine brauchbare Erklärung eingefallen wäre, aber das war nicht der
Fall. »Ich bin früh aufgestanden, weil ich vorhatte … na ja,
ich wollte versuchen abzuhauen.«
»Behandeln dich deine Eltern schlecht? Tun sie dir was
an?«
»Nein! Damit hat es überhaupt nichts zu tun.« Ich war
empört und beleidigt, aber mir war klar, dass Lucas natürlich irgendetwas Derartiges vermuten musste. Warum
sonst sollte ein völlig normales Mädchen durch den Wald
hetzen, ehe die Sonne richtig aufgegangen war, als müsste
es um sein Leben rennen? Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, also hielt er mich vielleicht noch immer für
völlig normal. Ich beschloss, ihm nichts von den Bruchstücken des Albtraums zu erzählen, die immer wieder aufblitzten, denn dann würde das Pendel vermutlich in Richtung »durchgedreht« ausschlagen. »Aber ich will nicht hier
zur Schule gehen. Ich mochte unsere Heimatstadt, und außerdem ist die Evernight-Akademie so … Hier ist es so …«
»Verdammt unheimlich.«
»Genau.«
»Wohin wolltest du denn? Wartet vielleicht irgendwo
ein Job auf dich oder irgendetwas in der Art?«
Meine Wangen brannten, nicht nur von den Anstrengungen des Rennens. »Hm, nein. Ich bin eigentlich auch
gar nicht wirklich weggelaufen. Ich wollte nur ein Zeichen
setzen, sozusagen. Ich dachte, wenn ich das täte, würden
meine Eltern vielleicht endlich begreifen, wie ernst es mir
damit ist, dass ich nicht hier sein will, und vielleicht würden wir dann wegziehen.«
Lucas blinzelte eine Sekunde lang, dann grinste er. Sein
Lächeln löste all die seltsame, aufgestaute Energie in mir
und verwandelte sie von Angst in Neugierde, sogar Aufregung. »Wie ich mit meiner Steinschleuder.«
»Was bitte?«
»Als ich fünf Jahre alt war, fand ich, dass meine Mutter
gemein zu mir war. Also entschloss ich mich wegzulaufen.
Ich nahm meine Steinschleuder mit, weil ich ja ein großer,
starker Mann war, musst du wissen. Ich konnte für mich
selbst sorgen. Ich glaube, ich hatte auch eine Taschenlampe und eine Packung Kekse dabei.«
Trotz meiner Verlegenheit musste ich lächeln. »Ich
schätze, du hast deine Sachen besser als ich gepackt.«
»Ich stapfte also aus dem Haus, in dem wir wohnten,
und lief den weiten Weg bis … zum äußersten Ende des
Gartens. Dort verschanzte ich mich. Ich blieb den ganzen
Tag draußen, bis es anfing zu regnen. An einen Regenschirm hatte ich nicht gedacht.«
»Und das bei all dieser sorgfältigen Planung.« Ich
seufzte.
»Ja, ich weiß. Es ist tragisch. Ich ging also wieder ins
Haus, nass und mit schmerzendem Magen, nachdem ich
ungefähr zwanzig Kekse verdrückt hatte, und meine Mum,
die eine kluge Frau ist, auch wenn sie mich krank macht,
nun ja, sie tat so, als wenn nichts geschehen wäre.« Lucas
zuckte mit den Schultern. »Und das werden deine Eltern
auch tun. Das weißt du doch ganz genau, oder?«
»Stimmt.« Meine Kehle wurde vor Enttäuschung ganz
eng. Mir war die Wahrheit tatsächlich schon die ganze Zeit
klar gewesen. Ich hatte einfach irgendwas tun müssen, und
zwar eher, um meinen eigenen Frust auszuleben, als um
meinen Eltern eine Botschaft zu vermitteln.
Dann stellte mir Lucas eine Frage, die mich verblüffte:
»Willst du wirklich weg von hier?«
»Du meinst, ob ich wirklich … abhauen will?«
Lucas nickte, und er sah so aus, als ob er es ernst meinte.
Aber das tat er wohl doch nicht. Das konnte er nicht
ernst meinen. Bestimmt hatte er das gefragt, um mich
wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Und
so gab ich es zu: »Nein, will ich nicht. Ich werde zurückgehen und mich für die Schule fertig machen wie ein braves Mädchen.«
Und da war es wieder, dieses Grinsen. »Niemand hat
gesagt, du müsstest ein braves Mädchen sein.«
Er sagte das in einem Ton, bei dem ich mich ganz warm
und weich im Innern fühlte.
»Es ist nur so … Was die Evernight-Akademie angeht …
Ich glaube nicht, dass ich hier je dazugehören werde.«
»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Es
könnte eine gute Sache sein, wenn man hier nicht hergehört.« Er sah mich ernst und durchdringend an, als ob er
eine ganz andere Idee hätte, wohin ich gehören könnte.
Entweder mochte mich dieser Typ wirklich, oder ich bildete mir etwas ein, weil ich so gerne wollte, dass er mich
mochte. Ich hatte viel zu wenig Erfahrung, um sagen zu
können, was davon zutraf.
Eilig rappelte ich mich auf. Als Lucas ebenfalls aufgestanden war, fragte ich: »Und was hast du gerade gemacht,
als du mich gesehen hast?«
»Wie ich schon sagte, ich dachte, du wärst in Schwierigkeiten. Hier in der Gegend gibt es ganz schön raue
Burschen. Nicht jeder hat sich selbst unter Kontrolle.« Er
strich sich einige Kiefernnadeln vom Sweatshirt. »Ich hätte
keine falschen Schlüsse ziehen sollen. Mein Instinkt ist mit
mir durchgegangen. Tut mir leid.«
»Das ist in Ordnung, ehrlich. Ich hab schon verstanden,
dass du mir nur helfen wolltest. Ich meinte aber, was du
getan hast, bevor du mich gesehen hast. Die Einführungsveranstaltung fängt doch erst in einigen Stunden an. Es
ist wirklich früh. Sie haben den Schülern gesagt, sie sollen
so gegen zehn Uhr eintreffen.«
»Ich war nie gut darin, mich an die Regeln zu halten.«
Das war interessant. »Dann … bist du also ein Frühaufsteher, der zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett hüpft?«
»Eigentlich weniger. Ich bin noch gar nicht im Bett gewesen.« Sein Lächeln war einfach umwerfend, und mir war
bereits jetzt klar, dass er genau wusste, wie er es einzusetzen
hatte. Aber das war mir egal.
»Meine Mutter kann mich nicht selbst herbringen. Sie
ist auf Geschäftsreise, würdest du vermutlich sagen. Ich
habe den Nachtzug genommen und dachte mir, ich laufe
schon mal hierher. Schau mir ein bisschen die Umgebung
an. Rette in Not geratene junge Damen.«
Als ich daran dachte, wie schnell Lucas hinter mir hergerannt war, und mir klarmachte, dass er das getan hatte,
um mein Leben zu retten, änderte sich die Erinnerung.
Die Furcht war verschwunden, und nun musste ich darüber lächeln. »Warum bist du nach Evernight gekommen?
Ich sitze hier wegen meiner Eltern fest, aber du hättest dir
doch wahrscheinlich auch eine andere Schule aussuchen
können. Einen angenehmeren Ort. Also praktisch jeden
anderen.«
Lucas schien ernstlich nicht zu wissen, was er darauf
antworten sollte. Er schob die Zweige beiseite, während
wir durch den Wald liefen, damit sie mir nicht das Gesicht
zerkratzten. Niemand hatte je den Weg für mich freigemacht. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich hab’s nicht eilig zurückzugehen. Außerdem müs
sen wir vor der Einführung noch einige Stunden totschlagen.«
Er senkte den Kopf, hielt den Blick jedoch fest auf mich
gerichtet. Irgendetwas an dieser Bewegung war eindeutig
aufregend, doch ich wusste nicht, ob er das beabsichtigt
hatte. Seine Augen hatten beinahe genau die gleiche Farbe
wie der Efeu, der an den Türmen von Evernight wuchs.
»Es ist auch eine Art Geheimnis.«
»Ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Ich meine,
du wirst doch wohl ebenfalls kein Wort über das alles hier
verlieren, oder? Über das Weglaufen und Durchdrehen …«
»Ich werde es keinem verraten.« Nach einigen weite
ren Sekunden Bedenkzeit gestand Lucas schließlich: »Ein
Vorfahre von mir hat vor beinahe hundertfünfzig Jahren
versucht, hier zur Schule zu gehen. Aber er wurde … ausgesiebt, so sagt man wohl.« Lucas lachte, und es fühlte
sich an, als würde das Sonnenlicht durch die Baumkronen
brechen. »Also ist es an mir, die Familienehre wiederherzustellen.«
»Das ist nicht fair. Du solltest deine Entscheidung nicht
auf der Grundlage dessen treffen müssen, was er getan
oder gelassen hat.«
»Es betrifft ja nicht alle meine Entscheidungen. Ich darf
mir immerhin meine Socken frei aussuchen.« Er lächelte,
als er sein Hosenbein hochzog und so den Rand seiner
karierten Socken über seinen schweren schwarzen Stiefeln
enthüllte.
»Weshalb haben sie denn deinen Ur-Ur-was-auch-immer ausgesiebt?«
Lucas schüttelte mitleidsvoll den Kopf. »Er war in seiner
ersten Woche an einem Duell beteiligt.«
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Claudia Gray
Evernight
Roman
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-7645-3045-7
Penhaligon
Erscheinungstermin: Juli 2009
Eine Liebe auf Leben und Tod
An jedem Ort wäre Bianca lieber als an diesem: Das Evernight-Internat ist eine Eliteschule,
und die anderen Schüler sind einfach zu perfekt – zu clever, zu schön, zu rücksichtslos. Bianca
weiß, dass sie niemals dazugehören wird, und reißt aus. Doch sie soll nicht weit kommen.
Noch auf dem Gelände der Schule läuft sie Lucas in die Arme. Der junge Mann ist ebenso ein
Einzelgänger wie sie, und er ist anscheinend fest entschlossen, das auch zu bleiben. Bianca
merkt sehr schnell, dass es eine besondere Verbindung zwischen ihr und Lucas gibt, eine
Anziehungskraft, die jedes normale Maß übersteigt. Doch sie muss auch erkennen, dass Lucas
von dunklen Geheimnissen umgeben ist. Von Geheimnissen, die alles in Frage stellen, woran
Bianca jemals geglaubt hat …
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Amy Vincent
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Penhaligon Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen
Covergestaltung: © HildenDesign, München unter Verwendung
einer Illustration von © Antonino Conte
Schriftzug: © Sarah Jane Coleman
Redaktion: Werner Bauer
Lektorat: Holger Kappel
Herstellung: René Fink
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
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ISBN 978-3-7645-3045-7
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Autoren-Porträt von Claudia Gray
Bevor Claudia Gray sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie als Anwältin, Journalistin und DJ. Seit ihrer Kindheit interessiert sie sich für Filmklassiker, die Stile vergangener Epochen und Architektur. Ihr dadurch erworbenes Wissen ließ sie sanft in die Welt von "Evernight" einfließen und erschuf so eine unverwechselbare Stimmung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claudia Gray
- 2009, 4, 383 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt-Foth, Marianne
- Übersetzer: Marianne Schmidt
- Verlag: Penhaligon
- ISBN-10: 3764530456
- ISBN-13: 9783764530457
Rezension zu „Evernight Bd.1 “
"Junge Liebe, alter Hass und eine Fehde, die Romeo und Julia würdig wäre!"
Kommentar zu "Evernight Bd.1"
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