Ein weißes Land
Roman
Von Bagdad nach Berlin: Die Reise eines jungen Arabers durch eine Welt, die ihre Unschuld verliert
Bagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern,...
Bagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern,...
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Produktinformationen zu „Ein weißes Land “
Von Bagdad nach Berlin: Die Reise eines jungen Arabers durch eine Welt, die ihre Unschuld verliert
Bagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern, von fernen Reisen und vielleicht ein bisschen von der Schwester seines jüdischen Freundes. Er träumt davon, ein »Jemand« zu werden. Doch dann gerät er mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter den Einfluss der »Schwarzhemden«, der faschistischen Jugendorganisation im Irak. Ein bitter wahres Märchen nimmt seinen Lauf, ein Abenteuerroman mitten durch die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der junge Araber Anwar wächst im Bagdad der 30er Jahre zwischen allen Stühlen auf. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, aber die Tagelöhner mit ihrer schweren Arbeit sind ihm fremd - genauso fremd wie die verlockenden Paläste der Reichen. Er träumt davon, sein Glück zu machen, und die Cafés mit den unverschleierten Frauen und dem Zigarettenrauch ziehen ihn unwiderstehlich an. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, scheint Anwars Traum von den »schönen Häusern« und von Reisen in ferne Länder in Erfüllung zu gehen. Im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem, eines Bundesgenossen der Nationalsozialisten, kommt er 1941 nach Berlin ...
Mit epischer Wucht entwirft Sherko Fatah ein atemraubendes geschichtliches Panorama. Anwar gerät ins Zentrum der neuen Macht und verliert sich im Labyrinth der Geschichte und im Räderwerk des Krieges. Er wird überleben, aber am Ende steht er vor den Trümmern seines Traumes - und eines halben Jahrhunderts.
Bagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern, von fernen Reisen und vielleicht ein bisschen von der Schwester seines jüdischen Freundes. Er träumt davon, ein »Jemand« zu werden. Doch dann gerät er mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter den Einfluss der »Schwarzhemden«, der faschistischen Jugendorganisation im Irak. Ein bitter wahres Märchen nimmt seinen Lauf, ein Abenteuerroman mitten durch die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der junge Araber Anwar wächst im Bagdad der 30er Jahre zwischen allen Stühlen auf. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, aber die Tagelöhner mit ihrer schweren Arbeit sind ihm fremd - genauso fremd wie die verlockenden Paläste der Reichen. Er träumt davon, sein Glück zu machen, und die Cafés mit den unverschleierten Frauen und dem Zigarettenrauch ziehen ihn unwiderstehlich an. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, scheint Anwars Traum von den »schönen Häusern« und von Reisen in ferne Länder in Erfüllung zu gehen. Im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem, eines Bundesgenossen der Nationalsozialisten, kommt er 1941 nach Berlin ...
Mit epischer Wucht entwirft Sherko Fatah ein atemraubendes geschichtliches Panorama. Anwar gerät ins Zentrum der neuen Macht und verliert sich im Labyrinth der Geschichte und im Räderwerk des Krieges. Er wird überleben, aber am Ende steht er vor den Trümmern seines Traumes - und eines halben Jahrhunderts.
Klappentext zu „Ein weißes Land “
Von Bagdad nach Berlin: Die Reise eines jungen Arabers durch eine Welt, die ihre Unschuld verliertBagdad in den 1930er Jahren. Der junge Araber Anwar versteht nichts von den politischen Wirren seiner Zeit. Er träumt von schönen Häusern, von fernen Reisen und vielleicht ein bisschen von der Schwester seines jüdischen Freundes. Er träumt davon, ein "Jemand" zu werden. Doch dann gerät er mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter den Einfluss der "Schwarzhemden", der faschistischen Jugendorganisation im Irak. Ein bitter wahres Märchen nimmt seinen Lauf, ein Abenteuerroman mitten durch die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der junge Araber Anwar wächst im Bagdad der 30er Jahre zwischen allen Stühlen auf. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, aber die Tagelöhner mit ihrer schweren Arbeit sind ihm fremd - genauso fremd wie die verlockenden Paläste der Reichen. Er träumt davon, sein Glück zu machen, und die Cafés mit den unverschleierten Frauen und dem Zigarettenrauch ziehen ihn unwiderstehlich an. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, scheint Anwars Traum von den "schönen Häusern" und von Reisen in ferne Länder in Erfüllung zu gehen. Im Gefolge des Großmuftis von Jerusalem, eines Bundesgenossen der Nationalsozialisten, kommt er 1941 nach Berlin ...
Mit epischer Wucht entwirft Sherko Fatah ein atemraubendes geschichtliches Panorama. Anwar gerät ins Zentrum der neuen Macht und verliert sich im Labyrinth der Geschichte und im Räderwerk des Krieges. Er wird überleben, aber am Ende steht er vor den Trümmern seines Traumes - und eines halben Jahrhunderts.
Lese-Probe zu „Ein weißes Land “
Ein weißes Land von Sherko Fatah1.
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Ich sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. Aber würdest du mich anschauen, dann wüsstest du es sofort. Wir waren uns einmal so nahe wie zwei eingesperrte, verängstigte Hunde, wir hatten den gleichen Dreck in unseren Mäulern, und in jener fernen, kalten Nacht war unsere Angst eine, wir waren ein furchtsames Tier mit zwei Köpfen. Wir haben den Tod gesehen, wie er leibhaftig über die morastige Erde schritt. Seine schmutzigen Stiefel ließen den feuchten Boden schmatzen. Er war schmal von Gestalt, hatte einen großen Kopf mit hoher Stirn. Er sprach deine Sprache. Du hast ihn sicher nicht vergessen. Niemand kann das. Aber vielleicht willst du ihm nur einfach um keinen Preis je wieder begegnen, und sei es nur in der Erinnerung, im Gesicht eines Überlebenden aus jener Zeit. Ich verstehe dich, ich verstehe dich gut, du wichtiger Mann.
Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.
Ich rutschte auf dem Holzstuhl herum, den mir der Doktor am ersten Tag hingestellt hatte. Wortlos, ohne Gruß oder eine andere Regung erledigte dieser hochgewachsene, drahtig wirkende Mann die Sache selbst. Er ließ mich, den Boten, einfach mitten im Krankensaal stehen und kam nach kurzer Zeit mit dem Stuhl zurück. Nah am Fenster stellte er ihn ab. Als er wieder an mir vorbeiging, wies er nur hinter sich.
Ich sah ihm nach, als er aus dem Saal verschwand. Wir hatten kein Wort gewechselt, obwohl wir einander verstanden hätten. Ich hatte geglaubt, Dr. Stein sei mit den hiesigen Sitten vertraut. Die natürliche Autorität, mit der er sich bewegte und kurze Anweisungen auf Englisch gab, die ruhige Art, in der er seine Hände hob, um wie ein erstarrter Dirigent zu warten, bis jemand vom Personal ihm die Gummihandschuhe von den Händen zog, all das hätte mich nie zweifeln lassen an der Kompetenz des Arztes. Doch dieser Mann verstand nichts. Anstatt mich mit dem Zettel loszuschicken, auf dem Dinge notiert waren, die er brauchte, ging er selbst in den Basar. Ich war erstaunt, als er mit den kleinen Paketen zurückkam, sich mir vorsichtig näherte und die Sachen hinhielt wie Geschenke. Doch ich sollte sie nur verwahren, bis der Doktor am frühen Abend nach Hause ging.
Das war nicht richtig. Es war beleidigend. Ich sah es ihm nach. Schließlich war dieser Mann hier ein Fremder. Er konnte nicht wissen, dass jeder Fremde, noch dazu ein so wichtiger wie er, Anspruch auf jemanden hatte, der seine Einkäufe erledigte, seine Briefe holte oder wegbrachte oder ihn zu Leuten führte, die er besuchen wollte. Er hätte es lernen können, wenn er nur einmal gefragt hätte. Dann aber, dachte ich und wiegte den Kopf, hätte er vielleicht auch mehr erfahren, als ihm lieb war. Er hätte mich erkannt, und alles, was wir gesehen hatten, wäre in diesem Augenblick anwesend gewesen, hätte den Raum zwischen uns erfüllt.
So aber saß ich tagein, tagaus auf meinem Stuhl am Fenster, starrte in den Saal oder auf den Hof des Krankenhauses hinaus und wartete. Jedes Mal, wenn der Doktor erschien, fuhr ich zusammen und richtete mich auf, weil ich erwartete, beansprucht zu werden. Und jedesmal war es eine kleine Enttäuschung, wenn es nicht geschah.
Manchmal an diesen langen Nachmittagen fragte ich mich, ob ich mich nicht doch irrte. Ob ich den Mann, den ich von früher kannte, einfach nur wiedererkennen wollte in diesem Arzt aus Europa. Ich hatte nur mit wenigen Menschen über meine Erlebnisse gesprochen. Als ich zurückkehrte, war meine Fähigkeit zu berichten oder gar zu erzählen erloschen. Wem auch hätte ich davon erzählen sollen, wie eine Welt in Trümmern versank, während hier, in meinem Land, alles beim Alten war. Die vertrauten Gassen und Straßen, die gewohnte Hitze und Langsamkeit, nichts hatte sich verändert. Niemand hätte mir geglaubt, was ich gesehen hatte. Ich wusste es im Moment, da ich den Fuß auf heimatlichen Boden setzte. Obwohl ich die Hitze des Feuers noch auf den Wangen, der Stirn fühlte, sprang mir, als ich endlich wieder in meiner Sprache sprechen konnte, etwas an den Hals, ja, genau so fühlte es sich an. Was immer es war, es würgte mich, wenn ich reden wollte. Doch niemand vermisste meine Worte. Es wären nur Worte des Boten Anwar gewesen, die allem, was gewiss erscheint, nichts hinzufügen konnten, keinen Zweifel, keine wichtigen Informationen, nichts.
Als ich begriff, dass ich in dieser neuen Rolle das Stummsein nicht mehr zu spielen brauchte, sondern mühelos, auch sprechend beibehielt, war ich erleichtert. Noch im Krieg hatte ich geglaubt, ich würde auch deshalb durch die endlose Weite und zerstörten Städte wandern, um jemandem in der Heimat davon berichten zu können. Alles, so dachte ich, sei in mir bereit für diese Begegnung. Dann aber, als es so weit war, sagte ich kaum etwas.
Es ist, als suche man einen Menschen, dem man sein Herz ausschütten kann, warte in Wahrheit aber auf Gott. Was sind ein paar Worte zu einem Satz verknüpft, was können sie sein in den Ohren eines Fremden. Nein, was ich brauchte, war ein Vertrauter. Es musste jemand sein, der nicht nur die Worte verstand, sondern sie auffing und zum Leben erweckte. Jemand, der ein Summen hörte, aber die Musik vernahm. Nur ein solcher hätte es mir möglich gemacht zu reden, und vielleicht habe ich insgeheim erwartet, ihm doch noch zu begegnen. Und da schien er nun vor mir zu stehen.
Manchmal kam der Doktor in den Raum und warf mir einen Blick zu, als hätte er vor, mich nun doch einmal mit einem Auftrag zu betrauen, sei sich aber noch nicht sicher. Immer hob ich leicht den Kopf und wartete. Einmal stand das Fenster hinter mir offen. Der heiße Wind wehte Sand und vertrocknete Grashalme herein. Drei Betten standen im Raum, aber sie waren leer und offen, die weißen Vorhänge zurückgeschoben. Der Wind ließ die Vorhänge erzittern wie den Kittel des Arztes und den Handtuchstapel auf dem Metalltisch neben ihm. Der Wind strich sogar über das Fell einer Katze, die plötzlich aus dem Korridor hereingeschlüpft war, nun verharrte und den Kopf zurückzog, als hätte sie sich im Zimmer geirrt. Im Maul trug sie die Reste einer Nachgeburt aus dem Kreisssaal.
Eine warme Brise ließ mich tief einatmen. Er ist es, dachte ich unvermittelt, kein Wahngebilde könnte mich so täuschen. Er hat schon viele graue Haare und geht schon leicht gebeugt. Sein Gesicht wirkt nicht alt, aber ernst und abweisend. Dennoch ist er es. Und auch er, so glaubte ich plötzlich zu wissen, hat seinen Vertrauten nicht gefunden seit damals. Auch er hat nicht berichtet.
Der Arzt trat auf mich zu, ging umständlich um den Stuhl, reckte sich ächzend und schloss das Fenster. Ich rührte mich nicht, bis er fertig war. Ich hätte ihm geholfen, wenn ich gewusst hätte, was er wollte. So blickte ich der Katze nach, die mit ihrer Beute aus dem Zimmer floh, und wischte mir den Staub von den Schultern, unschlüssig, was ich tun sollte.
Am Abend stand ich auf und streckte mich, als wäre mein Werk vollbracht. Gern hätte ich dem Doktor gesagt, dass ich nun gehen müsse, doch wagte ich nicht, nach ihm zu suchen. Stattdessen schlich ich aus dem Raum in den dunklen Korridor, ging an den fleckigen Wänden entlang bis zum gläsernen Windfang und durch die Eingangstüren auf den weiten Hof hinaus. Das Krankenhaus
war ein Neubau, doch die Mauern waren bereits dunkel geworden und alles, was sie umschlossen, schien uralt zu sein.
Niemand hatte mich gehen sehen. Wahrscheinlich war der Doktor sogar erleichtert, als er spät am Abend den leeren Stuhl sah. Ich schob die Hände in die Taschen meines alten Jacketts und ging den Hügel hinab zur Straße, die in die Stadt führte. Ich fragte mich, ob auch ich erleichtert war, fortzukommen von jenem Mann, den ich wiedererkannt hatte. Ich müsste es sein, dachte ich, müsste ihn fliehen wie die Tiere das Feuer. An einem von vertrocknetem Buschwerk durchsetzten Schutthaufen blieb ich stehen.
Die Nacht war sternenklar. Vor mir verschwand die Straße in einer dunklen Mulde und tauchte erst bei den wenigen noch brennenden Lichtern der Stadt wieder auf, schmal und leer. Er gehört, dachte ich, zu all dem, was ich vergessen wollte.
Ich ging weiter. Wer weiß, dachte ich, vielleicht gehen ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Das jedenfalls weiß ich von ihm: Er würde sich seine Ratlosigkeit unter keinen Umständen anmerken lassen. Das ist der Unterschied zwischen einem klugen Mann und einem einfachen wie mir.
Wie immer schlich ich die dunklen Gassen entlang. Unauffällig zu sein, gehört zu meinem Beruf. Ein Bote ist ein Transportmittel. Was er anbietet ist Verlässlichkeit. Noch wenn ich frei bin und wie jeder andere unterwegs, verhalte ich mich wie ein Bote, ich eile, bin gewissenhaft und doch zurückhaltend. Kümmerliches ist es, worauf ich stolz bin.
Schnellen Schritts hastete ich durch die Dunkelheit. Ich ärgerte mich wieder über die Ignoranz des Doktors, die mich zwang, auf diesem Stuhl im Krankenhaus zu sitzen. Alle, die den Saal betraten, mussten mich, den Boten, anschauen wie eine wichtige Person oder wenigstens einen Kranken, bis sie bemerkten, wer ich wirklich war, um mich sodann geflissentlich zu übersehen.
Aus vereinzelten Häusern fiel Licht auf die Gassen. Ich erreichte den großen Platz mit den Verwaltungsgebäuden, ging ein kurzes Wegstück im Schein von jüngst aufgestellten Laternen und erreichte schließlich die Gasse, in der mein Haus stand. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Gemüsegroßmarkt. Hier kamen die Bauern der Gegend früh am Morgen an und entluden ihre Karren. Jetzt war es beinahe unheimlich still an diesem Ort. Haufen leerer Stoffsäcke lagen in der Dunkelheit wie tote Esel.
Den Platz gab es noch nicht lange. Der immer größer werdende Basar begann mein einst freistehendes Haus zu umschließen. Zunächst waren es nur Händler und Besucher gewesen, die tagsüber die Gasse bevölkerten. Dann aber breiteten die Geschäfte sich aus. Häuser in der Nähe wurden umfunktioniert oder gleich abgerissen, und die immer weiter ausgebaute Wellblechüberdachung verdunkelte die Gassen, an denen sie gestanden hatten. Ich wollte es als gutes Zeichen sehen: Der Krieg in Europa mit all seinen Auswirkungen bis nach Bagdad war längst vorbei, die Lage hatte sich beruhigt und die Menschen trieben regen Handel. In Wahrheit aber strömten immer mehr arme Leute in die Stadt und veränderten sie so schnell, dass ich kaum folgen konnte.
Der Marktplatz war ausgestorben. Ich schlenderte in die winzige Gasse bis zum Eingangstor des Hauses, oder was davon übrig geblieben war. Fliegen setzten sich auf mein Gesicht, was in der Dunkelheit besonders unangenehm war. Dennoch, so dachte ich oft, wenn ich hier vorbeikam, es ist eine gute Idee gewesen, das anfangs weit hingestreckte Gebäude freizugeben für die Betreiber der Karawanserei. Sie hatten Ställe für die Maultiere der Bauern eingerichtet, genau gegenüber der neuen Gartenmauer. Jetzt, in der Nacht, waren keine Tiere dort. Nur der Geruch verriet ihre Anwesenheit vom frühen Morgen bis zum Abend, wenn die Bauern sie dort unterstellten, um ihre Verkäufe zu tätigen.
Ich schloss das schmale, hohe Tor auf, ging durch einen Gang, der vor dem Umbau ein Korridor gewesen war, und trat in den Garten. Geheimnisvoll rauschten die Blätter des Feigenbaums. Ich blieb kurz stehen und atmete tief ein. Erst hier, getrennt von der Außenwelt, bemerkte ich, welch schöne Nacht mich umgab und wie der Wind die Haut, wenn schon nicht kühlte, so doch wenigstens überstrich. Sogar die Fliegen vertrieb er. Ich blickte zum Haus, alle Fenster waren dunkel.
Ich stieg die schmale Außentreppe hinauf und betrat die Wohnung. Und obwohl der Garten und der Feigenbaum mich die Ruhe schon hatten erahnen lassen, war ich doch erst jetzt ganz bei mir. Das war ein Zustand, den ich immerfort herbeisehnte und doch auch fürchtete.
Ich entzündete das Öllicht, trug es hinüber zur gepolsterten Sitzbank, setzte mich und zog die Schuhe aus. Ich war daheim. Alles um mich war still. Die Lampe erhellte den Raum nicht nur, sondern wärmte ihn mit ihrem flackernden Licht. Meine heimliche Geliebte, die Witwe, schlief wahrscheinlich schon seit Stunden. In der Küche hatte sie mir das Essen hingestellt. Ich zog das Tuch vom Topf, griff ein paarmal hinein, aß im Stehen. Danach ging ich in den kleinen Anbau neben der Küche, um mich zu waschen. Die ganze Zeit, während ich mit einer Schale Wasser aus dem großen Bottich schöpfte und über mich goss, freute ich mich darauf, zur Witwe ins Bett zu kriechen.
Die Augenblicke davor steigerten meine Erregung. Manchmal kam ich absichtlich spät nach Hause, um sie genau wie jetzt zu spüren: Erst die Stille und Verlassenheit in meinem Haus, dann die Nähe zu der Frau.
Nass, wie ich war, das Handtuch um mich geschlungen, ging ich noch einmal zum Topf und nahm ein paar Bissen. Es war eine warme Nacht, dennoch spürte ich kühle Luft auf der Haut. Ich blickte in das anheimelnd beleuchtete Zimmer und stellte fest, dass sich in meine Erregung noch etwas anderes mischte. Ich wusste, was es war, doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich war aufgewühlt, etwas Bedeutsames war mir widerfahren, eine Begegnung, der ich nicht gewachsen war. Ich zog das Tuch ganz vom Topf und verschloss ihn mit dem Deckel.
Ich löschte das Licht im Zimmer und schlich durch den dunklen, engen Flur zum Schlafzimmer. Es war genau, wie ich erwartet hatte: Sie schlief fest, als ich mich zu ihr legte, war vom Betttuch so umschlungen, dass es kaum von ihr zu lösen war. Sie erwachte, und je stärker ich am Tuch zupfte, umso nachdrücklicher schlang sie es um sich. Ich schob ihr dunkles Haar auseinander und küsste ihren Nacken. Es gelang mir nur zentimeterweise, die Haut ihres Rückens freizulegen, immer fester zog sie das Tuch. Ich wusste, was sie wollte. Ich kannte ihre aufreizende Prüderie. Noch immer, wie schon in unserer ersten Nacht, verbarg sie sich, wenn ich sie wollte. Inzwischen war es ein Ritual geworden, und die dünne Decke, in die sie sich verkroch, gab mir die Zeit, die ich brauchte. Sie wich nicht vor mir zurück; ihre Fußsohlen streichelten sogar wie beiläufig meine Füße. Aber sie wollte genommen werden. Manchmal wünschte ich mir, es wäre anders, doch es erregte mich. Schließlich zog ich das Tuch von unten herauf, legte sie frei und drang von hinten in sie ein. Sie machte ein Hohlkreuz und stöhnte so leise, als wären ihre Kinder im Raum. Gerade noch hatte ich Zeit, ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sie schnappte nach meiner Hand und lutschte an den Fingerkuppen, dann war es vorbei.
Gern lag ich noch eine Weile bei ihr, bevor ich in meinen Raum ging. Ich starrte schwer atmend zur Decke und spürte wieder die Beklemmung. Als wäre mir jemand gestorben, so dachte ich. Die Witwe drehte sich zu mir und legte die Stirn an meine Schulter.
»Du hast einen neuen Nachbarn«, sagte sie unvermittelt.
Ich brauchte etwas, um aus meinen Gedanken zu finden. »Wen?«, fragte ich.
Sie gähnte. »Es ist dieser Arzt aus Europa, für den du arbeitest.« Sofort war ich hellwach. »Was sagst du?«, fuhr ich sie an.
»Sie haben seine Möbel gebracht, heute. Ich habe es gesehen, vom Dach aus. Er wohnt im Haus neben den Ställen. Nicht besonders fein, aber geräumig.«
Mich hielt es nicht im Bett. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und zu schleichen, als ich barfuß auf den Flur hinaustrat und durch das dunkle Zimmer zur Eingangstür ging. Kurz überlegte ich, ob ich die Schuhe anziehen sollte. Doch nicht einmal dafür reichte meine Geduld.
Ich eilte durch die kühle Nachtluft an der Balustrade entlang zur Holzleiter, die auf das Dach führte. Oben angekommen, bemerkte ich, dass mein Oberkörper nackt war, und unwillkürlich duckte ich mich zusammen. Doch da sah ich schon das große beleuchtete Fenster im Haus auf der anderen Seite der Gasse. Ich erkannte den Doktor, den ich für diesen Tag hinter mir gelassen zu haben glaubte. Dort war er, offenbar vor Kurzem erst zurückgekommen. Es war wieder ein langer Abend im Hospital gewesen. Er stand in der Mitte seines neuen Wohnraumes, die Hände in die Seiten gestützt, und blickte sich um, als suche er etwas.
Ich kauerte auf dem Blechdach nieder und verschränkte die Arme vor dem Körper. Jetzt, so unerwartet wieder allein mit ihm, begriff ich, dass ich diesen Mann nicht loswerden, dass er mich verfolgen würde mit allem, was er mitgebracht hatte.
Irgendwo in den Ställen gegenüber musste ein Maultier übriggeblieben sein, jetzt irrte es offenbar herum und stieß gegen die hölzernen Wände. Ich fühlte den Schweiß auf der Haut und fröstelte. Wie ein indischer Heiliger saß ich da, während der Doktor damit begonnen hatte, Kisten auszuräumen. Er tat es hastig, stellte all die kleinen Dinge, die er aus dem Sägemehl fischte und aus dem Papier wickelte, irgendwo in den Raum, manches sogar auf den Boden.
Jetzt bist du angekommen, dachte ich. Jetzt schaffst du dir ein Heim in der Fremde. Ich löste die Arme von der Brust. Der Anblick des spindeldürren Mannes ließ mich erneut zweifeln. Er war ein älterer Herr und ein Arzt aus Europa, doch das bewies noch nichts. Es sind deine Erinnerungen, die dich täuschen, dachte ich. Nur, weil du so lange keinen Europäer mehr gesehen hast, glaubst du, dass dieser hier etwas mit jener Zeit zu tun hat. Plötzlich fühlte ich mich schwach und niedergeschlagen. Alle Anspannung der letzten Stunden löste sich. Ich stand auf und wandte mich ab. Halbnackt wie der Mann im Fenster gegenüber verharrte ich kurz und stieg dann wieder hinab.
...
© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. Aber würdest du mich anschauen, dann wüsstest du es sofort. Wir waren uns einmal so nahe wie zwei eingesperrte, verängstigte Hunde, wir hatten den gleichen Dreck in unseren Mäulern, und in jener fernen, kalten Nacht war unsere Angst eine, wir waren ein furchtsames Tier mit zwei Köpfen. Wir haben den Tod gesehen, wie er leibhaftig über die morastige Erde schritt. Seine schmutzigen Stiefel ließen den feuchten Boden schmatzen. Er war schmal von Gestalt, hatte einen großen Kopf mit hoher Stirn. Er sprach deine Sprache. Du hast ihn sicher nicht vergessen. Niemand kann das. Aber vielleicht willst du ihm nur einfach um keinen Preis je wieder begegnen, und sei es nur in der Erinnerung, im Gesicht eines Überlebenden aus jener Zeit. Ich verstehe dich, ich verstehe dich gut, du wichtiger Mann.
Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.
Ich rutschte auf dem Holzstuhl herum, den mir der Doktor am ersten Tag hingestellt hatte. Wortlos, ohne Gruß oder eine andere Regung erledigte dieser hochgewachsene, drahtig wirkende Mann die Sache selbst. Er ließ mich, den Boten, einfach mitten im Krankensaal stehen und kam nach kurzer Zeit mit dem Stuhl zurück. Nah am Fenster stellte er ihn ab. Als er wieder an mir vorbeiging, wies er nur hinter sich.
Ich sah ihm nach, als er aus dem Saal verschwand. Wir hatten kein Wort gewechselt, obwohl wir einander verstanden hätten. Ich hatte geglaubt, Dr. Stein sei mit den hiesigen Sitten vertraut. Die natürliche Autorität, mit der er sich bewegte und kurze Anweisungen auf Englisch gab, die ruhige Art, in der er seine Hände hob, um wie ein erstarrter Dirigent zu warten, bis jemand vom Personal ihm die Gummihandschuhe von den Händen zog, all das hätte mich nie zweifeln lassen an der Kompetenz des Arztes. Doch dieser Mann verstand nichts. Anstatt mich mit dem Zettel loszuschicken, auf dem Dinge notiert waren, die er brauchte, ging er selbst in den Basar. Ich war erstaunt, als er mit den kleinen Paketen zurückkam, sich mir vorsichtig näherte und die Sachen hinhielt wie Geschenke. Doch ich sollte sie nur verwahren, bis der Doktor am frühen Abend nach Hause ging.
Das war nicht richtig. Es war beleidigend. Ich sah es ihm nach. Schließlich war dieser Mann hier ein Fremder. Er konnte nicht wissen, dass jeder Fremde, noch dazu ein so wichtiger wie er, Anspruch auf jemanden hatte, der seine Einkäufe erledigte, seine Briefe holte oder wegbrachte oder ihn zu Leuten führte, die er besuchen wollte. Er hätte es lernen können, wenn er nur einmal gefragt hätte. Dann aber, dachte ich und wiegte den Kopf, hätte er vielleicht auch mehr erfahren, als ihm lieb war. Er hätte mich erkannt, und alles, was wir gesehen hatten, wäre in diesem Augenblick anwesend gewesen, hätte den Raum zwischen uns erfüllt.
So aber saß ich tagein, tagaus auf meinem Stuhl am Fenster, starrte in den Saal oder auf den Hof des Krankenhauses hinaus und wartete. Jedes Mal, wenn der Doktor erschien, fuhr ich zusammen und richtete mich auf, weil ich erwartete, beansprucht zu werden. Und jedesmal war es eine kleine Enttäuschung, wenn es nicht geschah.
Manchmal an diesen langen Nachmittagen fragte ich mich, ob ich mich nicht doch irrte. Ob ich den Mann, den ich von früher kannte, einfach nur wiedererkennen wollte in diesem Arzt aus Europa. Ich hatte nur mit wenigen Menschen über meine Erlebnisse gesprochen. Als ich zurückkehrte, war meine Fähigkeit zu berichten oder gar zu erzählen erloschen. Wem auch hätte ich davon erzählen sollen, wie eine Welt in Trümmern versank, während hier, in meinem Land, alles beim Alten war. Die vertrauten Gassen und Straßen, die gewohnte Hitze und Langsamkeit, nichts hatte sich verändert. Niemand hätte mir geglaubt, was ich gesehen hatte. Ich wusste es im Moment, da ich den Fuß auf heimatlichen Boden setzte. Obwohl ich die Hitze des Feuers noch auf den Wangen, der Stirn fühlte, sprang mir, als ich endlich wieder in meiner Sprache sprechen konnte, etwas an den Hals, ja, genau so fühlte es sich an. Was immer es war, es würgte mich, wenn ich reden wollte. Doch niemand vermisste meine Worte. Es wären nur Worte des Boten Anwar gewesen, die allem, was gewiss erscheint, nichts hinzufügen konnten, keinen Zweifel, keine wichtigen Informationen, nichts.
Als ich begriff, dass ich in dieser neuen Rolle das Stummsein nicht mehr zu spielen brauchte, sondern mühelos, auch sprechend beibehielt, war ich erleichtert. Noch im Krieg hatte ich geglaubt, ich würde auch deshalb durch die endlose Weite und zerstörten Städte wandern, um jemandem in der Heimat davon berichten zu können. Alles, so dachte ich, sei in mir bereit für diese Begegnung. Dann aber, als es so weit war, sagte ich kaum etwas.
Es ist, als suche man einen Menschen, dem man sein Herz ausschütten kann, warte in Wahrheit aber auf Gott. Was sind ein paar Worte zu einem Satz verknüpft, was können sie sein in den Ohren eines Fremden. Nein, was ich brauchte, war ein Vertrauter. Es musste jemand sein, der nicht nur die Worte verstand, sondern sie auffing und zum Leben erweckte. Jemand, der ein Summen hörte, aber die Musik vernahm. Nur ein solcher hätte es mir möglich gemacht zu reden, und vielleicht habe ich insgeheim erwartet, ihm doch noch zu begegnen. Und da schien er nun vor mir zu stehen.
Manchmal kam der Doktor in den Raum und warf mir einen Blick zu, als hätte er vor, mich nun doch einmal mit einem Auftrag zu betrauen, sei sich aber noch nicht sicher. Immer hob ich leicht den Kopf und wartete. Einmal stand das Fenster hinter mir offen. Der heiße Wind wehte Sand und vertrocknete Grashalme herein. Drei Betten standen im Raum, aber sie waren leer und offen, die weißen Vorhänge zurückgeschoben. Der Wind ließ die Vorhänge erzittern wie den Kittel des Arztes und den Handtuchstapel auf dem Metalltisch neben ihm. Der Wind strich sogar über das Fell einer Katze, die plötzlich aus dem Korridor hereingeschlüpft war, nun verharrte und den Kopf zurückzog, als hätte sie sich im Zimmer geirrt. Im Maul trug sie die Reste einer Nachgeburt aus dem Kreisssaal.
Eine warme Brise ließ mich tief einatmen. Er ist es, dachte ich unvermittelt, kein Wahngebilde könnte mich so täuschen. Er hat schon viele graue Haare und geht schon leicht gebeugt. Sein Gesicht wirkt nicht alt, aber ernst und abweisend. Dennoch ist er es. Und auch er, so glaubte ich plötzlich zu wissen, hat seinen Vertrauten nicht gefunden seit damals. Auch er hat nicht berichtet.
Der Arzt trat auf mich zu, ging umständlich um den Stuhl, reckte sich ächzend und schloss das Fenster. Ich rührte mich nicht, bis er fertig war. Ich hätte ihm geholfen, wenn ich gewusst hätte, was er wollte. So blickte ich der Katze nach, die mit ihrer Beute aus dem Zimmer floh, und wischte mir den Staub von den Schultern, unschlüssig, was ich tun sollte.
Am Abend stand ich auf und streckte mich, als wäre mein Werk vollbracht. Gern hätte ich dem Doktor gesagt, dass ich nun gehen müsse, doch wagte ich nicht, nach ihm zu suchen. Stattdessen schlich ich aus dem Raum in den dunklen Korridor, ging an den fleckigen Wänden entlang bis zum gläsernen Windfang und durch die Eingangstüren auf den weiten Hof hinaus. Das Krankenhaus
war ein Neubau, doch die Mauern waren bereits dunkel geworden und alles, was sie umschlossen, schien uralt zu sein.
Niemand hatte mich gehen sehen. Wahrscheinlich war der Doktor sogar erleichtert, als er spät am Abend den leeren Stuhl sah. Ich schob die Hände in die Taschen meines alten Jacketts und ging den Hügel hinab zur Straße, die in die Stadt führte. Ich fragte mich, ob auch ich erleichtert war, fortzukommen von jenem Mann, den ich wiedererkannt hatte. Ich müsste es sein, dachte ich, müsste ihn fliehen wie die Tiere das Feuer. An einem von vertrocknetem Buschwerk durchsetzten Schutthaufen blieb ich stehen.
Die Nacht war sternenklar. Vor mir verschwand die Straße in einer dunklen Mulde und tauchte erst bei den wenigen noch brennenden Lichtern der Stadt wieder auf, schmal und leer. Er gehört, dachte ich, zu all dem, was ich vergessen wollte.
Ich ging weiter. Wer weiß, dachte ich, vielleicht gehen ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Das jedenfalls weiß ich von ihm: Er würde sich seine Ratlosigkeit unter keinen Umständen anmerken lassen. Das ist der Unterschied zwischen einem klugen Mann und einem einfachen wie mir.
Wie immer schlich ich die dunklen Gassen entlang. Unauffällig zu sein, gehört zu meinem Beruf. Ein Bote ist ein Transportmittel. Was er anbietet ist Verlässlichkeit. Noch wenn ich frei bin und wie jeder andere unterwegs, verhalte ich mich wie ein Bote, ich eile, bin gewissenhaft und doch zurückhaltend. Kümmerliches ist es, worauf ich stolz bin.
Schnellen Schritts hastete ich durch die Dunkelheit. Ich ärgerte mich wieder über die Ignoranz des Doktors, die mich zwang, auf diesem Stuhl im Krankenhaus zu sitzen. Alle, die den Saal betraten, mussten mich, den Boten, anschauen wie eine wichtige Person oder wenigstens einen Kranken, bis sie bemerkten, wer ich wirklich war, um mich sodann geflissentlich zu übersehen.
Aus vereinzelten Häusern fiel Licht auf die Gassen. Ich erreichte den großen Platz mit den Verwaltungsgebäuden, ging ein kurzes Wegstück im Schein von jüngst aufgestellten Laternen und erreichte schließlich die Gasse, in der mein Haus stand. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Gemüsegroßmarkt. Hier kamen die Bauern der Gegend früh am Morgen an und entluden ihre Karren. Jetzt war es beinahe unheimlich still an diesem Ort. Haufen leerer Stoffsäcke lagen in der Dunkelheit wie tote Esel.
Den Platz gab es noch nicht lange. Der immer größer werdende Basar begann mein einst freistehendes Haus zu umschließen. Zunächst waren es nur Händler und Besucher gewesen, die tagsüber die Gasse bevölkerten. Dann aber breiteten die Geschäfte sich aus. Häuser in der Nähe wurden umfunktioniert oder gleich abgerissen, und die immer weiter ausgebaute Wellblechüberdachung verdunkelte die Gassen, an denen sie gestanden hatten. Ich wollte es als gutes Zeichen sehen: Der Krieg in Europa mit all seinen Auswirkungen bis nach Bagdad war längst vorbei, die Lage hatte sich beruhigt und die Menschen trieben regen Handel. In Wahrheit aber strömten immer mehr arme Leute in die Stadt und veränderten sie so schnell, dass ich kaum folgen konnte.
Der Marktplatz war ausgestorben. Ich schlenderte in die winzige Gasse bis zum Eingangstor des Hauses, oder was davon übrig geblieben war. Fliegen setzten sich auf mein Gesicht, was in der Dunkelheit besonders unangenehm war. Dennoch, so dachte ich oft, wenn ich hier vorbeikam, es ist eine gute Idee gewesen, das anfangs weit hingestreckte Gebäude freizugeben für die Betreiber der Karawanserei. Sie hatten Ställe für die Maultiere der Bauern eingerichtet, genau gegenüber der neuen Gartenmauer. Jetzt, in der Nacht, waren keine Tiere dort. Nur der Geruch verriet ihre Anwesenheit vom frühen Morgen bis zum Abend, wenn die Bauern sie dort unterstellten, um ihre Verkäufe zu tätigen.
Ich schloss das schmale, hohe Tor auf, ging durch einen Gang, der vor dem Umbau ein Korridor gewesen war, und trat in den Garten. Geheimnisvoll rauschten die Blätter des Feigenbaums. Ich blieb kurz stehen und atmete tief ein. Erst hier, getrennt von der Außenwelt, bemerkte ich, welch schöne Nacht mich umgab und wie der Wind die Haut, wenn schon nicht kühlte, so doch wenigstens überstrich. Sogar die Fliegen vertrieb er. Ich blickte zum Haus, alle Fenster waren dunkel.
Ich stieg die schmale Außentreppe hinauf und betrat die Wohnung. Und obwohl der Garten und der Feigenbaum mich die Ruhe schon hatten erahnen lassen, war ich doch erst jetzt ganz bei mir. Das war ein Zustand, den ich immerfort herbeisehnte und doch auch fürchtete.
Ich entzündete das Öllicht, trug es hinüber zur gepolsterten Sitzbank, setzte mich und zog die Schuhe aus. Ich war daheim. Alles um mich war still. Die Lampe erhellte den Raum nicht nur, sondern wärmte ihn mit ihrem flackernden Licht. Meine heimliche Geliebte, die Witwe, schlief wahrscheinlich schon seit Stunden. In der Küche hatte sie mir das Essen hingestellt. Ich zog das Tuch vom Topf, griff ein paarmal hinein, aß im Stehen. Danach ging ich in den kleinen Anbau neben der Küche, um mich zu waschen. Die ganze Zeit, während ich mit einer Schale Wasser aus dem großen Bottich schöpfte und über mich goss, freute ich mich darauf, zur Witwe ins Bett zu kriechen.
Die Augenblicke davor steigerten meine Erregung. Manchmal kam ich absichtlich spät nach Hause, um sie genau wie jetzt zu spüren: Erst die Stille und Verlassenheit in meinem Haus, dann die Nähe zu der Frau.
Nass, wie ich war, das Handtuch um mich geschlungen, ging ich noch einmal zum Topf und nahm ein paar Bissen. Es war eine warme Nacht, dennoch spürte ich kühle Luft auf der Haut. Ich blickte in das anheimelnd beleuchtete Zimmer und stellte fest, dass sich in meine Erregung noch etwas anderes mischte. Ich wusste, was es war, doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich war aufgewühlt, etwas Bedeutsames war mir widerfahren, eine Begegnung, der ich nicht gewachsen war. Ich zog das Tuch ganz vom Topf und verschloss ihn mit dem Deckel.
Ich löschte das Licht im Zimmer und schlich durch den dunklen, engen Flur zum Schlafzimmer. Es war genau, wie ich erwartet hatte: Sie schlief fest, als ich mich zu ihr legte, war vom Betttuch so umschlungen, dass es kaum von ihr zu lösen war. Sie erwachte, und je stärker ich am Tuch zupfte, umso nachdrücklicher schlang sie es um sich. Ich schob ihr dunkles Haar auseinander und küsste ihren Nacken. Es gelang mir nur zentimeterweise, die Haut ihres Rückens freizulegen, immer fester zog sie das Tuch. Ich wusste, was sie wollte. Ich kannte ihre aufreizende Prüderie. Noch immer, wie schon in unserer ersten Nacht, verbarg sie sich, wenn ich sie wollte. Inzwischen war es ein Ritual geworden, und die dünne Decke, in die sie sich verkroch, gab mir die Zeit, die ich brauchte. Sie wich nicht vor mir zurück; ihre Fußsohlen streichelten sogar wie beiläufig meine Füße. Aber sie wollte genommen werden. Manchmal wünschte ich mir, es wäre anders, doch es erregte mich. Schließlich zog ich das Tuch von unten herauf, legte sie frei und drang von hinten in sie ein. Sie machte ein Hohlkreuz und stöhnte so leise, als wären ihre Kinder im Raum. Gerade noch hatte ich Zeit, ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sie schnappte nach meiner Hand und lutschte an den Fingerkuppen, dann war es vorbei.
Gern lag ich noch eine Weile bei ihr, bevor ich in meinen Raum ging. Ich starrte schwer atmend zur Decke und spürte wieder die Beklemmung. Als wäre mir jemand gestorben, so dachte ich. Die Witwe drehte sich zu mir und legte die Stirn an meine Schulter.
»Du hast einen neuen Nachbarn«, sagte sie unvermittelt.
Ich brauchte etwas, um aus meinen Gedanken zu finden. »Wen?«, fragte ich.
Sie gähnte. »Es ist dieser Arzt aus Europa, für den du arbeitest.« Sofort war ich hellwach. »Was sagst du?«, fuhr ich sie an.
»Sie haben seine Möbel gebracht, heute. Ich habe es gesehen, vom Dach aus. Er wohnt im Haus neben den Ställen. Nicht besonders fein, aber geräumig.«
Mich hielt es nicht im Bett. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und zu schleichen, als ich barfuß auf den Flur hinaustrat und durch das dunkle Zimmer zur Eingangstür ging. Kurz überlegte ich, ob ich die Schuhe anziehen sollte. Doch nicht einmal dafür reichte meine Geduld.
Ich eilte durch die kühle Nachtluft an der Balustrade entlang zur Holzleiter, die auf das Dach führte. Oben angekommen, bemerkte ich, dass mein Oberkörper nackt war, und unwillkürlich duckte ich mich zusammen. Doch da sah ich schon das große beleuchtete Fenster im Haus auf der anderen Seite der Gasse. Ich erkannte den Doktor, den ich für diesen Tag hinter mir gelassen zu haben glaubte. Dort war er, offenbar vor Kurzem erst zurückgekommen. Es war wieder ein langer Abend im Hospital gewesen. Er stand in der Mitte seines neuen Wohnraumes, die Hände in die Seiten gestützt, und blickte sich um, als suche er etwas.
Ich kauerte auf dem Blechdach nieder und verschränkte die Arme vor dem Körper. Jetzt, so unerwartet wieder allein mit ihm, begriff ich, dass ich diesen Mann nicht loswerden, dass er mich verfolgen würde mit allem, was er mitgebracht hatte.
Irgendwo in den Ställen gegenüber musste ein Maultier übriggeblieben sein, jetzt irrte es offenbar herum und stieß gegen die hölzernen Wände. Ich fühlte den Schweiß auf der Haut und fröstelte. Wie ein indischer Heiliger saß ich da, während der Doktor damit begonnen hatte, Kisten auszuräumen. Er tat es hastig, stellte all die kleinen Dinge, die er aus dem Sägemehl fischte und aus dem Papier wickelte, irgendwo in den Raum, manches sogar auf den Boden.
Jetzt bist du angekommen, dachte ich. Jetzt schaffst du dir ein Heim in der Fremde. Ich löste die Arme von der Brust. Der Anblick des spindeldürren Mannes ließ mich erneut zweifeln. Er war ein älterer Herr und ein Arzt aus Europa, doch das bewies noch nichts. Es sind deine Erinnerungen, die dich täuschen, dachte ich. Nur, weil du so lange keinen Europäer mehr gesehen hast, glaubst du, dass dieser hier etwas mit jener Zeit zu tun hat. Plötzlich fühlte ich mich schwach und niedergeschlagen. Alle Anspannung der letzten Stunden löste sich. Ich stand auf und wandte mich ab. Halbnackt wie der Mann im Fenster gegenüber verharrte ich kurz und stieg dann wieder hinab.
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© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Sherko Fatah
Sherko Fatah, geboren 1964 in Berlin, aufgewachsen in der DDR, 1975 Übersiedlung nach West-Deutschland. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. Auszeichnungen: 2001 mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Deutschen Kritikerpreis sowie 2015 mit dem Großen Kunstpreis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sherko Fatah
- 2011, 477 Seiten, Maße: 14,8 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630873715
- ISBN-13: 9783630873718
Rezension zu „Ein weißes Land “
"Spannend und anschaulich."
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