Forellen-Quintett
Sp tsommer in Katowitz. Ein Mann irrt durch die Stra en, eine grell bedruckte Plastikt te in der Hand, im leeren Beichtstuhl einer katholischen Kirche gelingt es ihm schlie lich, sie zu entsorgen. Am gleichen Vormittag begibt sich in Ulm Kriminalkommissarin Tamar Wegenast ins B ro. Auch sie ist in einer angespannten Verfassung. Seit Wochen wird sie mit Anrufen und Drohbriefen bel stigt, als dessen Verfasser ein Kai Habrecht firmiert. Aber der ist tot, sie selbst hat ihn vor Jahren erschossen. Abends erreicht sie der Hilferuf einer in Krakau lebenden Freundin, einer Malerin, in deren Wohnung die enthauptete Leiche einer Frau gefunden wurde - den Kopf findet man sp ter in einem Beichtstuhl in Katowitz ... Die Spur f hrt nach Berlin, wo ein Mann ohne Ged chtnis rzte und Pressevertreter narrt, was ein lteres Ehepaar vom Bodensee nicht davon abh lt, ihn als ihren seit Jahrzehnten verschollenen Sohn Bastian zu identifizieren, der einst im Alter von dreizehn Jahren spurlos verschwand. Tamar Wegenast glaubt nicht an die gl ckliche R ckkehr des verlorenen Sohnes. Sie ist sich sicher, dass der Mann etwas mit dem Mord in Krakau zu tun hat. Doch als sie die Ermittlungen im Vermisstenfall von damals wieder aufnimmt, bringt sie sich selbst in t dliche Gefahr ...
2001 bekam Ulrich Ritzel den Deutschen Krimipreis verliehen.
"Seine Romane sprengen das Genre. Ihm gelingt es mit leisem Humor, bundesdeutsche Themen unnachahmlich zu intelligenter Unterhaltung zu verweben." Christian von Zittwitz, Focus
"Kein Zweifel: Von diesem Autor m chte man mehr lesen!" Die Zeit
"Einer der besten deutschen Krimi-Autoren." stern
Forellenquintett von Ulrich Ritzel
LESEPROBE
Dienstag,27. September
Aus dem Schatten,den die Morgensonne in die Häuserschluchten warf, rollte eine blaue Tramwaj, ruckte über eine Weiche und nahm wieder Fahrt auf.Dem Mann, der mit einer Plastiktüte in der einen Hand stehen geblieben war undmit der anderen die Augen abschirmte, kam es so vor, als liefen die Waggons aufungewöhnlich kleinen Rädern, wie Raupenfahrzeuge, die enge Kurven und steileRampen überwinden müssen. Die Haltestelle war nur fünfzig Meter entfernt. Wenn ersich beeilte, würde er sie noch rechtzeitig erreichen und mitfahren können,vielleicht bis zur Endstation, irgendwo da draußen zwischen Abraumhalden undSchrottplätzen müsste eine geeignete Stelle zu finden sein.
Aber erwollte nicht rennen. Nicht mit der Plastiktüte und dem Ding darin, das ihmgegen die Beine schlagen würde. Außer dem hatte er kein Bilet.Soviel er wusste, hätte er sich vorher eins in einem Tabak- oder Zeitungsladenkaufen müssen. Die Straßenbahn hielt, ein paar Leute stiegen aus, darunter zweiFrauen, die nun auf ihn zukamen, mit kleinen energischen Schritten, und als siean ihm vorbei waren, folgte ihnen der Mann, weil es offenkundig einenvernünftigen und unverdächtigen Grund gab, diese Richtung zu nehmen.
In derNacht hatte es geregnet, und noch immer roch es, als sei ein Teil des Staubsund der Abgase aus der Luft herausgewaschen. Zumindestschienen die Bewohner der Stadt es so zu empfinden, denn sie hatten ihrealtersschwarzen Wohnblocks verlassen, überall sah er Leute, alte und junge,gebrechliche, gleichgültige oder solche, deren Gesicht Misstrauen verbergen mochte.
Es istlächerlich, dachte der Mann, dem die Plastikträger in die Hand schnitten, aberseit dem Frühstück war er unterwegs und hatte nirgendwo einen Platz gefunden,an dem er es gewagt hätte, die Tüte abzustellen. Dabei war es eine Tüte wiehunderttausend andere auch, von einer Hamburger-Kette ausgegeben, derengelbroter Schriftzug deutlich zu sehen war, ziemlich genau an der Stelle, ander sich die Plastikfolie über einer Wölbung spannte. Vor einer halben Stundenoch hatte er sich damit getröstet, wie komisch es sein würde, wenn er vonseiner Irrfahrt erzählen könnte, seiner Odyssee durch die staubigen, vonSchlaglöchern übersäten Straßen der Stadt, auf der Suche nach einer Ruine, vondenen es doch genug geben musste, oder auch nur nach einem abseits gelegenenMüllbehälter, und wie er sich dabei immer genauer, immer hartnäckigerbeobachtet fühlte, bis er schließlich begriff, dass es nicht allein dieMenschen auf der Straße waren, denen er sich ausgeliefert fühlte.
WirklicheGefahr droht von dem, den man nicht sieht, der vielleicht nur aus einem Fensterspäht, hinter einem Vorhang verborgen. Es gab unzählige Fenster in dieserStadt, mit Gardinen oder bunten Vorhanglappen drapiert und dicht an dicht in diestaubgrauen Mauern gestanzt, als bohrten sich hunderttausend Augen in seinenNacken, aber wer glaubt einem das?
Die beidenFrauen vor ihm bogen nach links ab, die ältere der beiden trug einen mausgrauenMantel mit einem mausgrauen Pelzkrägelchen und gingetwas schneller als die andere, die jünger war und schwerfälliger, die breitenHüften in Jeans gezwängt. Der Mann blieb etwas zurück. Vor einem Motorradladenmit schweren japanischen Maschinen waren zwei Tische und die Plastikstühle dazuauf das Trottoir gestellt, an einem der Tische saßen zwei Burschen inLederjacken und räkelten ihre Beine über den Gehsteig, die Bierdosen vor sich,und musterten ihn, fast belustigt, als sei etwas komisch daran, wie er hinterden Frauen herlief und ihm die rot und gelb bedruckte Plastiktüte neben den Knienbaumelte. Aus dem Laden dröhnte ein Lautsprecher, fast gerührt erkannte derMann den alten Seelenfeger »Bobby McGee«, und es war wirklich und wahrhaftigdie Stimme von Janis Joplin, wie schön, dass es eben auch Lieder mit Wortengab, wenn man sie nur singen konnte. Für einen Augenblick überlegte er, stehenzu bleiben und den Biertrinkern zuzunicken, wie jemand, der gerade genug Zeithat, sich an einem guten alten Lied zu erfreuen, aber im gleichen Atemzugverscheuchte er den Gedanken wieder, dies war kein Morgen für den Austausch vonSentimentalitäten, schon gar nicht mit Leuten, die die Zeit und das Geld übrighatten, sich vormittags vor einer Kneipe herumzudrücken.
Nicht mitmir, dachte der Mann und ging weiter, zügig tat er das, aber nicht so schnell,dass es irgendjemandem hätte auffallen können, dann bog auch er ab, hinter sichhörte er die beiden Biertrinker auflachen, er geriet in eine Seitenstraße, an derenEnde eine rußgeschwärzte, geduckte Kirche stand, mit einem kümmerlichenneogotischen Aufsatz, der gerne so getan hätte, als sei er ein himmelhochragender Turm.
Du bistBetschwestern nachgelaufen, dachte der Mann, das hättest du eigentlich etwasfrüher merken können, in diesem Land musst du mit so etwas rechnen. Fast zuspät bemerkte er, dass ihm ein Passant mit einem Hund entgegenkam, der Hund trugeinen Maulkorb, aber trotzdem wechselte er rasch über die Fahrbahn auf dieandere Straßenseite. Hunde hatte er noch nie leiden können und das Geschnüffelschon gar nicht, was hast du da, was riecht da so? Die Fahrbahn war an manchenStellen mit grobem Klinker gepflastert, und an anderen war sie asphaltiert, essah aus, als sei die Straße niemals neu gewesen, sondern immer nur ausgebessertworden.
Er sah sichum und nahm die Plastiktüte in die andere Hand. Der Mann mit dem Hund war umdie Ecke gebogen. Niemand schien ihn zu beachten. Die beiden Frauen hatten dasKirchenportal erreicht und verschwanden darin, zuerst die eine im Mäntelchen hineingehuscht,dann die andere nachgewalzt. Das Fragment eines Bibelspruchs tauchte aus seinerErinnerung auf, wie von einem Suchscheinwerfer erfasst, irgendetwas vonMühseligen und Beladenen, das Fragment verschwand wieder und machte einemGedanken Platz.
An Rabattenund vom Regen grün gewaschenen Hecken vor- bei kam er zum Portal, stieß dieKirchentür auf und schob einen erstickend muffigen Vorhang zur Seite.
Die Frau,die die Tür des Appartementhauses aufgezogen hatte und nun auf der Schwellestehen blieb, war groß und schlank und hatte langes, dunkles, von einereinzelnen grauen Strähne durchzogenes Haar. Ihre rechte Hand steckte in derTasche eines ausgebeulten grauen Jacketts mit Fischgrätmuster, mit der linkenHand hielt sie die Tür geöffnet, während sie sich draußen umsah. In einigen,wenigen Briefkästen steckten Zeitungen, Post war noch nicht gekommen, aber dasging sie nichts an, denn sie hatte schon vor Wochen ihren Briefkasten zugeklebtund das Namensschild entfernt.
Auf denüberdachten Vorplatz neben den Briefkästen hatte der Wind ein paar Blättergeweht. Sonst lag da nichts, nicht an diesem Morgen. Schließlich hatte die Fraugenug gesehen, sie ging an der hoch gemauerten Gartenböschung vorbei zurStraße. Wieder blieb sie stehen. Die meisten Wagen, die entlang der Straßegeparkt waren, kannte sie. Auch die anderen waren nicht auffällig, keineNummernschilder mit der Zahl 88, aber was hieß das schon!
Der Morgenversprach einen schönen Spätsommertag, wenn sich der Nebel über der Stadt erstaufgelöst haben würde. An der Bushaltestelle wartete ein einzelner Mann,rauchend, unförmig dick, und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Bus,der von der Universität kam und zum Hauptbahnhof fuhr, war pünktlich und fastleer. Der Dicke nahm einen letzten Zug aus der Zigarette, ehe er sie wegwarfund schnaufend das Trittbrett erklomm.
Die Frauwartete, bis er seinen Körper vollends in den Fahrgastraum gewälzt hatte, undfolgte ihm dann. Im Bus saßen ein paar Frauen und zwei oder drei Rentner. Siesetzte sich nicht, sondern blieb an der Ausstiegstür stehen.
Nach zweiStationen, am Theater, verließ sie den Bus, überquerte die Kreuzung und nahmden Weg durch die Gassen in Richtung Münster, dessen Umrisse allmählich aus demNebel hervortraten. Das sah sie freilich erst, als sie durch eine Passage aufden Münsterplatz selbst gelangte. Dort hielt sie sich rechts und kam so zumEingangstor eines massigen rotbraunen Ziegelbaus, der in der Stadt nur der NeueBau hieß. Das Tor führte auf einen mit Einsatz- und Zivilfahrzeugen der Polizeivoll gestellten Innenhof.
Die Fraubetrat den Haupteingang und nickte den beiden uniformierten Beamten zu, diehinter dem mit einer Glasscheibe abgetrennten Tresen saßen, dann stieg sie mitraschen Schritten die Treppe hoch, die zu den Räumen der Kriminalpolizeiführte. Wie jeden Morgen schaute sie zuerst bei der Post- und Fernschreibstellevorbei und wünschte einen guten Tag. Schaufler, der Beamte, der dort Diensttat, war seit einem Unfall gehbehindert. Trotzdem stemmte er sich hoch und humpelteihr entgegen, einen Umschlag im DIN-A4-Format in der Hand. »Ich glaube, diehaben sich wieder gemeldet.« Die Frau nahm denUmschlag entgegen, ohne erkennbares Widerstreben. Der Umschlag war dünn undfühlte sich an, als sei nur ein einziges Blatt darin. Die Adresse: An dieKriminalkommissarin Tamar Wegenast,Neuer Bau, Ulm/Donau
sah aus,als sei sie mit einem Computer geschrieben worden. »Ja«, sagte Tamar, »sieht wohl so aus.« Schauflerhatte sie beobachtet, nun blickte er weg. »Es ist die schiere Ohnmacht«, sagteer. »Sonst können die nichts.« »Wer weiß das schon«,antwortete sie und ging in ihr Büro. Es war leer, denn ihr Kollege Markus Kuttler feierte Überstunden ab. Für einen oder zweiAugenblicke hielt sie den Umschlag in der Hand, als überlege sie, ob sie ihnnicht einfach in den Papierkorb werfen solle. An ihrem Telefon blinkte derAnrufbeantworter, aber es war nur eine Nachricht aufgezeichnet: Staatsanwalt Desarts bat um Rückruf. Sie setzte sich, legte den Umschlagab und wählte, fast sofort meldete sich Desarts. Essei schön, dass sie so schnell zurückgerufen habe, sagte er, aber es sei nichteilig gewesen. »Eine Information wegen der Sache Berisha, nichts weiter.« Azlan Berisha war vom Landgericht wegen Zuhälterei und Menschenhandelzu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. »Sein Anwalt hat mir gerademitgeteilt, dass Berisha auf Rechtsmittel verzichtet.«
»Und wasist mit Ihnen?«, fragte die Kommissarin zurück. »Wirkönnen mit dem Urteil leben«, kam die Antwort. »Für ein paar Monate mehr gehenwir nicht in Revision. Das wäre auch kaum im Interesse dieser Kwiatkowski oder wie sie heißt « TamarWegenast verzog das Gesicht. Sie hätte zu demStrafmaß einiges zu sagen gehabt. Aber Desarts hatteRecht. Wenn das Urteil erst einmal rechtskräftig war, würde auch für die Hauptbelastungszeugindas Leben etwas einfacher. Vielleicht würde es das.
»Sie istdoch jetzt wieder in ihrer Heimat?« »Jedenfalls istsie wieder in Polen«, antwortete die Kommissarin. »Sie hat in Krakau fürs Ersteeine Unterkunft und einen Aushilfsjob gefunden.« »Schön«,meinte Desarts. »Damit hätten wir doch alles wieder insLot gebracht.« »Sind wir nicht alle Pfadfinder?«, sagte Tamar, verabschiedete sichund legte auf. Der Umschlag lag noch immer auf ihrem Schreibtisch.
© btb Verlag
- Autor: Ulrich Ritzel
- 2007, 2, 383 Seiten, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000016238
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