Frauen und Töchter
Eine alltägliche Geschichte. Roman
In England beliebt und kanonisiert, hierzulande noch ein Geheimtipp: die Autorin Elizabeth Gaskell
Gesellschaftliche Erwartungen und Verpflichtungen, Klassenunterschiede und Standesdünkel: Elizabeth Gaskell beschreibt das englische Landleben mit einem...
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Produktinformationen zu „Frauen und Töchter “
Klappentext zu „Frauen und Töchter “
In England beliebt und kanonisiert, hierzulande noch ein Geheimtipp: die Autorin Elizabeth GaskellGesellschaftliche Erwartungen und Verpflichtungen, Klassenunterschiede und Standesdünkel: Elizabeth Gaskell beschreibt das englische Landleben mit einem ausgeprägten Sinn für die kleinen Dramen des Alltags. Das Lieben, Verloben und Heiraten im Bannkreis sozialer Normen nimmt sie mit feiner Ironie in den Blick und steht der großen Jane Austen dabei in nichts nach. So zeichnet sie mit 'Frauen und Töchter' ein lebendiges Sittenbild des 19. Jahrhunderts, das als ihr bestes Werk gilt.
Mit einem ausführlichen Nachwort.
Mit Daten zu Leben und Werk.
Lese-Probe zu „Frauen und Töchter “
Frauen und Töchter von Elizabeth GaskellKapitel 1
Ein Festtag bricht an
Fangen wir an mit der alten Formel aus Kindertagen: Es war einmal ein Land, und in dem Land war eine Grafschaft, und in der Grafschaft war eine Stadt, und in der Stadt war ein Haus, und in dem Haus war ein Zimmer, und in dem Zimmer stand ein Bett, und in diesem Bett lag hellwach ein kleines Mädchen. Es wäre gar zu gern aufgestanden, traute sich aber nicht, denn es fürchtete sich vor der unsichtbaren Macht im angrenzenden Zimmer, einer gewissen Betty, deren Schlummer nicht gestört werden durfte, ehe es nicht sechs Uhr schlug, wo sie »zuverlässig wie ein Uhrwerk« von selbst aufwachte und von da an bald allen Frieden aus dem Haus vertrieb. Es war ein Junimorgen, und trotz der frühen Stunde strömten Sonnenwärme und Licht ins Zimmer.
Gegenüber dem kleinen, mit weißem Streifendamast bezogenen Bett, in dem Molly Gibson lag, stand auf einer Kommode ein einfacher Hutständer mit einer Haube, die vorsorglich gegen jeglichen Staub mit einem großen Baumwolltuch aus so schwerem und solidem Gewebe verhüllt war, daß es das Ding darunter, wenn es ein zartes Gespinst aus Gaze, Spitze und Blumen gewesen wäre, völlig »zerknuddelt« hätte, um noch einmal aus Bettys Wortschatz zu zitieren. Aber die Haube war aus haltbarem Stroh geflochten und wies als einzigen Besatz rund um die Krone eine schlichte weiße Borte auf, die sich zu Hutbändern verlängerte. Allerdings gab es innen noch eine hübsche kleine Krause, von der Molly jede einzelne Falte kannte. Hatte sie sie nicht am Abend zuvor mit unendlicher Mühe selbst gefältelt? Und befand sich nicht in dieser Krause ein kleiner blauer Fach- bogen, das allererste Stückchen Putz, das Molly zu tragen die Aussicht hatte?
... mehr
Jetzt ist's sechs Uhr! So sprach der freundliche, frische Glokkenschlag der Kirchturmuhr und hieß wie seit Hunderten von Jahren die Menschen an ihr Tagwerk gehen. Molly sprang auf, rannte mit bloßen Füßen durchs Zimmer, lüpfte das Tuch und besah sich noch einmal die Haube, das Unterpfand für den fröhlichen, strahlenden Tag, der vor ihr lag. Dann zum Fenster, wo sie nach einigem Zerren die Flügel öffnete und die köstliche Morgenluft hereinließ. Von den Blumen im Garten unten war der Tau schon verschwunden, aber aus dem hohen Gras in den Wiesen gleich dahinter stieg er noch als Dunst auf. Auf der einen Seite erstreckte sich die kleine Stadt Hollingford, zu der auch die Straße gehörte, gegen die Mr Gibsons Haustür lag. Die ersten zarten Rauchsäulen und Wölkchen stiegen aus den Kaminen jener Häuser empor, wo die Hausfrau bereits aufgestanden war und für den Ernährer der Familie das Frühstück bereitete.
All das sah Molly Gibson, dachte dabei aber nur: »Oh, es wird ein schöner Tag! Ich hatte schon Angst, er würde gar nicht mehr kommen, und wenn doch, dann als Regentag!« Vor fünfundvierzig Jahren waren die Freuden eines Kindes in einem Landstädtchen recht bescheiden, und Molly hatte zwölf lange Jahre gelebt, ohne daß sich etwas so Großartiges ereignet hätte, wie es jetzt bevorstand. Freilich hatte das arme Kind seine Mutter verloren, ein Einschnitt, der sich auf den Verlauf seines Lebens auswirkte; doch so etwas wird man kaum als ein Ereignis im obenerwähnten Sinne bezeichnen, und außerdem war Molly damals zu klein gewesen, um es bewußt zu erleben. Das Vergnügen, dem sie an diesem Tag entgegensah, war ihre erste Teilnahme an einer Art Jahresfest in Hollingford.
Auf einer Seite des Ortes, wo sich die kleine, unregelmäßig gebaute Stadt im offenen Land verlor, lag das Pförtnerhaus eines großen Parks, in dem Mylord und Mylady Cumnor wohnten, »der Graf« und »die Gräfin«, wie sie von den Ortsansässigen genannt wurden. In Hollingford hielten sich feudale Einstellungen noch immer in reichem Maße, und sie zeigten sich in allerlei einfältigem Verhalten - recht komisch, wenn man darauf zurückblickt, damals aber von ernstzunehmender Bedeutung. Das Reformgesetz von 18321 war noch nicht erlassen, dennoch führten die aufgeklärteren Pächter hie und da freisinnige Gespräche, und es gab eine einflußreiche Tory-Familie in der Grafschaft, die von Zeit zu Zeit in Erscheinung trat und sich bei den Wahlen mit den rivalisierenden Whigs maß, der Familie Cumnor. Nun hätte man meinen sollen, die erwähnten Freigeister hätten zumindest die Möglichkeit ins Auge gefaßt, für die Hely-Harrisons zu stimmen und auf diese Weise versuchsweise ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Aber nichts dergleichen. Der Graf war der Herr im Gutshaus und Besitzer der meisten Grundstücke, auf die Hollingford gebaut war; er und sein ganzes Haus wurden ernährt, verarztet und bis zu einem gewissen Grad gekleidet von den guten Leuten in der Stadt; schon die Großväter ihrer Väter hatten immer für den ältesten Sohn aus Cumnor Towers gestimmt, und den Fußstapfen der Vorfahren folgend, gab jeder seine Stimme dem Lehensherrn, völlig ungeachtet solcher Hirngespinste wie politischer Überzeugungen.
Solcher Einfluß eines großen Gutsbesitzers auf seine niedriger gestellten Nachbarn war in jenen Zeiten, ehe die Eisenbahn kam, nichts Außergewöhnliches, und glücklich der Ort, wo die mächtige Familie, die ihn überschattete, so ehrenhaft war wie die Cumnors. Sie erwarteten, daß man sich ihnen unterordnete und ihnen gehorchte; die naive Verehrung der Leute wurde von Graf und Gräfin wie ein ihnen zustehendes Recht entgegengenommen, und sie wären vor Staunen erstarrt und hätten sich entsetzt an die französischen Sansculotten erinnert, die Schreckgespenster ihrer Jugend, wenn ein Bewohner von Hollingford es gewagt hätte, Wünsche oder Meinungen zu äußern, die denen des Grafen zuwiderliefen. Aber da ihnen all dieser Gehorsam erwiesen wurde, taten sie viel Gutes für die Stadt und gaben sich im allgemeinen recht leutselig und oft teilnahmsvoll und freundlich im Umgang mit den Pächtern. Lord Cumnor war ein nachsichtiger Gutsherr; manchmal schob er seinen Verwalter ein wenig zur Seite und nahm die Zügel selbst in die Hand, sehr zum Ärgernis seines Wirtschafters, der eigentlich zu wohlhabend und unabhängig war, um großen Wert auf eine Stellung zu legen, bei der seine Entscheidungen jeden Tag über den Haufen geworfen werden konnten durch Mylords Vorliebe fürs »Herumpfuschen «, wie es der Verwalter zu Hause im Allerheiligsten respektlos nannte. Das hieß nichts anderes, als daß der Graf seinen Pächtern gelegentlich selbst Fragen stellte und bei kleineren Einzelheiten in der Bewirtschaftung seines Besitzes von seinen eigenen Augen und Ohren Gebrauch machte. Die Pächter aber mochten Mylord um dieser Angewohnheit willen nur um so besser leiden. Lord Cumnor hatte mit Sicherheit immer ein wenig Zeit für einen Schwatz, und er bemühte sich, damit den Mangel an persönlichen Beziehungen zwischen dem alten Gutsverwalter und den Pächtern auszugleichen. Außerdem machte die Gräfin mit ihrer unnahbaren Würde diese Schwäche des Grafen wieder wett. Sie wurde nur einmal im Jahr leutselig. Zusammen mit den Ladies, ihren Töchtern, hatte sie eine Schule gegründet, keine Schule nach heutigem Verständnis, wo den Jungen und Mädchen von Handlangern und Arbeitern oft ein weit vernünftigeres Wissen vermittelt wird als den mit irdischen Gütern reicher Gesegneten, sondern eine Art Hauswirtschafts- schule, in der die Mädchen lernten, schön zu nähen, zu tüchtigen Mägden und leidlichen Köchinnen ausgebildet wurden und sich vor allem gefällig kleiden mußten, wozu die Damen auf Cumnor Towers so etwas wie eine Wohltätigkeitsuniform ersonnen hatten. Weiße Häubchen, weiße Kragen, karierte Schürzen, blaue Kleider sowie ein verbindlicher Knicks und ein »Bitte sehr, Ma'am« gehörten zur strikten Regel.
Da nun die Gräfin einen beträchtlichen Teil des Jahres nicht auf Cumnor Towers weilte, lag ihr daran, das Wohlwollen der Damen von Hollingford für diese Schule zu gewinnen, mit der Absicht, während der vielen Monate, in denen sie und ihre Töchter abwesend waren, deren Hilfe als Aufsichtspersonen in Anspruch nehmen zu können. Und die verschiedenen müßiggehenden Damen der Stadt hörten auf den Ruf ihrer Lehensherrin und stellten wie gewünscht ihre Hilfe zur Verfügung und obendrein allerhand übertriebenes Bewunderungsgeflüster. »Wie gütig von der Gräfin! Das sieht der lieben Gräfin ähnlich, immer denkt sie nur an die andern«, und so weiter. Es herrschte die Überzeugung, daß kein Fremder Hollingford wirklich gesehen hatte, der nicht in die Schule der Gräfin geführt worden war und sich dort von den adretten kleinen Schülerinnen und den noch adretteren Handarbeiten angemessen beeindruckt gezeigt hatte. Als Entgelt wurde jeden Sommer ein Ehrentag festgesetzt, an dem Lady Cumnor und ihre Töchter äußerst huldvoll, vornehm und gastlich alle Schulinspektorinnen auf Cumnor Towers, dem großen Herrenhaus, empfingen, das mit aristokratischer Zurückhaltung genau in der Mitte des riesigen Parks stand und nur mit einem der Pförtnerhäuser an den Stadtrand rührte.
Dieser alljährliche Festtag lief folgendermaßen ab: Um zehn Uhr rollte eine der Kutschen von Cumnor Towers durch das Torhaus und fuhr bei den verschiedenen Häusern vor, in denen die Frauen wohnten, die es zu ehren galt, lud sie einzeln oder zu zweien ein, bis die Kutsche vollbesetzt wieder durch das weitgeöffnete Eingangstor und die glatte, schattige Allee entlangrollte und auf der großen Freitreppe, die zu den schweren Türen von Cumnor Towers führte, eine Schar elegant gekleideter Damen absetzte. Dann ging's wieder zurück in die Stadt, wieder wurde allerlei Weiblichkeit in ihren besten Roben eingeladen, und die Kutsche fuhr heim - und so weiter, bis die ganze Gesellschaft im Haus oder in den wirklich schönen Gärten versammelt war. Nach dem schicklichen Maß an Selbstdarstellung auf der einen und Bewunderung auf der anderen Seite folgte ein Imbiß für die Gäste und weiteres Vorführen und Bewundern der Schätze im Innern des Hauses. Gegen vier Uhr wurde Kaffee gereicht, ein Hinweis auf die sich nähernde Kutsche, die die Damen nach Hause bringen sollte. Sie kehrten zurück in dem glücklichen Bewußtsein, einen schönen Tag verbracht zu haben, aber einigermaßen müde durch die lange Anstrengung, sich möglichst gut zu benehmen und stundenlang gespreizt daherzureden. Auch Lady Cumnor und ihre Töchter waren nicht frei von der nämlichen Selbstgefälligkeit und der nämlichen Müdigkeit; jener Müdigkeit, die stets auf die bewußte Anstrengung folgt, sich so zu benehmen, wie es der Umgebung am besten gefällt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sollte nun Molly Gibson Gast auf Cumnor Towers sein. Sie war viel zu jung, um als Aufsichtsperson in der Schule zu arbeiten; sie war nicht aus diesem Grund eingeladen. Vielmehr hatte eines Tages Lord Cumnor auf einem »Pfusch«-Ausflug Mr Gibson getroffen, den Arzt schlechthin hier in der Gegend, als dieser gerade aus dem Bauernhaus trat, das Mylord besuchen wollte. Und da er dem Arzt ein paar kleine Fragen stellen wollte (Lord Cumnor ging selten an jemandem vorüber, den er kannte, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, wartete allerdings nicht immer die Antwort ab; das war eben seine Art, sich zu unterhalten), begleitete er Mr Gibson zu einem Nebengebäude und zu dem Ring in der Wand, an dem das Pferd des Arztes festgebunden war. Dort saß auch Molly sicher und ruhig auf ihrem struppigen kleinen Pony und wartete auf ihren Vater. Sie riß ihre ernsten Augen weit auf, als sie den Grafen auftauchen und offenbar immer näher kommen sah; denn für ihre bescheidene Vorstellungskraft war der grauhaarige, rotgesichtige und etwas schwerfällige Mann eine Kreuzung zwischen einem Erzengel und einem König.
»Ihre Tochter, Gibson, hm? Niedliches kleines Mädchen, wie alt? Das Pony braucht etwas Pflege«, und bei diesen Worten tätschelte er das Tier. »Wie heißt du denn, mein Lieber? Wie gesagt, er ist mit seiner Pacht bedauerlich im Rückstand, aber wenn er wirklich krank ist, muß ich Sheepshanks bremsen, er ist ein harter Geschäftsmann. Was fehlt ihm denn? Komm am Donnerstag zu unserem Schulgaudium, kleines Mädchen - wie heißt du? Denken Sie daran, Gibson, schicken Sie sie zu uns, oder bringen Sie sie selbst vorbei, und reden Sie ein Wörtchen mit ihrem Stallknecht, das Pony ist bestimmt letztes Jahr nicht abgeflämmt worden, oder? Vergiß mir nicht den Donnerstag, kleines Mädchen - wie heißt du noch? Versprochen ist versprochen, hörst du?« Und abgelenkt vom Anblick des ältesten Bauernsohns auf der anderen Hofseite trabte der Graf hinüber.
Mr Gibson stieg auf und ritt mit Molly davon. Eine Zeitlang sprachen sie nicht. Dann fragte sie mit etwas ängstlichem Unterton: »Darf ich hingehen, Papa?«
»Wohin, Liebchen?« sagte er und erwachte aus den Gedanken über seine Arbeit.
»Nach Cumnor Towers, am Donnerstag, du weißt doch. Der Herr hat mich eingeladen.« Sie vermied es, ihn mit seinem Titel zu bezeichnen.
»Möchtest du, Molly? Mir erschien es immer als ein etwas anstrengendes Vergnügen, ein etwas mühsamer Tag ... Es fängt so früh an, und die Hitze und alles.«
»Ach, Papa!« sagte Molly vorwurfsvoll.
»Du würdest also gerne hingehen?«
»Ja, wenn ich darf! Er hat mich doch eingeladen. Meinst du nicht, daß ich darf? Er hat mich zweimal aufgefordert.«
»Nun, wir werden sehen ... na ja! Ich glaube, wir können es einrichten, wenn du es so sehr wünschst, Molly.«
Dann schwiegen sie wieder. Nach einer Weile sagte Molly: »Bitte, Papa, ich würde gern hingehen, aber es liegt mir nichts daran.«
»Was ist denn das für ein rätselhafter Satz! Du meinst wohl, es liegt dir nichts daran, falls es Schwierigkeiten bereitet, dich hinzubringen. Aber ich kann es gut einrichten, du darfst es als beschlossen ansehen. Denk daran, du brauchst ein weißes Kleid. Sag Betty, daß du hingehst, dann kümmert sie sich um dich, damit du ordentlich aussiehst.«
Allerdings mußte Mr Gibson noch zwei Dinge erledigen, bevor er sich bei dem Gedanken, daß Molly zum Fest nach Cumnor Towers gehen würde, ganz wohl fühlte, und beide kosteten ihn einige Mühe. Aber ihm lag viel daran, seinem kleinen Mädchen eine Freude zu bereiten. So ritt er anderntags nach Cumnor Towers hinüber, vorgeblich, um ein krankes Dienstmädchen zu besuchen, in Wirklichkeit aber, um sich Mylady in den Weg zu stellen und sich von ihr Lord Cumnors Einladung an Molly bestätigen zu lassen. Er wählte den Zeitpunkt mit einigem diplomatischen Geschick, das er freilich bei seinem Verkehr mit der herrschaftlichen Familie oft anzuwenden hatte. Etwa um zwölf Uhr ritt er in den Hof vor den Stallungen ein, noch vor der Essenszeit, aber schon nach der Unruhe, die mit dem Öffnen des Postsacks und den Gesprächen über seinen Inhalt verbunden war. Nachdem er sein Pferd eingestellt hatte, trat er durch die Hintertür ins Haus - auf dieser Seite hieß es Cumnor House, vorne Cumnor Towers. Er besuchte seine Patientin, gab der Haushälterin Anweisungen und ging dann mit einer seltenen wilden Blume in der Hand hinaus in den Garten, um eine der Ladies Tranmere zu suchen. Dort stieß er, wie erhofft und berechnet, auf Lady Cumnor, die bald mit ihrer Tochter über den Inhalt eines Briefes sprach, den sie offen in der Hand hielt, bald mit einem Gärtner über Pflanzen redete, die ins Freie gesetzt werden sollten.
»Ich habe bei Nanny vorbeigeschaut und die Gelegenheit genutzt, Lady Agnes die Pflanze zu bringen, die auf Cumnor Moss wächst. Ich habe ihr davon erzählt.«
»Vielen Dank, Mr Gibson. Schau, Mama, das ist die Drosera rotundifolia, die ich schon so lange suche.«
»Ah ja, sehr schön, allerdings bin ich keine Botanikerin. Nanny geht es hoffentlich besser? Wir können es uns nicht leisten, daß nächste Woche jemand im Bett liegt, denn dann haben wir das Haus voller Leute - und obendrein die Danbys, die sich aufdrängen. Da kommt man für zwei ruhige Wochen an Pfingsten hierher und läßt den halben Hausstand in der Stadt zurück, und kaum haben die Leute erfahren, daß wir hier sind, erhalten wir pausenlos Briefe, man sehne sich so nach der Landluft oder wie schön wohl Cumnor Towers im Frühling aussehen müsse! Zugegeben, großenteils ist Lord Cumnor selbst schuld, denn kaum sind wir hier, reitet er zu allen Nachbarn und lädt sie auf ein paar Tage ein.«
»Am Freitag, den achtzehnten, fahren wir in die Stadt zurück «, tröstete sie Lady Agnes.
»Ach ja, sobald wir diese Geschichte mit den Schulinspektorinnen hinter uns haben. Aber bis zu diesem glücklichen Tag ist es noch eine Woche.«
»Übrigens«, warf Mr Gibson ein und machte sich die günstige Überleitung zunutze, »gestern traf ich Mylord auf der Cross Trees Farm, und er war so freundlich, meine kleine Tochter, die ich bei mir hatte, zu dem Empfang am Donnerstag einzuladen. Ich glaube, es würde dem Kind viel Freude machen.« Er hielt inne, damit Lady Cumnor etwas sagen konnte.
»Na gut, wenn Mylord es eingeladen hat, muß es wohl kommen, aber ich wünschte, er wäre nicht so überwältigend gastfreundlich! Nicht daß das kleine Mädchen nicht sehr willkommen wäre; nur traf er neulich auch auf eine jüngere Miss Browning, von deren Dasein ich noch nie gehört hatte.«
»Sie kümmert sich um die Schule, Mama«, erklärte Lady Agnes.
»Gut, mag sein, ich sage ja nicht, daß sie das nicht tut. Ich wußte von einer Aufsichtsperson namens Browning, aber nicht, daß es zwei davon gibt. Aber kaum hat Lord Cumnor erfahren, daß noch eine zweite existiert, muß er sie natürlich unbedingt einladen! Jetzt muß die Kutsche viermal hin und her fahren, um alle zu holen. Da kann Ihre Tochter leicht mitkommen, Mr Gib- son, und um Ihretwillen freue ich mich sehr darauf, sie kennenzulernen. Sie kann sich doch zwischen die Brownings klemmen? Besprechen Sie das mit denen und sorgen Sie dafür, daß Nanny nächste Woche wieder an ihre Arbeit gehen kann.«
Als Mr Gibson aufbrach, rief Lady Cumnor ihm nach: »Übrigens ist Clare hier, Sie erinnern sich doch an Clare? Sie war vor langer Zeit Ihre Patientin.«
»Clare?« wiederholte er verwirrt.
»Entsinnen Sie sich nicht mehr? Miss Clare, unsere ehemalige Gouvernante«, erklärte Lady Agnes. »Das war vor zwölf oder vierzehn Jahren, bevor Lady Cuxhaven heiratete.«
»Ach ja!« sagte er. »Miss Clare, sie hatte Scharlach bekommen, ein sehr hübsches, zartes Mädchen. Aber ich dachte, sie sei verheiratet?«
»Ja«, sagte Lady Cumnor, »sie war ein dummes kleines Ding und merkte nicht, wie gut sie es hier hatte. Wir mochten sie alle wirklich sehr gern. Und da ging sie, heiratete einen armen Hilfsgeistlichen und wurde eine langweilige Mrs Kirkpatrick! Wir nannten sie aber weiterhin ›Clare‹. Inzwischen ist er gestorben und hat sie als Witwe zurückgelassen, und jetzt wohnt sie hier, und wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir ihr ein Auskommen verschaffen können, ohne daß sie sich von ihrem Kind trennen muß. Sie ist irgendwo im Park, wenn Sie die Bekanntschaft mit ihr erneuern wollen.«
»Danke, Mylady. Heute kann ich leider nicht bleiben; ich habe noch eine große Runde vor mir. Ich bin eigentlich schon zu lange geblieben.«
So weit er auch geritten war an diesem Tag, abends sprach er doch noch bei den Brownings vor, um zu vereinbaren, daß Molly mit ihnen nach Cumnor Towers fahren sollte. Es waren große, stattliche Frauen, schon über die erste Jugend hinaus und nur zu geneigt, dem verwitweten Arzt gefällig zu sein.
»Du liebe Zeit, Mr Gibson, wir freuen uns doch, wenn wir sie bei uns haben! Was für eine Frage«, rief die ältere Miss Browning.
»Ich kann nachts kaum schlafen, weil ich immer daran denken muß!« sagte Miss Phoebe. »Sie wissen ja, ich war noch nie dort. Meine Schwester schon oft, aber aus irgendeinem Grund hat mich die Gräfin in ihrem Billett nie erwähnt, obwohl mein Name seit drei Jahren in der Liste der Inspektorinnen aufgeführt wird. Und ich kann mich doch nicht selbst in Erinnerung bringen und in ein solch nobles Haus gehen, ohne eingeladen zu sein, nicht wahr?«
»Ich habe Phoebe letztes Jahr gesagt, es sei bestimmt nur Unachtsamkeit auf seiten der Gräfin, wenn man es so nennen darf, und daß Mylady denkbar gekränkt wäre, wenn sie Phoebe nicht unter den Inspektorinnen fände. Aber Phoebe ist so zartfühlend, Mr Gibson, und ich konnte sagen, was ich wollte, sie blieb zu Hause. Es hat mir die ganze Freude an dem Tag verdorben, wenn ich daran dachte, wie Phoebes Gesicht bei meiner Abfahrt über den Gardinen auftauchte. Tränen standen ihr in den Augen, das dürfen Sie mir glauben.«
»Ich habe ganz schön geweint, als du weg warst, Sally«, sagte Miss Phoebe. »Trotzdem war es wohl richtig, daß ich nicht in ein Haus ging, in das ich nicht eingeladen war. Meinen Sie nicht auch, Mr Gibson?«
»Bestimmt«, sagte er. »Na, sehen Sie, dieses Jahr dürfen Sie hingehen, und letztes Jahr hat es ohnehin geregnet.«
»Ja, ich erinnere mich! Ich begann meine Kommode aufzuräumen, um mich sozusagen ein wenig aufzumuntern; und ich war so vertieft in meine Arbeit, daß ich richtig aufschrak, als ich den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln hörte. ›Meine Güte!‹ sagte ich mir, ›was wird nun aus den weißen Satinschuhen von meiner Schwester, wenn sie nach solch einem Regen über das klatschnasse Gras gehen muß?‹ Ich mußte immer an ihre schönen Schuhe denken, und nun hat sie mir doch dieses Jahr als Überraschung weiße Satinschuhe gekauft, die genauso elegant sind wie die ihren!«
»Molly weiß ja wohl, daß sie ihr Bestes anziehen muß«, meinte Miss Browning. »Wir könnten ihr vielleicht ein paar Glasperlen oder künstliche Blumen leihen, wenn sie möchte.«
»Molly wird in einem sauberen weißen Kleid gehen«, widersprach Mr Gibson etwas kurz angebunden, denn der Geschmack der Misses Browning in Kleiderfragen sagte ihm keineswegs zu, und er hatte nicht die Absicht, sein Kind nach ihren Vorstellungen ausstaffieren zu lassen. Da schienen ihm die seiner alten Magd Betty passender, weil schlichter.
Miss Browning hatte einen Anflug von Ärger in der Stimme, als sie sich erhob und sagte: »Na gut. Das ist sicher ganz richtig.«
Miss Phoebe aber meinte: »Molly wird sehr hübsch aussehen, was immer sie auch trägt, soviel ist gewiß.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Jetzt ist's sechs Uhr! So sprach der freundliche, frische Glokkenschlag der Kirchturmuhr und hieß wie seit Hunderten von Jahren die Menschen an ihr Tagwerk gehen. Molly sprang auf, rannte mit bloßen Füßen durchs Zimmer, lüpfte das Tuch und besah sich noch einmal die Haube, das Unterpfand für den fröhlichen, strahlenden Tag, der vor ihr lag. Dann zum Fenster, wo sie nach einigem Zerren die Flügel öffnete und die köstliche Morgenluft hereinließ. Von den Blumen im Garten unten war der Tau schon verschwunden, aber aus dem hohen Gras in den Wiesen gleich dahinter stieg er noch als Dunst auf. Auf der einen Seite erstreckte sich die kleine Stadt Hollingford, zu der auch die Straße gehörte, gegen die Mr Gibsons Haustür lag. Die ersten zarten Rauchsäulen und Wölkchen stiegen aus den Kaminen jener Häuser empor, wo die Hausfrau bereits aufgestanden war und für den Ernährer der Familie das Frühstück bereitete.
All das sah Molly Gibson, dachte dabei aber nur: »Oh, es wird ein schöner Tag! Ich hatte schon Angst, er würde gar nicht mehr kommen, und wenn doch, dann als Regentag!« Vor fünfundvierzig Jahren waren die Freuden eines Kindes in einem Landstädtchen recht bescheiden, und Molly hatte zwölf lange Jahre gelebt, ohne daß sich etwas so Großartiges ereignet hätte, wie es jetzt bevorstand. Freilich hatte das arme Kind seine Mutter verloren, ein Einschnitt, der sich auf den Verlauf seines Lebens auswirkte; doch so etwas wird man kaum als ein Ereignis im obenerwähnten Sinne bezeichnen, und außerdem war Molly damals zu klein gewesen, um es bewußt zu erleben. Das Vergnügen, dem sie an diesem Tag entgegensah, war ihre erste Teilnahme an einer Art Jahresfest in Hollingford.
Auf einer Seite des Ortes, wo sich die kleine, unregelmäßig gebaute Stadt im offenen Land verlor, lag das Pförtnerhaus eines großen Parks, in dem Mylord und Mylady Cumnor wohnten, »der Graf« und »die Gräfin«, wie sie von den Ortsansässigen genannt wurden. In Hollingford hielten sich feudale Einstellungen noch immer in reichem Maße, und sie zeigten sich in allerlei einfältigem Verhalten - recht komisch, wenn man darauf zurückblickt, damals aber von ernstzunehmender Bedeutung. Das Reformgesetz von 18321 war noch nicht erlassen, dennoch führten die aufgeklärteren Pächter hie und da freisinnige Gespräche, und es gab eine einflußreiche Tory-Familie in der Grafschaft, die von Zeit zu Zeit in Erscheinung trat und sich bei den Wahlen mit den rivalisierenden Whigs maß, der Familie Cumnor. Nun hätte man meinen sollen, die erwähnten Freigeister hätten zumindest die Möglichkeit ins Auge gefaßt, für die Hely-Harrisons zu stimmen und auf diese Weise versuchsweise ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Aber nichts dergleichen. Der Graf war der Herr im Gutshaus und Besitzer der meisten Grundstücke, auf die Hollingford gebaut war; er und sein ganzes Haus wurden ernährt, verarztet und bis zu einem gewissen Grad gekleidet von den guten Leuten in der Stadt; schon die Großväter ihrer Väter hatten immer für den ältesten Sohn aus Cumnor Towers gestimmt, und den Fußstapfen der Vorfahren folgend, gab jeder seine Stimme dem Lehensherrn, völlig ungeachtet solcher Hirngespinste wie politischer Überzeugungen.
Solcher Einfluß eines großen Gutsbesitzers auf seine niedriger gestellten Nachbarn war in jenen Zeiten, ehe die Eisenbahn kam, nichts Außergewöhnliches, und glücklich der Ort, wo die mächtige Familie, die ihn überschattete, so ehrenhaft war wie die Cumnors. Sie erwarteten, daß man sich ihnen unterordnete und ihnen gehorchte; die naive Verehrung der Leute wurde von Graf und Gräfin wie ein ihnen zustehendes Recht entgegengenommen, und sie wären vor Staunen erstarrt und hätten sich entsetzt an die französischen Sansculotten erinnert, die Schreckgespenster ihrer Jugend, wenn ein Bewohner von Hollingford es gewagt hätte, Wünsche oder Meinungen zu äußern, die denen des Grafen zuwiderliefen. Aber da ihnen all dieser Gehorsam erwiesen wurde, taten sie viel Gutes für die Stadt und gaben sich im allgemeinen recht leutselig und oft teilnahmsvoll und freundlich im Umgang mit den Pächtern. Lord Cumnor war ein nachsichtiger Gutsherr; manchmal schob er seinen Verwalter ein wenig zur Seite und nahm die Zügel selbst in die Hand, sehr zum Ärgernis seines Wirtschafters, der eigentlich zu wohlhabend und unabhängig war, um großen Wert auf eine Stellung zu legen, bei der seine Entscheidungen jeden Tag über den Haufen geworfen werden konnten durch Mylords Vorliebe fürs »Herumpfuschen «, wie es der Verwalter zu Hause im Allerheiligsten respektlos nannte. Das hieß nichts anderes, als daß der Graf seinen Pächtern gelegentlich selbst Fragen stellte und bei kleineren Einzelheiten in der Bewirtschaftung seines Besitzes von seinen eigenen Augen und Ohren Gebrauch machte. Die Pächter aber mochten Mylord um dieser Angewohnheit willen nur um so besser leiden. Lord Cumnor hatte mit Sicherheit immer ein wenig Zeit für einen Schwatz, und er bemühte sich, damit den Mangel an persönlichen Beziehungen zwischen dem alten Gutsverwalter und den Pächtern auszugleichen. Außerdem machte die Gräfin mit ihrer unnahbaren Würde diese Schwäche des Grafen wieder wett. Sie wurde nur einmal im Jahr leutselig. Zusammen mit den Ladies, ihren Töchtern, hatte sie eine Schule gegründet, keine Schule nach heutigem Verständnis, wo den Jungen und Mädchen von Handlangern und Arbeitern oft ein weit vernünftigeres Wissen vermittelt wird als den mit irdischen Gütern reicher Gesegneten, sondern eine Art Hauswirtschafts- schule, in der die Mädchen lernten, schön zu nähen, zu tüchtigen Mägden und leidlichen Köchinnen ausgebildet wurden und sich vor allem gefällig kleiden mußten, wozu die Damen auf Cumnor Towers so etwas wie eine Wohltätigkeitsuniform ersonnen hatten. Weiße Häubchen, weiße Kragen, karierte Schürzen, blaue Kleider sowie ein verbindlicher Knicks und ein »Bitte sehr, Ma'am« gehörten zur strikten Regel.
Da nun die Gräfin einen beträchtlichen Teil des Jahres nicht auf Cumnor Towers weilte, lag ihr daran, das Wohlwollen der Damen von Hollingford für diese Schule zu gewinnen, mit der Absicht, während der vielen Monate, in denen sie und ihre Töchter abwesend waren, deren Hilfe als Aufsichtspersonen in Anspruch nehmen zu können. Und die verschiedenen müßiggehenden Damen der Stadt hörten auf den Ruf ihrer Lehensherrin und stellten wie gewünscht ihre Hilfe zur Verfügung und obendrein allerhand übertriebenes Bewunderungsgeflüster. »Wie gütig von der Gräfin! Das sieht der lieben Gräfin ähnlich, immer denkt sie nur an die andern«, und so weiter. Es herrschte die Überzeugung, daß kein Fremder Hollingford wirklich gesehen hatte, der nicht in die Schule der Gräfin geführt worden war und sich dort von den adretten kleinen Schülerinnen und den noch adretteren Handarbeiten angemessen beeindruckt gezeigt hatte. Als Entgelt wurde jeden Sommer ein Ehrentag festgesetzt, an dem Lady Cumnor und ihre Töchter äußerst huldvoll, vornehm und gastlich alle Schulinspektorinnen auf Cumnor Towers, dem großen Herrenhaus, empfingen, das mit aristokratischer Zurückhaltung genau in der Mitte des riesigen Parks stand und nur mit einem der Pförtnerhäuser an den Stadtrand rührte.
Dieser alljährliche Festtag lief folgendermaßen ab: Um zehn Uhr rollte eine der Kutschen von Cumnor Towers durch das Torhaus und fuhr bei den verschiedenen Häusern vor, in denen die Frauen wohnten, die es zu ehren galt, lud sie einzeln oder zu zweien ein, bis die Kutsche vollbesetzt wieder durch das weitgeöffnete Eingangstor und die glatte, schattige Allee entlangrollte und auf der großen Freitreppe, die zu den schweren Türen von Cumnor Towers führte, eine Schar elegant gekleideter Damen absetzte. Dann ging's wieder zurück in die Stadt, wieder wurde allerlei Weiblichkeit in ihren besten Roben eingeladen, und die Kutsche fuhr heim - und so weiter, bis die ganze Gesellschaft im Haus oder in den wirklich schönen Gärten versammelt war. Nach dem schicklichen Maß an Selbstdarstellung auf der einen und Bewunderung auf der anderen Seite folgte ein Imbiß für die Gäste und weiteres Vorführen und Bewundern der Schätze im Innern des Hauses. Gegen vier Uhr wurde Kaffee gereicht, ein Hinweis auf die sich nähernde Kutsche, die die Damen nach Hause bringen sollte. Sie kehrten zurück in dem glücklichen Bewußtsein, einen schönen Tag verbracht zu haben, aber einigermaßen müde durch die lange Anstrengung, sich möglichst gut zu benehmen und stundenlang gespreizt daherzureden. Auch Lady Cumnor und ihre Töchter waren nicht frei von der nämlichen Selbstgefälligkeit und der nämlichen Müdigkeit; jener Müdigkeit, die stets auf die bewußte Anstrengung folgt, sich so zu benehmen, wie es der Umgebung am besten gefällt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sollte nun Molly Gibson Gast auf Cumnor Towers sein. Sie war viel zu jung, um als Aufsichtsperson in der Schule zu arbeiten; sie war nicht aus diesem Grund eingeladen. Vielmehr hatte eines Tages Lord Cumnor auf einem »Pfusch«-Ausflug Mr Gibson getroffen, den Arzt schlechthin hier in der Gegend, als dieser gerade aus dem Bauernhaus trat, das Mylord besuchen wollte. Und da er dem Arzt ein paar kleine Fragen stellen wollte (Lord Cumnor ging selten an jemandem vorüber, den er kannte, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, wartete allerdings nicht immer die Antwort ab; das war eben seine Art, sich zu unterhalten), begleitete er Mr Gibson zu einem Nebengebäude und zu dem Ring in der Wand, an dem das Pferd des Arztes festgebunden war. Dort saß auch Molly sicher und ruhig auf ihrem struppigen kleinen Pony und wartete auf ihren Vater. Sie riß ihre ernsten Augen weit auf, als sie den Grafen auftauchen und offenbar immer näher kommen sah; denn für ihre bescheidene Vorstellungskraft war der grauhaarige, rotgesichtige und etwas schwerfällige Mann eine Kreuzung zwischen einem Erzengel und einem König.
»Ihre Tochter, Gibson, hm? Niedliches kleines Mädchen, wie alt? Das Pony braucht etwas Pflege«, und bei diesen Worten tätschelte er das Tier. »Wie heißt du denn, mein Lieber? Wie gesagt, er ist mit seiner Pacht bedauerlich im Rückstand, aber wenn er wirklich krank ist, muß ich Sheepshanks bremsen, er ist ein harter Geschäftsmann. Was fehlt ihm denn? Komm am Donnerstag zu unserem Schulgaudium, kleines Mädchen - wie heißt du? Denken Sie daran, Gibson, schicken Sie sie zu uns, oder bringen Sie sie selbst vorbei, und reden Sie ein Wörtchen mit ihrem Stallknecht, das Pony ist bestimmt letztes Jahr nicht abgeflämmt worden, oder? Vergiß mir nicht den Donnerstag, kleines Mädchen - wie heißt du noch? Versprochen ist versprochen, hörst du?« Und abgelenkt vom Anblick des ältesten Bauernsohns auf der anderen Hofseite trabte der Graf hinüber.
Mr Gibson stieg auf und ritt mit Molly davon. Eine Zeitlang sprachen sie nicht. Dann fragte sie mit etwas ängstlichem Unterton: »Darf ich hingehen, Papa?«
»Wohin, Liebchen?« sagte er und erwachte aus den Gedanken über seine Arbeit.
»Nach Cumnor Towers, am Donnerstag, du weißt doch. Der Herr hat mich eingeladen.« Sie vermied es, ihn mit seinem Titel zu bezeichnen.
»Möchtest du, Molly? Mir erschien es immer als ein etwas anstrengendes Vergnügen, ein etwas mühsamer Tag ... Es fängt so früh an, und die Hitze und alles.«
»Ach, Papa!« sagte Molly vorwurfsvoll.
»Du würdest also gerne hingehen?«
»Ja, wenn ich darf! Er hat mich doch eingeladen. Meinst du nicht, daß ich darf? Er hat mich zweimal aufgefordert.«
»Nun, wir werden sehen ... na ja! Ich glaube, wir können es einrichten, wenn du es so sehr wünschst, Molly.«
Dann schwiegen sie wieder. Nach einer Weile sagte Molly: »Bitte, Papa, ich würde gern hingehen, aber es liegt mir nichts daran.«
»Was ist denn das für ein rätselhafter Satz! Du meinst wohl, es liegt dir nichts daran, falls es Schwierigkeiten bereitet, dich hinzubringen. Aber ich kann es gut einrichten, du darfst es als beschlossen ansehen. Denk daran, du brauchst ein weißes Kleid. Sag Betty, daß du hingehst, dann kümmert sie sich um dich, damit du ordentlich aussiehst.«
Allerdings mußte Mr Gibson noch zwei Dinge erledigen, bevor er sich bei dem Gedanken, daß Molly zum Fest nach Cumnor Towers gehen würde, ganz wohl fühlte, und beide kosteten ihn einige Mühe. Aber ihm lag viel daran, seinem kleinen Mädchen eine Freude zu bereiten. So ritt er anderntags nach Cumnor Towers hinüber, vorgeblich, um ein krankes Dienstmädchen zu besuchen, in Wirklichkeit aber, um sich Mylady in den Weg zu stellen und sich von ihr Lord Cumnors Einladung an Molly bestätigen zu lassen. Er wählte den Zeitpunkt mit einigem diplomatischen Geschick, das er freilich bei seinem Verkehr mit der herrschaftlichen Familie oft anzuwenden hatte. Etwa um zwölf Uhr ritt er in den Hof vor den Stallungen ein, noch vor der Essenszeit, aber schon nach der Unruhe, die mit dem Öffnen des Postsacks und den Gesprächen über seinen Inhalt verbunden war. Nachdem er sein Pferd eingestellt hatte, trat er durch die Hintertür ins Haus - auf dieser Seite hieß es Cumnor House, vorne Cumnor Towers. Er besuchte seine Patientin, gab der Haushälterin Anweisungen und ging dann mit einer seltenen wilden Blume in der Hand hinaus in den Garten, um eine der Ladies Tranmere zu suchen. Dort stieß er, wie erhofft und berechnet, auf Lady Cumnor, die bald mit ihrer Tochter über den Inhalt eines Briefes sprach, den sie offen in der Hand hielt, bald mit einem Gärtner über Pflanzen redete, die ins Freie gesetzt werden sollten.
»Ich habe bei Nanny vorbeigeschaut und die Gelegenheit genutzt, Lady Agnes die Pflanze zu bringen, die auf Cumnor Moss wächst. Ich habe ihr davon erzählt.«
»Vielen Dank, Mr Gibson. Schau, Mama, das ist die Drosera rotundifolia, die ich schon so lange suche.«
»Ah ja, sehr schön, allerdings bin ich keine Botanikerin. Nanny geht es hoffentlich besser? Wir können es uns nicht leisten, daß nächste Woche jemand im Bett liegt, denn dann haben wir das Haus voller Leute - und obendrein die Danbys, die sich aufdrängen. Da kommt man für zwei ruhige Wochen an Pfingsten hierher und läßt den halben Hausstand in der Stadt zurück, und kaum haben die Leute erfahren, daß wir hier sind, erhalten wir pausenlos Briefe, man sehne sich so nach der Landluft oder wie schön wohl Cumnor Towers im Frühling aussehen müsse! Zugegeben, großenteils ist Lord Cumnor selbst schuld, denn kaum sind wir hier, reitet er zu allen Nachbarn und lädt sie auf ein paar Tage ein.«
»Am Freitag, den achtzehnten, fahren wir in die Stadt zurück «, tröstete sie Lady Agnes.
»Ach ja, sobald wir diese Geschichte mit den Schulinspektorinnen hinter uns haben. Aber bis zu diesem glücklichen Tag ist es noch eine Woche.«
»Übrigens«, warf Mr Gibson ein und machte sich die günstige Überleitung zunutze, »gestern traf ich Mylord auf der Cross Trees Farm, und er war so freundlich, meine kleine Tochter, die ich bei mir hatte, zu dem Empfang am Donnerstag einzuladen. Ich glaube, es würde dem Kind viel Freude machen.« Er hielt inne, damit Lady Cumnor etwas sagen konnte.
»Na gut, wenn Mylord es eingeladen hat, muß es wohl kommen, aber ich wünschte, er wäre nicht so überwältigend gastfreundlich! Nicht daß das kleine Mädchen nicht sehr willkommen wäre; nur traf er neulich auch auf eine jüngere Miss Browning, von deren Dasein ich noch nie gehört hatte.«
»Sie kümmert sich um die Schule, Mama«, erklärte Lady Agnes.
»Gut, mag sein, ich sage ja nicht, daß sie das nicht tut. Ich wußte von einer Aufsichtsperson namens Browning, aber nicht, daß es zwei davon gibt. Aber kaum hat Lord Cumnor erfahren, daß noch eine zweite existiert, muß er sie natürlich unbedingt einladen! Jetzt muß die Kutsche viermal hin und her fahren, um alle zu holen. Da kann Ihre Tochter leicht mitkommen, Mr Gib- son, und um Ihretwillen freue ich mich sehr darauf, sie kennenzulernen. Sie kann sich doch zwischen die Brownings klemmen? Besprechen Sie das mit denen und sorgen Sie dafür, daß Nanny nächste Woche wieder an ihre Arbeit gehen kann.«
Als Mr Gibson aufbrach, rief Lady Cumnor ihm nach: »Übrigens ist Clare hier, Sie erinnern sich doch an Clare? Sie war vor langer Zeit Ihre Patientin.«
»Clare?« wiederholte er verwirrt.
»Entsinnen Sie sich nicht mehr? Miss Clare, unsere ehemalige Gouvernante«, erklärte Lady Agnes. »Das war vor zwölf oder vierzehn Jahren, bevor Lady Cuxhaven heiratete.«
»Ach ja!« sagte er. »Miss Clare, sie hatte Scharlach bekommen, ein sehr hübsches, zartes Mädchen. Aber ich dachte, sie sei verheiratet?«
»Ja«, sagte Lady Cumnor, »sie war ein dummes kleines Ding und merkte nicht, wie gut sie es hier hatte. Wir mochten sie alle wirklich sehr gern. Und da ging sie, heiratete einen armen Hilfsgeistlichen und wurde eine langweilige Mrs Kirkpatrick! Wir nannten sie aber weiterhin ›Clare‹. Inzwischen ist er gestorben und hat sie als Witwe zurückgelassen, und jetzt wohnt sie hier, und wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir ihr ein Auskommen verschaffen können, ohne daß sie sich von ihrem Kind trennen muß. Sie ist irgendwo im Park, wenn Sie die Bekanntschaft mit ihr erneuern wollen.«
»Danke, Mylady. Heute kann ich leider nicht bleiben; ich habe noch eine große Runde vor mir. Ich bin eigentlich schon zu lange geblieben.«
So weit er auch geritten war an diesem Tag, abends sprach er doch noch bei den Brownings vor, um zu vereinbaren, daß Molly mit ihnen nach Cumnor Towers fahren sollte. Es waren große, stattliche Frauen, schon über die erste Jugend hinaus und nur zu geneigt, dem verwitweten Arzt gefällig zu sein.
»Du liebe Zeit, Mr Gibson, wir freuen uns doch, wenn wir sie bei uns haben! Was für eine Frage«, rief die ältere Miss Browning.
»Ich kann nachts kaum schlafen, weil ich immer daran denken muß!« sagte Miss Phoebe. »Sie wissen ja, ich war noch nie dort. Meine Schwester schon oft, aber aus irgendeinem Grund hat mich die Gräfin in ihrem Billett nie erwähnt, obwohl mein Name seit drei Jahren in der Liste der Inspektorinnen aufgeführt wird. Und ich kann mich doch nicht selbst in Erinnerung bringen und in ein solch nobles Haus gehen, ohne eingeladen zu sein, nicht wahr?«
»Ich habe Phoebe letztes Jahr gesagt, es sei bestimmt nur Unachtsamkeit auf seiten der Gräfin, wenn man es so nennen darf, und daß Mylady denkbar gekränkt wäre, wenn sie Phoebe nicht unter den Inspektorinnen fände. Aber Phoebe ist so zartfühlend, Mr Gibson, und ich konnte sagen, was ich wollte, sie blieb zu Hause. Es hat mir die ganze Freude an dem Tag verdorben, wenn ich daran dachte, wie Phoebes Gesicht bei meiner Abfahrt über den Gardinen auftauchte. Tränen standen ihr in den Augen, das dürfen Sie mir glauben.«
»Ich habe ganz schön geweint, als du weg warst, Sally«, sagte Miss Phoebe. »Trotzdem war es wohl richtig, daß ich nicht in ein Haus ging, in das ich nicht eingeladen war. Meinen Sie nicht auch, Mr Gibson?«
»Bestimmt«, sagte er. »Na, sehen Sie, dieses Jahr dürfen Sie hingehen, und letztes Jahr hat es ohnehin geregnet.«
»Ja, ich erinnere mich! Ich begann meine Kommode aufzuräumen, um mich sozusagen ein wenig aufzumuntern; und ich war so vertieft in meine Arbeit, daß ich richtig aufschrak, als ich den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln hörte. ›Meine Güte!‹ sagte ich mir, ›was wird nun aus den weißen Satinschuhen von meiner Schwester, wenn sie nach solch einem Regen über das klatschnasse Gras gehen muß?‹ Ich mußte immer an ihre schönen Schuhe denken, und nun hat sie mir doch dieses Jahr als Überraschung weiße Satinschuhe gekauft, die genauso elegant sind wie die ihren!«
»Molly weiß ja wohl, daß sie ihr Bestes anziehen muß«, meinte Miss Browning. »Wir könnten ihr vielleicht ein paar Glasperlen oder künstliche Blumen leihen, wenn sie möchte.«
»Molly wird in einem sauberen weißen Kleid gehen«, widersprach Mr Gibson etwas kurz angebunden, denn der Geschmack der Misses Browning in Kleiderfragen sagte ihm keineswegs zu, und er hatte nicht die Absicht, sein Kind nach ihren Vorstellungen ausstaffieren zu lassen. Da schienen ihm die seiner alten Magd Betty passender, weil schlichter.
Miss Browning hatte einen Anflug von Ärger in der Stimme, als sie sich erhob und sagte: »Na gut. Das ist sicher ganz richtig.«
Miss Phoebe aber meinte: »Molly wird sehr hübsch aussehen, was immer sie auch trägt, soviel ist gewiß.«
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Autoren-Porträt von Elizabeth Gaskell
Gaskell, ElizabethElizabeth Gaskell wurde 1810 in London geboren. Sie lebte mit ihrem Ehemann William, einem unitarischen Geistlichen, in Manchester. »Mary Barton«, ihr erster Industrieroman, erschien 1848 und brachte sie in Kontakt mit Charles Dickens. Mit der Schriftstellerin Charlotte Brontë war sie eng befreundet und schrieb nach deren Tod eine Biographie, die 1857 erschien; »Das Leben der Charlotte Brontë«. Gaskell publizierte mehrere Erzählsammlungen und Romane, erlangte mit ihren Romanen »Cranford« (1853) und »North and South« (1855) größere literarische Bekanntheit. »Frauen und Töchter« ist ihr letzter Roman, der stilistisch an die Werke Jane Austens erinnert. Elizabeth Gaskell starb 1865 in Holybourne, Hampshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Gaskell
- 2013, 864 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Ott, Andrea
- Übersetzer: Andrea Ott
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905338
- ISBN-13: 9783596905331
- Erscheinungsdatum: 21.11.2013
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