Freche Frauen feiern Weihnachten
Ein Weihnachtsbuch voller Überraschungen - zum Nachlesen, Nachkochen und Gute-Laune-Machen.
LESEPROBE
ULLA FRÖHLING
Nur noch einmal
»Damit ihr es jetzt schon wißt: Zum 80. Geburtstag wünscheich mir einen nackten Mann. «
Zu ihrem 80. Geburtstag wünschte sich Margarethe einennackten Mann. Keinen bestimmten. Irgendeinen. Die Beschaffung überließ sie ganzihrer Familie und stellte nur zwei Bedingungen: Er sollte gesund sein und nichtälter als 25.
Am ersten Weihnachtstag traf sich die Familie traditionsgemäßbei Margarethe. Alle waren sehr stolz auf sie. Wer hat schon eine soweitgereiste Großmutter, die vier osteuropäische Sprachen spricht, mitBrieffreunden in Rußland, Polen und Ungarn korrespondiert, hervorragend überdas politische Tagesgeschehen informiert ist, mit 79 Jahren ihren gesamtenHaushalt allein organisiert und nicht zuletzt eine großartige Weihnachtsgansbrät?
Würdevoll thronte Margarethe an der Stirnseite der festlichgedeckten Tafel und überragte alle. Margarethe liebte es, alle zu überragen. Daihre Familie nicht eben kleinwüchsig war, mußte sie sich - trotz ihrerstattlichen 1,80 Meter - inzwischen ein Kissen unterlegen, um diesen Effekt zuerzielen. Alle wußten das, und alle gönnten es ihr.
Die Gans war gegessen, die Geschenke ausgetauscht und dieKerzen am drei Meter hohen Weihnachtsbaum fast heruntergebrannt. Alle saßenzufrieden beieinander. Das heiße Wasser im Samowar kochte brodelnd, alsMargarethe sich noch ein wenig gerader machte und sagte: »Damit ihr es jetztschon wißt: Zum 80. Geburtstag wünsche ich mir einen nackten Mann.«
»AberMama!« riefen die Töchter Alma und Ata. Alma und Ata waren eineiige Zwillingeund riefen auch noch mit 56 Jahren gerne gleichzeitig etwas aus. »Mutter scherzt«,meinte Sebastian, Atas Mann, beruhigend. Sebastian hatte häufig das Bedürfnis,etwas Beruhigendes zu sagen. Aber wie immer beruhigte es nicht einmal ihn selbst.»Ich
Margaretheerklärte, sie wolle nur ihre Erinnerung ein wenig auffrischen. Es sei so langeher mit Papa. Und die Spätprogramme der Privatsender hätten Zweifel in ihr aufkommenlassen, ob ihre Erinnerung sie vielleicht trüge: »Versteht mich nicht falsch«,fügte sie dann noch hinzu: »Ich habe nicht das Gefühl, etwas versäumt zu haben,aber vielleicht, daß ich nicht alles weiß.«
Margarethehatte ihren Mann im Zweiten Weltkrieg verloren. Ihre Töchter konnten sich nochdunkel an den sehr preußisch wirkenden Offizier erinnern, dessen Foto stets aufMargarethes Schreibtisch stand. Man sprach kaum über ihn, da alle wußten, wieschmerzlich der Verlust für Margarethe gewesen war.
»Danngenügen doch Bilder«, sagte Almas Mann Julius, der bisher geschwiegen hatte,sich jetzt aber auf seine umfangreiche Privatsammlung besann. »Ich bringe dirwelche.« In seinem Eifer vergaß er aber, daß Margarethe nackte Männer und keinenackten Frauen sehen wollte. Nein, sagte Margarethe bestimmt, lebend sollte ersein, und sie wollte ihn auch anfassen. »Cool«, meinte Lucy, derenphilosophisches Vokabular noch in den Anfängen steckte.
Was sichdarüber hinaus ergeben würde, hinge selbstverständlich von gegenseitigerSympathie ab, fügte Margarethe an, um ihre Familie zu beruhigen. Die Bemerkungverfehlte allerdings diesen Zweck.
In denkommenden Wochen tagte der Familienrat in wechselnden Konstellationen.Grundsätzlich war man schnell bereit, Margarethes Wunsch zu erfüllen, wenn es nurirgend ginge. »Was kann sie schon groß mit ihm anfangen«, meinte der 52jährigeJulius, über dessen Potenzprobleme alle - außer Julius - Bescheid wußten. »Außerdemhat Mama schließlich Geschmack«, meinte Alma und dachte an MargarethesRokokomöbel, die sie eines Tages zu erben hoffte.
Die Suchewar erregend, blieb aber lange Zeit erfolglos. Julius las die entsprechendenAnzeigen regionaler Zeitungen, er bestellte Fachblätter und verweilte inVideotheken. Allen war klar, daß keiner der von Julius hingebungsvollgesichteten Pornostars in Frage käme, aber sie wollten ihm das Vergnügen nichtverderben. Ata betrachtete ihre Studenten mit anderen Augen, Alma bestelltesich eine Heerschar Handwerker ins Haus, Jutta lud Dutzende von Kommilitonenzum Tee, und Lucy ging mit dem 16jährigen Sohn ihres Geschichtslehrers insBett.
Eines Tagesbrachte Sebastian einen 24jährigen Schreiner mit, der auf dem zweitenBildungsweg Abitur gemacht hatte und jetzt Bauwesen studierte. Er habe ihn, gaber an, von der studentischen Arbeitsvermittlung. Hubert war mittelgroß, sahwirklich gut aus mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Locken und einem ausgesprochenhübschen Hintern. Dieser war Sebastian zuerst aufgefallen, als er einem Hobbynachging, das der Familie bislang verborgen geblieben war: Sebastian besuchtebestimmte Ecken nächtlicher Parks und manche Herrentoiletten, auch wenn seineNieren es nicht erforderlich machten. Er tat das nicht häufig, nur manchmal, wennAta, seine Frau, auswärtige Vorträge hielt über Kriminalität in Randgruppen derGesellschaft - ihr Spezialgebiet.
»Der könnteeiner für Mutter sein«, dachte Sebastian sofort, als Hubert Sebastianshandgreifliches Interesse mit verlegenem Erröten beantwortete. Beim Tee fanden ihnalle nett. Er konnte sich benehmen, war belesen und, als er seineSchüchternheit erst einmal überwunden hatte, erwies er sich sogar als rechtamüsant. Vorerst sagte man ihm nur, es ginge um die Großmutter und ihren 80.Geburtstag. Man hatte sich geeinigt, ihm dreitausend Mark zu bieten. Lucyfand, da müßte ein Vorab-Test im Preis mit drin sein, was aber von den andereneinstimmig abgelehnt wurde.
MargarethesGeburtstag nahte. Hubert hatte inzwischen beide Aids-Tests und Atas Suche nacheventuellen Vorstrafen »negativ« durchlaufen. Er kam aus einer ordentlichenHandwerkerfamilie mit ausgeprägtem sozialen Engagement. Seine Aufgabe empfander inzwischen als tätige Altenpflege. Juttas Vorschlag, er solle aus derGeburtstagstorte springen, war als albern verworfen worden. Man wollte einfachals ganz normale Familie Geburtstag feiern, nur eben mit einem zusätzlichenGast. Für den Abend plante man, sich frühzeitig zurückzuziehen.
So geschahes auch. Margarethe plauderte charmant und anregend, wobei sich Hubertsanfängliche Verlegenheit rasch verlor. Um neun Uhr abends begannen alle zu gähnen,und um halb zehn war Margarethe mit Hubert allein.
Amübernächsten Tag - man hatte beschlossen, Margarethe einen Tag der Ruhe zugönnen und nicht sofort am nächsten Morgen anzurufen - bekamen Alma und Ataeinen Brief, in dem Margarethe sie informierte, daß sie für 14 Tage nachMallorca gefahren sei, im »La Residencia« in Deya wohne und Hubert mitgenommenhabe.
Zwei Wochenspäter kam sie zurück. Familiären Nachforschungen zufolge sah sie Hubert niewieder. Auch er machte keinen Versuch, weiteren Kontakt mit der Familie zuhalten. Er sei recht nett, aber nicht besonders standfest gewesen, warMargarethes einziger, allerdings etwas mysteriöser Kommentar. Dann wurde über diegesamte Episode nicht mehr gesprochen. (...)
© für dieseAusgabe: 2003 Piper Verlag GmbH, München
- Autor: Nicola Sternfeld
- 2003, 248 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Hrsg. v. Nicola Sternfeld
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492240054
- ISBN-13: 9783492240055
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