Die Gauklerin von Kaltenberg
Historischer Roman
Kaltenberg, 1315: Die junge Anna wird zum Tode verurteilt, weil sie angeblich den Burgherrn Ulrich mit einem sinnlichen Lied aus den "Carmina Burana" verhext haben soll. Doch der Schwarze Ritter Raoul kommt ihr zu Hilfe. Für wen entscheidet sie sich?
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Produktinformationen zu „Die Gauklerin von Kaltenberg “
Kaltenberg, 1315: Die junge Anna wird zum Tode verurteilt, weil sie angeblich den Burgherrn Ulrich mit einem sinnlichen Lied aus den "Carmina Burana" verhext haben soll. Doch der Schwarze Ritter Raoul kommt ihr zu Hilfe. Für wen entscheidet sie sich?
Klappentext zu „Die Gauklerin von Kaltenberg “
Kaltenberg, 1315. Mit einem sinnlichen Lied aus den »Carmina Burana« soll die junge Anna ihren Geliebten, den Burgherrn Ulrich, verhext haben. In letzter Minute rettet sie der Ritter Raoul vor dem Tod. Fortan steht Anna zwischen den beiden Männern, die sich abgrundtief hassen. Der leidenschaftliche Kampf einer Frau um Freiheit und Glück beginnt.
Lese-Probe zu „Die Gauklerin von Kaltenberg “
Die Gauklerin von Kaltenberg von Julia Freidank1
Hofmark Kaltenberg, Baiern, Anfang September Anno Domini 1315
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»Anna!« Die Stimme des Dorfschmieds überschlug sich vor Wut. Bier und halbzerkaute Bilsenkrautsamen spritzten von seinen Lippen, als er brüllte: »Du gehorchst, oder du wirst es bereuen!«
Seine Tochter Anna war aufgesprungen. Entschlossen raffte sie das knöchellange Wollkleid und warf die rote Lockenmähne zurück. Also deshalb hatte der Vater das Bierfass angezapft: um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, dass er sie seinem Ge sellen Kilian versprochen hatte! Mit zitternden Lippen, aber hoch aufgerichtet hielt das zarte Mädchen seinem Vater stand. Die Bundhaube, deren Bänder seitlich von den eiterverklebten Lidern herabfielen, ließ sein Gesicht noch grober erscheinen. Sie wusste, wie wuchtig seine abgearbeiteten Fäuste zuschlagen konnten. Das letzte Mal hatte sie drei Tage nicht arbeiten können.
»Darauf kannst du bis zum Jüngsten Gericht warten!« Ihr angeborener Hitzkopf brach sich Bahn, und sie schrie: »Ich bin deine Tochter, nicht deine Leibeigene!« Abrupt ließ sie ihn stehen und lief quer durch den einzigen Raum der Kate zum Ausgang. Gackernd brachten sich ein paar Hühner in Sicherheit. Dann war sie die hölzerne Treppe hinauf. Zorn oder der beißende Qualm des Herdfeuers hatten ihr Tränen in die Augen getrieben.
»Du wirst beim fahrenden Volk enden!«, dröhnte die Stimme des Vaters. »Hörst du? Auf den Märkten wirst du mit den Bratenfiedlern tanzen müssen. Schänden werden sie dich und dir schließlich in einer Seitengasse die Gurgel durchschneiden.« Wutentbrannt wollte er ihr nachlaufen, aber die tiefstehende Sonne blendete ihn. Er übersah einen Ast, den der Apfelbaum auf der Höhe seiner Stirn ausstreckte. Dumpf schlug er dagegen und fluchte: »Kruzifixhalleluja!«
Hinter ihm kam sein künftiger Schwiegersohn aus dem Haus. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über die Mundwinkel und wischte die Reste der Mehlsuppe am Kittel ab. »Die kann es ja kaum erwarten«, bemerkte er trocken.
Annas Bruder Martin schob den muskulösen Riesen beiseite und lief seiner Schwester nach. Trotz seiner langen Beine musste er sich anstrengen: Schnell wie ein Wiesel steuerte sie auf die Streuobstwiesen hinter der Burgsiedlung zu. Erst am Ende der langgezogenen Straße holte er sie ein.
»Vater macht sich Sorgen um dich«, redete Martin auf sie ein. »Nun komm zurück, du hast heute noch kaum etwas gegessen!«
Seine Worte erinnerten sie daran, dass es außer der Abendsuppe so gut wie keine Mahlzeit gab, die den Namen verdiente. Wieder bohrte der allgegenwärtige Hunger in ihrem Bauch.
»Du weißt, dass ich nicht ungehorsam bin«, sagte sie entschieden. »Als der Vater krank war, habe ich in der Schmiede geschuftet wie ein Mann.«
»Gehorsam würde ich dich aber auch nicht nennen«, lachte Martin. »Letztes Jahr, als wir den Wolf im Schafpferch hatten, bist du mit einem Schwert aus der Schmiede auf ihn los. Ein Mädchen mit einer Waffe, das ist vollkommen närrisch! Und erst letzte Woche hat dich die Mutter wieder bei den fahrenden Spielleuten erwischt.«
Ein Lächeln zuckte um Annas Lippen, als sie an die Gaukler mit ihren phantastischen Geschichten dachte: von fernen Ländern, großen Höfen und magischen Flüchen. Für ihre Mutter waren sie Strolche, aber Anna liebte es, ihnen zuzuhören. Bei den warmen Flötenklängen vergaß sie den Hunger und fühlte sich geborgen.
Martin legte den Arm um sie, und Anna genoss seine Wärme. Von Kindheit an - vielleicht seit fünfzehn Jahren, aber sie konnte ohnehin nicht zählen - war sie zu ihm gekommen, wenn sie etwas bedrückte. »Du sollst heiraten, nicht gehängt werden«, versuchte er sie zu trösten.
Anna stöhnte. »Ist da ein Unterschied?« Lebhaft sah sie zu ihrem Bruder auf. »Sibylle ist auch schon davongelaufen. Mit dem jüdischen Goldschmied, der im Sommer hier durchgereist ist. Und sie hatte recht. Eher tanze ich auf dem Marktplatz als nach der Pfeife von Kilian!«
Martin lachte laut. Die zarte Haut und das schmale Gesicht verliehen Anna etwas Zerbrechliches. Aber die entschlossenen Lippen und die starken, geschwungenen Brauen über den tiefblauen Augen verrieten, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. Mehr als ein junger Mann hatte schon erfahren müssen, dass Anna kräftig zuschlagen konnte, wenn man sie gegen ihren Willen anfasste. »Manchmal glaube ich, dass an dem Gerücht doch etwas dran ist«, grinste Martin. »Dass sich unsere Mutter von einem Gaukler ins Gebüsch zerren ließ, neun Monate bevor sie mit dir niederkam! Sei bloß vorsichtig: Du bist zehn Tage nach Vollmond geboren. Es heißt, so jemand hat ein unruhiges Leben vor sich. Kilian ist keine schlechte Partie!«
»Er hat gerade erst seine Zita unter die Erde gebracht«, erinnerte ihn Anna. »Jedes Jahr eine neue Schwangerschaft, und nicht einmal im Wochenbett konnte sie sich ausruhen! Er ist so einfühlsam wie ein Schinder und so leidenschaftlich wie eine leere Erbsenhülse.«
Das hatte er erst heute Mittag wieder bewiesen: »Eine anständige Frau stirbt mit fünfundzwanzig«, hatte er gesagt, »damit der Mann wieder heiraten kann.« Aber auf ihren Tod brauchte er nicht zu warten. Weil sie ihn gar nicht erst heiraten würde.
»Träum besser nicht von Liebesschwüren«, redete ihr Martin zu. »Der Vater behält einen guten Gesellen, und Kilian bekommt seinen Teil an der Schmiede. Die Ehe ist ein Geschäft, Kleines, nichts weiter.«
»Eben. Wie Hurerei.«
Ihr Bruder räusperte sich. »Er ist ein guter Schmied. Und wenn du ihm gehorchst, wird er dich auch nicht prügeln.«
Das versprach ja eine glückliche Zukunft, dachte Anna rebellisch. Insgeheim wünschte sie Kilian den Bauchfluss an den Hals. Die Vorstellung, wie er auf der Latrine mit dem Inhalt seines Darms kämpfte, verschaffte ihr ein wenig Genugtuung.
»Du weißt, warum Vater dich verheiraten will.« Ihr Bruder wies den bewaldeten Hügel hinauf, wo die Burgzinnen aus den Zweigen ragten. »Stimmt es, was die Leute reden?«, fragte er. »Über dich und Herrn Ulrich?«
Anna antwortete nicht, aber ihr Erröten verriet ihre Gefühle. Zweimal wöchentlich leistete ihr Vater seine Fronarbeit auf der Burg, und sie brachte ihm das Bier hinauf. Anfangs hatte sie Ulrich von Rohrbach, den jungen Burgherrn, nur von weitem gesehen, wenn er auf seinem Schimmel über den Hof trabte. Mit den anderen Mädchen hatte sie über sein gutes Aussehen getuschelt und nur heimlich von ihm geträumt. Bis vor wenigen Monaten ...
»Heilige Maria!«, stieß Martin hervor. Er hob ihr Kinn an, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. »Hat er dich mit Gewalt genommen?«
»Er hat nichts getan, was ich nicht gewollt hätte!«, erwiderte Anna heftig. »Was ich sonst von niemandem hier sagen kann!« Sie befreite sich. Dann dachte sie wieder an den letzten Maitanz und musste unwillkürlich lächeln. Die ganze Zeit schon hatte sie bemerkt, wie Ulrich sie vom Rand des Tanzbodens aus beobachtete. Erhitzt war sie irgendwann hinter die Wildrosensträucher am Dorfanger gelaufen. Und er war ihr gefolgt.
Er hatte ihre strengen Zöpfe gelöst und die Locken durch seine langen, schlanken Finger gleiten lassen. Hundertmal hatte man sie gewarnt, dass sie mit ihrer Unschuld auch ihre Ehre verspielte. Aber als er sie geküsst hatte, hatte Anna gespürt, dass er sich ebenso wenig wehren konnte wie sie. Der Duft der Wildrosen war ihr betäubender erschienen als je zuvor und die Rhythmen vom Anger erregender. Als er sich im weichen Gras über sie gebeugt hatte, hatte sie einfach die Augen geschlossen und es geschehen lassen. Ein kurzer Schmerz hatte sie leise aufschreien lassen, und sie hatte gewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Ihr Gesicht glühte beim bloßen Gedanken an das, was er dann mit ihr getan hatte. Seitdem trafen sie sich, heimlich, verstohlen, leidenschaftlich, wann immer es ging.
»Gott hat es nun einmal so eingerichtet, dass es Herren und Diener gibt«, redete Martin auf sie ein. »Ein Ritter steht fast so weit über einer Bauernmagd wie der Kaiser über den Sterblichen. Was ihr treibt, ist Unzucht!«
Als ob sie das nicht wüsste! Jedes Mal, wenn sie diesen furchterregenden und zugleich vollkommenen Augenblicken des Glücks entgegensah, kostete der Weg zur Burg Anna ungeheuren Mut. Scham, Angst und das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, ließen sie davor zurückscheuen. Aber wenn sie dann bei ihm war, wenn sie sich küssten und sie seine unbeherrschte Erregung spürte, wollte sie nur noch eines: ihn festhalten und nie wieder aufgeben.
»Ich wünschte ja selbst, wir wären vom gleichen Stand und könnten heiraten«, erwiderte sie endlich. Heimlich träumte sie davon, sich nicht mehr verstecken zu müssen, wenn sie sich berühren wollten. Selbst die erbärmlichste Kate wäre ihr gut genug gewesen, wenn sie dort offen mit Ulrich hätte leben können. Aber dass ein Ritter eine Bauernmagd heiratete, dazu brauchte es mehr als ein Wunder.
Martin nahm sie bei den Schultern. »Jeder Ritter hat seine Liebschaften. Ihm wird niemand einen Vorwurf machen. Aber an dir wird es hängenbleiben. Zum Teufel, Anna, denk doch an die Zukunft! Wenn du erst einmal als Hure gebrandmarkt bist, bist du so gut wie rechtlos!«
Tausendmal hatte sie sich mit diesem Gedanken gequält. Natürlich hatte sie Angst. Wer sich selbst aus der Herde des Herrn ausschloss, konnte auch keine Hilfe erwarten, das predigte der Pfarrer fast jeden Sonntag. Anna sah ihren Bruder ernst an. »Ich will euch keine Schande machen. Aber ich kann nicht anders.«
Er seufzte verzweifelt. »Lass mich mit den Eltern reden! Vielleicht muss es ja nicht gerade Kilian sein. Aber mach dir keine großen Hoffnungen - heiraten wirst du müssen. Und jetzt komm«, sagte er liebevoll. »Um diese Zeit sollte man im Haus sein.«
»Lass mich noch einen Augenblick allein.« Er zögerte, und Anna umarmte ihn. »Ich komme ja gleich.«
Sie sah ihm nach, wie er zum Dorf zurücklief. Wenn jemand ihre Eltern besänftigen konnte, dann er. Langsam trat sie zwischen den hagelgeschlagenen Obstbäumen hinaus auf die Wiese. Hinter ihr erhoben sich der Burgberg und die Siedlung, unterhalb davon floss die Paar. Zum Ammersee hin durchbrachen moorige Schilflandschaften mit kleinen Burgen die Wälder, und bei schönem Wetter sah man am Horizont die Berge. Die meisten Menschen hatten Angst vor der Dämmerung, aber sie hatte sich hier schon immer sicher gefühlt. Mit diesem Ort war sie verbunden. Was immer geschah, hier würde sie sich beschützt fühlen.
Sie musste an den alten Raunachtbrauch denken: Wenn ein Mädchen zur Wintersonnwende einen Baum umarmte, verriet das nächste Hundegebell die Richtung, aus der ihr zukünftiger Ehemann kommen würde. Anna beschloss, dass sie nicht die Zeit hatte, bis Sonnwend zu warten. Mit beiden Händen umfasste sie den knorrigen Stamm.
Die Schafe des alten Hauser blökten in ihrem Pferch am Ende der Dorfstraße. Von den ersten gepflügten Feldern wehte der Geruch der feuchten Schollen herüber und mischte sich mit dem süßlichen Aroma faulender Holzäpfel. Die Kälte kroch ihre nackten Füße hinauf. Ungeduldig rieb sie das Gesicht an ihrem Ärmel. Da hörte sie den Hund.
Es war ein kurzes, wütendes Bellen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Der Hund gab wieder Laut. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es kam vom Hügel herab - aus der Richtung der Burg!
Annas Herz schlug schneller. Ein weiterer Hund bellte. Irgend - wo donnerte leiser Hufschlag. Nun hörte sie auch das tiefe Organ des schwarzen Schäferhundes vom Herrenhof. Wachsam öffnete sie die Augen und sah zurück zum Dorf.
Von überall her bellten nun Hunde. Hufschlag näherte sich, aber es war nicht nur ein Pferd, wie sie zuerst dachte. Es mussten mehr als zwanzig sein. Heisere Rufe aus Männerkehlen, das Klatschen einer Peitsche. Dort, wo die Straße nach Landsberg abzweigte, brachen Reiter aus dem Wald. Etwas flog zischend auf das Strohdach der ersten Kate. Eine Stichflamme loderte auf- es war ein brennender Pfeil!
Die Österreicher!, fuhr es Anna durch den Kopf. Gott steh uns bei!
»Anna!« Die Stimme des Dorfschmieds überschlug sich vor Wut. Bier und halbzerkaute Bilsenkrautsamen spritzten von seinen Lippen, als er brüllte: »Du gehorchst, oder du wirst es bereuen!«
Seine Tochter Anna war aufgesprungen. Entschlossen raffte sie das knöchellange Wollkleid und warf die rote Lockenmähne zurück. Also deshalb hatte der Vater das Bierfass angezapft: um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, dass er sie seinem Ge sellen Kilian versprochen hatte! Mit zitternden Lippen, aber hoch aufgerichtet hielt das zarte Mädchen seinem Vater stand. Die Bundhaube, deren Bänder seitlich von den eiterverklebten Lidern herabfielen, ließ sein Gesicht noch grober erscheinen. Sie wusste, wie wuchtig seine abgearbeiteten Fäuste zuschlagen konnten. Das letzte Mal hatte sie drei Tage nicht arbeiten können.
»Darauf kannst du bis zum Jüngsten Gericht warten!« Ihr angeborener Hitzkopf brach sich Bahn, und sie schrie: »Ich bin deine Tochter, nicht deine Leibeigene!« Abrupt ließ sie ihn stehen und lief quer durch den einzigen Raum der Kate zum Ausgang. Gackernd brachten sich ein paar Hühner in Sicherheit. Dann war sie die hölzerne Treppe hinauf. Zorn oder der beißende Qualm des Herdfeuers hatten ihr Tränen in die Augen getrieben.
»Du wirst beim fahrenden Volk enden!«, dröhnte die Stimme des Vaters. »Hörst du? Auf den Märkten wirst du mit den Bratenfiedlern tanzen müssen. Schänden werden sie dich und dir schließlich in einer Seitengasse die Gurgel durchschneiden.« Wutentbrannt wollte er ihr nachlaufen, aber die tiefstehende Sonne blendete ihn. Er übersah einen Ast, den der Apfelbaum auf der Höhe seiner Stirn ausstreckte. Dumpf schlug er dagegen und fluchte: »Kruzifixhalleluja!«
Hinter ihm kam sein künftiger Schwiegersohn aus dem Haus. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über die Mundwinkel und wischte die Reste der Mehlsuppe am Kittel ab. »Die kann es ja kaum erwarten«, bemerkte er trocken.
Annas Bruder Martin schob den muskulösen Riesen beiseite und lief seiner Schwester nach. Trotz seiner langen Beine musste er sich anstrengen: Schnell wie ein Wiesel steuerte sie auf die Streuobstwiesen hinter der Burgsiedlung zu. Erst am Ende der langgezogenen Straße holte er sie ein.
»Vater macht sich Sorgen um dich«, redete Martin auf sie ein. »Nun komm zurück, du hast heute noch kaum etwas gegessen!«
Seine Worte erinnerten sie daran, dass es außer der Abendsuppe so gut wie keine Mahlzeit gab, die den Namen verdiente. Wieder bohrte der allgegenwärtige Hunger in ihrem Bauch.
»Du weißt, dass ich nicht ungehorsam bin«, sagte sie entschieden. »Als der Vater krank war, habe ich in der Schmiede geschuftet wie ein Mann.«
»Gehorsam würde ich dich aber auch nicht nennen«, lachte Martin. »Letztes Jahr, als wir den Wolf im Schafpferch hatten, bist du mit einem Schwert aus der Schmiede auf ihn los. Ein Mädchen mit einer Waffe, das ist vollkommen närrisch! Und erst letzte Woche hat dich die Mutter wieder bei den fahrenden Spielleuten erwischt.«
Ein Lächeln zuckte um Annas Lippen, als sie an die Gaukler mit ihren phantastischen Geschichten dachte: von fernen Ländern, großen Höfen und magischen Flüchen. Für ihre Mutter waren sie Strolche, aber Anna liebte es, ihnen zuzuhören. Bei den warmen Flötenklängen vergaß sie den Hunger und fühlte sich geborgen.
Martin legte den Arm um sie, und Anna genoss seine Wärme. Von Kindheit an - vielleicht seit fünfzehn Jahren, aber sie konnte ohnehin nicht zählen - war sie zu ihm gekommen, wenn sie etwas bedrückte. »Du sollst heiraten, nicht gehängt werden«, versuchte er sie zu trösten.
Anna stöhnte. »Ist da ein Unterschied?« Lebhaft sah sie zu ihrem Bruder auf. »Sibylle ist auch schon davongelaufen. Mit dem jüdischen Goldschmied, der im Sommer hier durchgereist ist. Und sie hatte recht. Eher tanze ich auf dem Marktplatz als nach der Pfeife von Kilian!«
Martin lachte laut. Die zarte Haut und das schmale Gesicht verliehen Anna etwas Zerbrechliches. Aber die entschlossenen Lippen und die starken, geschwungenen Brauen über den tiefblauen Augen verrieten, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. Mehr als ein junger Mann hatte schon erfahren müssen, dass Anna kräftig zuschlagen konnte, wenn man sie gegen ihren Willen anfasste. »Manchmal glaube ich, dass an dem Gerücht doch etwas dran ist«, grinste Martin. »Dass sich unsere Mutter von einem Gaukler ins Gebüsch zerren ließ, neun Monate bevor sie mit dir niederkam! Sei bloß vorsichtig: Du bist zehn Tage nach Vollmond geboren. Es heißt, so jemand hat ein unruhiges Leben vor sich. Kilian ist keine schlechte Partie!«
»Er hat gerade erst seine Zita unter die Erde gebracht«, erinnerte ihn Anna. »Jedes Jahr eine neue Schwangerschaft, und nicht einmal im Wochenbett konnte sie sich ausruhen! Er ist so einfühlsam wie ein Schinder und so leidenschaftlich wie eine leere Erbsenhülse.«
Das hatte er erst heute Mittag wieder bewiesen: »Eine anständige Frau stirbt mit fünfundzwanzig«, hatte er gesagt, »damit der Mann wieder heiraten kann.« Aber auf ihren Tod brauchte er nicht zu warten. Weil sie ihn gar nicht erst heiraten würde.
»Träum besser nicht von Liebesschwüren«, redete ihr Martin zu. »Der Vater behält einen guten Gesellen, und Kilian bekommt seinen Teil an der Schmiede. Die Ehe ist ein Geschäft, Kleines, nichts weiter.«
»Eben. Wie Hurerei.«
Ihr Bruder räusperte sich. »Er ist ein guter Schmied. Und wenn du ihm gehorchst, wird er dich auch nicht prügeln.«
Das versprach ja eine glückliche Zukunft, dachte Anna rebellisch. Insgeheim wünschte sie Kilian den Bauchfluss an den Hals. Die Vorstellung, wie er auf der Latrine mit dem Inhalt seines Darms kämpfte, verschaffte ihr ein wenig Genugtuung.
»Du weißt, warum Vater dich verheiraten will.« Ihr Bruder wies den bewaldeten Hügel hinauf, wo die Burgzinnen aus den Zweigen ragten. »Stimmt es, was die Leute reden?«, fragte er. »Über dich und Herrn Ulrich?«
Anna antwortete nicht, aber ihr Erröten verriet ihre Gefühle. Zweimal wöchentlich leistete ihr Vater seine Fronarbeit auf der Burg, und sie brachte ihm das Bier hinauf. Anfangs hatte sie Ulrich von Rohrbach, den jungen Burgherrn, nur von weitem gesehen, wenn er auf seinem Schimmel über den Hof trabte. Mit den anderen Mädchen hatte sie über sein gutes Aussehen getuschelt und nur heimlich von ihm geträumt. Bis vor wenigen Monaten ...
»Heilige Maria!«, stieß Martin hervor. Er hob ihr Kinn an, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. »Hat er dich mit Gewalt genommen?«
»Er hat nichts getan, was ich nicht gewollt hätte!«, erwiderte Anna heftig. »Was ich sonst von niemandem hier sagen kann!« Sie befreite sich. Dann dachte sie wieder an den letzten Maitanz und musste unwillkürlich lächeln. Die ganze Zeit schon hatte sie bemerkt, wie Ulrich sie vom Rand des Tanzbodens aus beobachtete. Erhitzt war sie irgendwann hinter die Wildrosensträucher am Dorfanger gelaufen. Und er war ihr gefolgt.
Er hatte ihre strengen Zöpfe gelöst und die Locken durch seine langen, schlanken Finger gleiten lassen. Hundertmal hatte man sie gewarnt, dass sie mit ihrer Unschuld auch ihre Ehre verspielte. Aber als er sie geküsst hatte, hatte Anna gespürt, dass er sich ebenso wenig wehren konnte wie sie. Der Duft der Wildrosen war ihr betäubender erschienen als je zuvor und die Rhythmen vom Anger erregender. Als er sich im weichen Gras über sie gebeugt hatte, hatte sie einfach die Augen geschlossen und es geschehen lassen. Ein kurzer Schmerz hatte sie leise aufschreien lassen, und sie hatte gewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Ihr Gesicht glühte beim bloßen Gedanken an das, was er dann mit ihr getan hatte. Seitdem trafen sie sich, heimlich, verstohlen, leidenschaftlich, wann immer es ging.
»Gott hat es nun einmal so eingerichtet, dass es Herren und Diener gibt«, redete Martin auf sie ein. »Ein Ritter steht fast so weit über einer Bauernmagd wie der Kaiser über den Sterblichen. Was ihr treibt, ist Unzucht!«
Als ob sie das nicht wüsste! Jedes Mal, wenn sie diesen furchterregenden und zugleich vollkommenen Augenblicken des Glücks entgegensah, kostete der Weg zur Burg Anna ungeheuren Mut. Scham, Angst und das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, ließen sie davor zurückscheuen. Aber wenn sie dann bei ihm war, wenn sie sich küssten und sie seine unbeherrschte Erregung spürte, wollte sie nur noch eines: ihn festhalten und nie wieder aufgeben.
»Ich wünschte ja selbst, wir wären vom gleichen Stand und könnten heiraten«, erwiderte sie endlich. Heimlich träumte sie davon, sich nicht mehr verstecken zu müssen, wenn sie sich berühren wollten. Selbst die erbärmlichste Kate wäre ihr gut genug gewesen, wenn sie dort offen mit Ulrich hätte leben können. Aber dass ein Ritter eine Bauernmagd heiratete, dazu brauchte es mehr als ein Wunder.
Martin nahm sie bei den Schultern. »Jeder Ritter hat seine Liebschaften. Ihm wird niemand einen Vorwurf machen. Aber an dir wird es hängenbleiben. Zum Teufel, Anna, denk doch an die Zukunft! Wenn du erst einmal als Hure gebrandmarkt bist, bist du so gut wie rechtlos!«
Tausendmal hatte sie sich mit diesem Gedanken gequält. Natürlich hatte sie Angst. Wer sich selbst aus der Herde des Herrn ausschloss, konnte auch keine Hilfe erwarten, das predigte der Pfarrer fast jeden Sonntag. Anna sah ihren Bruder ernst an. »Ich will euch keine Schande machen. Aber ich kann nicht anders.«
Er seufzte verzweifelt. »Lass mich mit den Eltern reden! Vielleicht muss es ja nicht gerade Kilian sein. Aber mach dir keine großen Hoffnungen - heiraten wirst du müssen. Und jetzt komm«, sagte er liebevoll. »Um diese Zeit sollte man im Haus sein.«
»Lass mich noch einen Augenblick allein.« Er zögerte, und Anna umarmte ihn. »Ich komme ja gleich.«
Sie sah ihm nach, wie er zum Dorf zurücklief. Wenn jemand ihre Eltern besänftigen konnte, dann er. Langsam trat sie zwischen den hagelgeschlagenen Obstbäumen hinaus auf die Wiese. Hinter ihr erhoben sich der Burgberg und die Siedlung, unterhalb davon floss die Paar. Zum Ammersee hin durchbrachen moorige Schilflandschaften mit kleinen Burgen die Wälder, und bei schönem Wetter sah man am Horizont die Berge. Die meisten Menschen hatten Angst vor der Dämmerung, aber sie hatte sich hier schon immer sicher gefühlt. Mit diesem Ort war sie verbunden. Was immer geschah, hier würde sie sich beschützt fühlen.
Sie musste an den alten Raunachtbrauch denken: Wenn ein Mädchen zur Wintersonnwende einen Baum umarmte, verriet das nächste Hundegebell die Richtung, aus der ihr zukünftiger Ehemann kommen würde. Anna beschloss, dass sie nicht die Zeit hatte, bis Sonnwend zu warten. Mit beiden Händen umfasste sie den knorrigen Stamm.
Die Schafe des alten Hauser blökten in ihrem Pferch am Ende der Dorfstraße. Von den ersten gepflügten Feldern wehte der Geruch der feuchten Schollen herüber und mischte sich mit dem süßlichen Aroma faulender Holzäpfel. Die Kälte kroch ihre nackten Füße hinauf. Ungeduldig rieb sie das Gesicht an ihrem Ärmel. Da hörte sie den Hund.
Es war ein kurzes, wütendes Bellen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Der Hund gab wieder Laut. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es kam vom Hügel herab - aus der Richtung der Burg!
Annas Herz schlug schneller. Ein weiterer Hund bellte. Irgend - wo donnerte leiser Hufschlag. Nun hörte sie auch das tiefe Organ des schwarzen Schäferhundes vom Herrenhof. Wachsam öffnete sie die Augen und sah zurück zum Dorf.
Von überall her bellten nun Hunde. Hufschlag näherte sich, aber es war nicht nur ein Pferd, wie sie zuerst dachte. Es mussten mehr als zwanzig sein. Heisere Rufe aus Männerkehlen, das Klatschen einer Peitsche. Dort, wo die Straße nach Landsberg abzweigte, brachen Reiter aus dem Wald. Etwas flog zischend auf das Strohdach der ersten Kate. Eine Stichflamme loderte auf- es war ein brennender Pfeil!
Die Österreicher!, fuhr es Anna durch den Kopf. Gott steh uns bei!
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Autoren-Porträt von Julia Freidank
Julia Freidank, geb. 1973, ist ausgebildete Sängerin. Ihr Hobby ist der mittelalterliche Schwertkampf. Sie lebt in Sichtweite von Burg Kaltenberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Freidank
- 2011, 493 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283454
- ISBN-13: 9783548283456
Rezension zu „Die Gauklerin von Kaltenberg “
»Niemand, der historische Abenteuer liebt, wird an diesem Buch vorbeigehen können! Ich habe diesen Roman mit großer Begeisterung gelesen.« Iny Lorentz »Atmosphärisch, spannend und einfach besonders. Schon lange habe ich mich nicht mehr so süffig unterhalten gefühlt.« Peter Prange »Julia Freidanks mitreißendes Debüt ist ein überaus sinnenfreudiger Mittelalterroman.« Freundin, 19.05.10
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