Geboren am 13. August
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Bisky beschreibt die Lebenswelten seiner ostdeutschen Provinz. Es ist ein schonungsloser Rückblick, ein ehrlicher Abschied von einer Jugend nach Plan - glänzend geschrieben und mit Gespür für die Tragikomik des Lebens im "sozialistischen Vaterland".
Bisky beschreibt die Lebenswelten seiner ostdeutschen Provinz. Es ist ein schonungsloser Rückblick, ein ehrlicher Abschied von einer Jugend nach Plan - glänzend geschrieben und mit Gespür für die Tragikomik des Lebens im "sozialistischen Vaterland".
Geboren am 13. August von Jens Bisky
LESEPROBE
WIRPROLETARIER
Ich bin imKommunismus groß geworden, der 1966 im Leipziger Osten zur Untermiete wohnte.Glücklicherweise lagen die zwei winzigen Zimmer im dritten Stock zum Hinterhof,sodass die Straßenbahn Nr. 22, die vor dem Haus mit landestypischem Quietschenhielt, meinen Schlaf nicht störte. Hätte sie mich geweckt, so hätte meinGeschrei die Fortschritte der Wissenschaft aufgehalten: Hier wurde gearbeitet.Weder Fernseher noch Klospülung unterbrachen den Gedankengang. Das WC befandsich eine halbe Treppe tiefer.
In meinerVorstellung kann ich vom Gitterbett im elterlichen Schlafzimmer über dieAschenkästen auf dem Hof bis zur Rückseite der «Grünen Schenke» schauen, demverwunschenen Ort, der sein Geheimnis nie preisgegeben hat. Als ich geborenwurde, lagerten dort Möbel; in einer besseren, längst versunkenen Zeit abermüssen vor den mit Stuck, Gold, Spiegeln und hellgrünen Arabesken schwungvollverzierten Wänden Vorstadtpaare getanzt haben, Blicke und Küsse tauschend.
Es gab inLeipzig an allen Ecken schäbig gewordene Überbleibsel einer untergegangenenWelt, Mauerreste, verblasste Inschriften, verwitterte Passagen undToreinfahrten, verfallende Türme in Parks. Was aus der bürgerlichen Epoche derStadt noch stand, führte meine Phantasie in die Ferne einer unerschlossenenVergangenheit, diente ihr als Ersatz für die fehlenden Ritterburgen. DieGegenwart war geschäftig, frisch, frei und auf unangestrengte Weise ernst zugleich.
MeineEltern, beide Studenten, waren ein schönes Paar: er ein etwas kurz geratenerBelmondo, sie eine Lollobrigida, die es ins Sächsische verschlagen hatte, wosie mit ihren üppig wuchernden tiefschwarzen Haaren und dem dunklen Teint alsExotin auffiel, und das mit Freude.
WelchemFilm mein Vater bei der Einrichtung seines Arbeitszimmers gefolgt war, konnteich nie herausfinden, aber ich zweifle nicht daran, dass er daheim nachstellte,was ein findiger Bühnenbildner in Cinecittà oder andernorts vorgemacht hatte.Auf dem großen Schreibtisch aus Hellerau stand eine graue Reiseschreibmaschine,die Lädierungen beim «e» und beim «y» aufwies. Wie ich heute schlug mein Vaterauf die Tastatur, als gelte es, Erz aus dem Berg zu brechen. Er schrieblangsam, aber entschlossen, vergraben in einem Durcheinander aus Manuskripten,Blaupapier, dicken Bündeln des dünnen, durchscheinenden Durchschlagpapiers,umgeben von Zetteln, Textfetzen, herausgeschnittenen Sätzen oder auch längerenAbschnitten, die an irgendeiner Stelle wieder eingeklebt werden sollten.Schreiben schien, wenn mein Vater es tat, eine körperlich herausfordernde Tätigkeit.Jede Manuskriptseite wirkte durch rote, blaue, grüne Unterstreichungen, durchRandnotizen in einer für alle Zeiten unlesbaren Handschrift, durch aufgeklebteoder angeheftete Zusätze wie ein unersetzliches Original. Dennoch erfreutesich keine der Seiten besonderer Schonung, Spuren von Zigarettenasche undAbdrücke des Teeglases zierten die Blätter. Ohne eine halb volle Kanneschwarzen Tees war der Schreibtisch nicht komplett. Aufgerissene Karo-Packungenlagen neben Sicherheitszündhölzern und einem selten genutzten Pfeifenbesteck.Der silbern-schwarze Aschenbecher mit Drehknopf war stets übervoll.
Mein Vatersaß keineswegs geduldig an diesem Tisch. Er lief, als hätte man ihneingesperrt, beständig auf und ab, setzte sich kurz hin, hackte lautstark aufdie gehorsamen Tasten. Ich liebte das mechanische Klingeln, das am Ende jederZeile ertönte, und das Ratschen des eingespannten Papiers, wenn ihm durchHebelzug befohlen wurde, eine Zeile weiterzurücken. Die Geräuschfolge erklangzwei-, dreimal, dann sprang Vater auf, als habe ihn all das unzulässigerweiseaufgehalten, und schritt wieder zügig durchs Zimmer. Der braune, gemusterteTeppich zeigte, seit ich denken konnte, eine hellere, vielleicht zwei Meterlange Laufspur in der Mitte. Von der Dissertation A zur Dissertation B zumersten populären Buch wurde die Rennstrecke der Gedanken stetig lichter, dannlöste sich das Gewebe auf.
Wann immerman mich fragt, ob ich der Sohn meines Vaters sei, sehe ich ihn so vor mir:wie er, eine Zigarette in der Hand, mit nachdenklichem Blick zwischenSchreibtisch und Bücherregal hin- und hergeht. Er war fünfundzwanzig, als ichzur Welt kam, und er war ein Habenichts, der an die Wissenschaft glaubte.
Auch meineMutter hatte lediglich ein paar Möbel und eine nie ermattendeBegeisterungsfähigkeit mit in die Ehe gebracht. Energisch organisierte sie denAlltag, um Zeit für jene Traumwelten der Ferne und Vergangenheit zu gewinnen,in die sie am liebsten eintauchte. Von der ersten Stunde an nahm sie michdorthin mit. Ihr sanfter Blick, der immer Antwort suchte, und ihre ruhige,tiefe Stimme gaben mir das Gefühl, dass die sechs und elf Quadratmeter großenZimmer im Leipziger Osten und der karge Spielplatz um die Ecke nicht alleswaren, bestenfalls Ausgangspunkt einer abenteuerlichen Reise.
In dem aberwitzigen Glauben, dass ein guter Vers etwas ist,auf das man sich verlassen kann, hat meine Mutter mich aufwachsen lassen. Siekannte Dutzende Volkslieder und Reime, mit denen sie mich allabendlich ins Bettschickte.
© 2004 by Rowohlt - Berlin Verlag GmbH, Berlin
Interview mit Jens Bisky
Geboren am 13. August" ist ein passioniert persönliches"Buch. In der Tat geben Sie viel von sich und Ihrem Leben preis. Aus welchemGrund haben Sie sich dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben?
Ich habe dieses Buch aus Ärger undaus Neugier geschrieben. Geärgert habe ich mich über DDR-Hasser undDDR-Nostalgiker gleichermaßen. Die einen tun so, als hätten im Osten nurOpportunisten, Mitläufer, bestenfalls Spießer gewohnt. Die anderen verklärendie Ossis als putzige Figuren, die seltsame Autos fahren und merkwürdigeKlamotten tragen. Beides scheint mir falsch, schon weil weder DDR-Hasser nochDDR-Nostalgiker erklären können, dass es 1989 eine Revolution gegeben hat. Fürmich und viele Gleichaltrige war der Mauerfall die wichtigste Erfahrung imLeben, eine Erfahrung von Befreiung, neuen Herausforderungen, aber auch Krisen.Und hier kommt meine Neugier ins Spiel: Ich wollte die DDR und die Wendezeit sokomplex und widersprüchlich darstellen, wie ich sie erlebt habe. Und ich wolltenicht wieder naiv sein, sondern vielmehr erzählen, was ich erlebt habe, was ichdamals dachte und was ich heute denke. Das ging nur in einem persönlichen Buch.Aber ich habe versucht, dem Leser nicht zu dicht auf die Pelle zu rücken,erzähle nur Dinge, von denen ich glaube, dass sie auch sprechende Beispiele fürdas Leben im Sozialismus sind.
Während Ihr Vater, Lothar Bisky, Vorsitzender der PDS,sich klar gegen Hartz IV ausspricht, traten Sie ausder PDS aus und sind eher ein Befürworter der Reformpolitik. Hängt derHausfrieden da nicht ab und zu schief? Meiden Sie beispielsweise das ThemaPolitik auf Familienfesten?
Zu meinen Eltern habe ich, auch wennviele das nicht glauben wollen, ein gutes Verhältnis. Ich verdanke ihnen sehrviel, und wir haben in den vergangenen zwanzig Jahre gelernt, mitunterschiedlichen Meinungen umzugehen. Es stimmt schon: Im Fall desKosovo-Krieges oder von Hartz IV hatte ich einedezidiert andere Meinung als mein Vater. Wenn wir uns treffen - was seltengenug geschieht, da wir beide viel arbeiten -, sprechen wir freundlich-entspanntdarüber, ohne den anderen gleich für einen Schuft zu halten, nur weil er eineandere Ansicht hat. Übrigens möchte ich nicht in einer Welt leben, in der dieSöhne nur denken, was die Väter schon gedacht haben.
Sie schreiben, dass es Ihnen eine Zeit lang sehr unangenehmwar, überhaupt auf die DDR angesprochen zu werden, weil Sie keine Rechenschaftüber Ihre Vergangenheit ablegen wollten. Beneiden Sie die Menschen, für die derFall der Mauer schon früher, d.h. während der Kindheit kam, oder möchten Siedie Erfahrungen, die Sie als Jugendlicher gemacht haben, nicht missen?
Was gewesen ist, ist gewesen, undich habe ja noch Glück gehabt. Im Sommer 1989, im Alter von 23 Jahren, wollteich völlig von vorn anfangen. Dann kam die Wende, die Mauer fiel, und ich hatteauch die Möglichkeiten, das zu tun, was ich wollte. Ich freue mich für jeden,der kaum etwas von der DDR mitbekommen hat, aber ich bin unfähig zum Neid. Ichhabe immerhin eine gewisse Skepsis, auch mir selbst gegenüber, gelernt. Und ichhabe schon zu DDR-Zeiten großartige Menschen getroffen. Das will ich nichtmissen.
1989 wurde Ihnen bei der NVA sehr deutlich vor Augengeführt, wie leicht das System der DDR einzelne Personen zu Tätern machte.Fühlen Sie sich im Nachhinein auch in mancher Hinsicht als Täter?
Nein, ich fühle mich nicht alsTäter. Ich habe Unsinn gemacht, war zu feige, auszuscheren, war Mitglied einerdespotischen Partei, was ich mir bis heute übel nehme. Aber was wäre denn die Tat?Geschrieben habe ich das Buch auch, um zu zeigen, dass man die Geschichte nichtso bequem sortieren und in Schubladen entsorgen kann: Täter, Opfer, Mitläufer.Wer verstehen will, was gewesen ist, muss sich auf Grautöne, Übergänge,Spannungen und Widersprüche einlassen. Dazu will ich die Leser einladen.
In Ihrer Kolumne zum Aufbau Ost schreiben Sie, dass dieFragen des Jahres 1990, nämlich wie es mit dem Ostteil Deutschlands weitergehensoll, heute immer noch nicht zufriedenstellendbeantwortet sind. Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen? Wo sehen SieAuswege aus der wirtschaftlichen Unselbstständigkeit Ostdeutschlands?
Wünschen würde ich mir eine offene,ehrliche Diskussion zwischen Ost und West. In vielen Regionen Ostdeutschlandswird es in den kommenden dreißig Jahren keinen Aufschwung geben. Also muss mandarüber reden, was dort geschehen soll, muss genau und kalt prüfen, welcheTransferzahlungen sinnvoll sind und welche nicht. Wünschen würde ich mir, dassman in Bildung, Schulen und Hochschulen im Osten schamlos viel Geld investiert.Das zahlt sich aus, wenn auch nicht sofort. Ansonsten hoffe ich, dass vielejunge Ostdeutsche als normale Bürger, nicht als grimmig-enttäuschteOssis, in diesem Land leben und arbeiten. Die Begegnungen, die ich auf meinenLesungen hatte, stimmen mich da sehr optimistisch.
Die Fragen stellte Babett Haugk,literaturtest.de.
(Redaktion: Eva Hepper, literaturtest.de)
- Autor: Jens Bisky
- 2004, 1, 256 Seiten, Maße: 13 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345075
- ISBN-13: 9783871345074
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