Gegen Ende des Morgens
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Gegen Ende des Morgens von Michael Frayn
LESEPROBE
Der Himmel wurde im Laufe des Morgens immer dunkler. Als der Kaffee die Runde machte, war es draußen wie an einem Winterabend, und in allen Fenstern, die auf den Hand and Ball Court hinausgingen, brannte Licht. Bob stand in Dysons Abteilung am Fenster, blickte selbstvergessen in die apokalyptische Dämmerung und aß Toffees aus einer Papiertüte. Er beobachtete die Menschen, die aus dem Durchgang zwischen Hand and Ball Courtund Fleet Street kamen. Einige kannte er: Kollegen, die den Arbeitstag zu der ihnen genehmen Zeit begannen - Ralph Absalom, Mike Sparrow, Gareth Holmroyd. In dieser seltsamen Morgenfinsternis wirkte ihre Vertrautheit etwas abwegig. Als träfe man Landsleute in der Fremde.
Hinter ihm steuerte John Dyson auf einen Nervenzusammenbruch zu. »Mein Gott!« Dyson warf sich im Stuhl zurück.
»Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Kann nicht mal einer das Licht anmachen, bevor wir alle erblinden? Ich kriege noch einen Nervenzusammenbruch.«
Außer Bob war nur noch der alte Eddy Moulton im Büro. Er saß hinter einem Stapel zerfledderter viktorianischer Zeitungen, Vorlagen für seine tägliche Kolumne Was damals geschah. Er hatte das Rentenalter weit überschritten und war nicht geneigt, auf Dyson zu hören. Außerdem schlief er.
»Bob«, klagte Dyson. »Kann nicht um Himmels willen jemand das Licht anmachen?«
»Ist gut, John«, murmelte Bob automatisch, blieb, wo er war, und starrte weiter auf die dunklen Gestalten hinunter.
»Mein Gott!« sagte Dyson. Da hatte er nun schon Mitarbeiter - Bob und den alten Eddy Moulton - und mußte trotzdem ständig springen, um eigenhändig das Licht an und aus zu machen! Kein Wunder, daß ihn die Arbeit überforderte. Kein Wunder, daß ihn spätestens um vier Uhr nachmittags der Schwindel packte, daß er förmlich in Arbeit zu ertrinken drohte, den Schlips lockern und den Kragen öffnen mußte. Nachdem er das Licht angemacht hatte, sah er deutlich, wieviel Arbeit sich auf seinem Schreibtisch türmte. Es waren Manuskripte zu redigieren und Fahnen zu korrigieren. Da lagen Freikarten für eine Aufführung der National Provincial Bank, die Piraten von Penzance, und für eine Studentendarbietung von Sweeney Agonistes, die ihm der Kulturredakteur als kleine Aufmerksamkeit überlassen hatte. Da lagen Einladungen zu Bürgerschaftsforen und Käseproben vom Nachrichtenredakteur und vom Gesellschaftsredakteur, Einladungen zumTest neuer Golftrainingsmaschinen und Hallenskipisten, die ihm der Sportredakteur hatte zukommen lassen. Dysons Abteilung war der Ausguß, in den der Bodensatz kommerzieller Largesse gespült wurde, nachdem die gesamte Redaktion gesiebt und gefiltert hatte, so daß es an Dyson hängenblieb, die Absagen zu schreiben. Er mochte seine Kollegen nicht ermahnen, ihm die unerwünschten Zuwendungen zu ersparen, immerhin fiel auch der ein oder andere Gratisflug dabei ab, den seine Abteilung dankend wahrnahm.
Am dringlichsten jedoch waren Notizen und Vermerke auf grobem Redaktionspapier - Nachrichten, die er sich selbst hinterlassen hatte. »Muller anr wg Bussard Art«stand auf einem. »Sims frg wg Verlmd Kstdgr töd fr Igl.«»Straker konsult wg Unbefl EmpfJM.« »MORLEY ANR WO Z TEUFL ART F FREI.«
Aber wie sollte er Morley anrufen, um zu fragen, wo zum Teufel der Artikel für Freitag blieb? Sobald er die Hand zum Hörer ausstreckte, klingelte das Telefon.
»Ja«, seufzte er in den Hörer. »Dyson Ja Gut Sehr schön Sehr schön, sehr schön WunderbarPrima Sehr schön.«
Kaum hatte er aufgelegt und »Armleuchter« gemurmelt, klingelte es wieder. Es war ein ganz schlechter Tag für Dyson, wie er Bob hin und wieder wissen ließ, wenn er zum Luftholen kam.»
Könnte nicht zufällig jemand bei Morley anrufen?« flehte er, »um zu fragen, wo zum Teufel der Artikel für Freitag bleibt?«
Die Worte schallten durch die leere Luft, wobei ihreIntensität mit jeder Verdoppelung des Abstands von der Quelle abnahm.
»Bob«, sagte er.
»John«, erwiderte Bob höflich.
»Ich habe gefragt, ob nicht zufällig jemand bei Morley anrufen könnte, Bob?«
Bob schob sich noch ein Toffee in den Mund. Reg Mounce, der fürchterliche Reg Mounce überquerte gerade den Platz und trat verdrossen nach den Pflastersteinen für den Fall, daß unbelebte Materie doch Gefühle hatte.
»Ich bin gerade etwas im Druck, John«, sagte Bob abwesend. »Muß gleich schreiben.«
Um die Berge auf seinem Schreibtisch richtig einschätzen zu können, stand Dyson auf und sah auf sie hinunter. Angenommen, das Telefon klingelte in der nächsten Minute einmal nicht: Wen sollte er als erstes anrufen? Morley wahrscheinlich - dann war Sims vielleicht vom Gericht zurück Nein, Straker, denn der hatte heute um zwölf Ausschußsitzung. Aber Straker würde mindestens zehn Minuten über die Unbefleckte Empfängnis schwadronieren, und dann verpaßte er möglicherweise Morley.
Das Telefon klingelte wieder.
© Dörlemann Verlag
- Autor: Michael Frayn
- 2007, 2. Aufl., 300 Seiten, Maße: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Miriam Mandelkow
- Verlag: Dörlemann
- ISBN-10: 3908777305
- ISBN-13: 9783908777304
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Gegen Ende des Morgens".
Kommentar verfassen