Geld oder Leben
Das Erste, an das die Heldin dieser Geschichte glaubt, ist Schokolade. Den kindlichen Blick auf das Leben legt sie nicht ab, obwohl sie sich zur ''erwachsenen'' Frau mit Partner und Kind entwickelt. Mit ihr erleben Sie zwei Jahrzehnte Bundesrepublik - von...
Das Erste, an das die Heldin dieser Geschichte glaubt, ist Schokolade. Den kindlichen Blick auf das Leben legt sie nicht ab, obwohl sie sich zur ''erwachsenen'' Frau mit Partner und Kind entwickelt. Mit ihr erleben Sie zwei Jahrzehnte Bundesrepublik - von der Studentenrevolte bis zu Kabelfernsehen und Zusammenbruch des Neuen Markts. Immer wieder zeigt sich: Das Einzige, an das alle glauben, ist Geld.
Birgit Vanderbeke wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis.
Geld oderLeben von Birgit Vanderbeke
LESEPROBE
Es ist damit nicht anders als mit der Demokratie oder der großenLiebe oder der heilen Familie oder dem Weltfrieden. Früher gehörte der liebeGott noch dazu, und es ist immer dasselbe Prinzip: Entweder man glaubt es, oderman glaubt es nicht. Wenn alle daran glauben, heißt es, es funktioniert.
Natürlich funktioniert es dann längst noch nicht unbedingt,aber das ist nicht so furchtbar wichtig. Wenn nur alle dran glauben, wird esschon funktionieren, und die, bei denen es nicht funktioniert, haben eben nichtstark genug dran geglaubt.
Das mit dem lieben Gott hatte sich weitgehend erledigt, als ichgeboren wurde, jedenfalls mit dem lieben Gott, an den sie früher einmal geglaubthatten, wo ich geboren wurde, es gibt ja noch andere in anderen Regionen.
Ich zum Beispiel glaubte als erstes an Schokolade. Manchmalkam eine alte Frau, die eine Hexe gewesen sein könnte, so alt, wie sie war; siebrachte mir Schokoladenriegel und sagte, daß ihre Hühner an meinem Geburtstag siebenEier gelegt hätten, weil mein Geburtstag auf einen Siebenten fiel, aber das waregal, weil ich noch lange nicht zählen konnte. Ihre Hühner legten immer dreiEier für Kinder, die am Dritten Geburtstag hatten, vier für die am Vierten undso weiter, bei manchen sogar zehn, und wer an einem Über-den-Zehnten Geburtstaghatte, bekam noch eine Zauberformel, nach der die Hühner ihre Eier genau sogelegt hatten, daß es für den 21. oder den 16. paßte. Daran und an dieSchokoladenriegel konnte ich glauben, lange bevor ich zählen konnte. Bei unsgab es weder Hühner noch Schokoladenriegel, aber in einer besseren Hexenwelt,in die mein Leben mich führen würde, würden sowohl Hühner als auchSchokoladenriegel vorkommen, und also wäre es wie im Himmel, zu dem ich abendsimmer beten mußte, ohne an seine Bewohner zu glauben, einfach weil niemand andiese Bewohner glaubte, schon bestimmt nicht meine Großmutter, die mir diese Gebetebeigebracht hatte und abendlich abnahm.
Meine Großmutter glaubte an Hüte und Handschuhe. Im Herbstauch an Pfifferlinge. Eigentlich war sie einfach nur tüchtig. Sie kochte undmachte die Wäsche und die Wohnung sauber, sie kümmerte sich um den Garten undsperrte ungezogene Enkelkinder ins Bad, und manchmal vergaß sie sie dort, weilsie so tüchtig war und rasch noch die Birnen ernten mußte, und während sie dastat, glaubte sie an gar nichts, aber sobald sie das Haus verließ, fing sie mitdem Glauben an: sie setzte einen Hut auf, zog sich ein Paar Handschuhe an,fummelte an ihren Haaren herum und schaute in den Spiegel. Dann bekam sie ein ganzspitzes Mäulchen, manchmal schüttelte sie den Kopf, nahm einen anderen Hut undandere Handschuhe, und es konnte eine ganze Weile dauern, bis sie den richtigenHut und die richtigen Handschuhe hatte, aber dann hatte sie einen gewaltigenGlaubensakt vollbracht. Sie glaubte nämlich jetzt, es wäre wieder vor demKrieg, sie wäre ein junges Mädchen, ein stattlicher Mann machte ihr den Hof undwürde sie zum Tanzen oder auf ein Schützenfest einladen, sie hatte das spitzeMäulchen, das dem jungen Mann sagte, was für ein keckes Ding er sich dageangelt hatte, aber so ein Mäulchen hieß auch, daß das kecke Ding sich aufnichts Gewagtes vor der Hochzeit einlassen würde, weil es nämlich mit Hut undHandschuhen eine angehende Dame war.
Wenn meine Großmutter dann das Haus verließ, um beimFleischer an der Ecke Schlange zu stehen, ging sie nicht etwa Fleisch holen,sondern sie sagte, ich gehe aus, und sie glaubte auch, daß sie ausginge, undich konnte sehen, wie sie glaubte, daß sie ausginge, bloß weil sie einen Hutund Handschuhe trug, während die anderen Frauen in der Metzgereischlange keineHüte und Handschuhe trugen, sondern haargenau dieselben ausgebleichten Kittelschürzen,die meine Großmutter auch trug, solange sie nicht ausging. (...)
© 2003 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Interview mit Birgit Vanderbeke
Ihnen ist etwas Ungewöhnliches gelungen: Sie haben einigeder wichtigsten Literaturpreise erhalten und werden gleichzeitig von einemMassenpublikum gelesen. Wie erklären Sie sich das?
Esgibt nichts, was mir so schleierhaft ist wie literarische Erfolge oderMisserfolge. Bei meiner Arbeit denke ich gezielt nicht darüber nach, sondernmache sie so, wie sie gemacht werden möchte; und hinterher sehe ich, waspassiert. Ich war bisher bei jedem meiner inzwischen dreizehn Bücher überraschtund hätte falsch gelegen, wenn ich einen Erfolgs-Tipp hätte abgeben müssen.
"Geld oder Leben" erzählt von der großen "Glaubensfrage";davon, dass jeder seinen ganz persönlichen Götzen hat. Was beschäftigt Siebesonders an diesem Thema?
In den 90er Jahren habe ich mit einiger Fassungslosigkeitden Boom der New Economy in Deutschland (nicht nur dort, aber dort war erbesonders interessant) beobachtet und gesehen, wie Leute ihre vollkommenseriöse Arbeit aufgegeben haben, um hauptberuflich an der Börse reich zuwerden. Der anschließende Knall im Jahr 2001 war absehbar, ebenso wie diefatale politische Entwicklung und Rezession seither. In meinem Buch nun erzähleich die zwei (deutschen) Extreme, die beide absurd und fatal sind: Geld ohneArbeit ist so ungesund, und ebenso wenig kann Arbeit ohne Geldverdienstgesellschaftlich funktionieren. Über "Arbeit" müsste, vielleichtunter dem Druck der Globalisierung, wieder einmal ganz von vorn nachgedachtwerden.
Erzählt werden die Stationen einer jungen, engagierten Frau:Uni-Proteste, Öko-Bewegung, Konsumkritik. Was lebt sie vor? Eine kritische,selbstständige Haltung - oder nur auch eine Form des Zeitgeistes?
MeineErzählerin verkörpert einfach den einen Pol, den ihr Bruder "selbstgestrickt" nennt und der natürlich mit meiner Person nichts zu tun hat.Der Bruder verkörpert den anderen, der sich praktischerweise gleich keineWaren, sondern nur mehr "Geld" kaufen mag. Beides sind Karikaturenvon Typen deutscher Denkweise.
Sie selbst leben in Südfrankreich, schreiben aber immer auchüber die bundesrepublikanischen Verhältnisse der vergangenen Jahrzehnte?
Esist sehr hilfreich für einen Autor, längere Zeit im Ausland zu leben - weil ereine Unmenge kultureller Selbstverständlichkeiten plötzlich mit gewissermaßen"fremden" Augen, aus einer anderen Kultur heraus, betrachten kann.Aber los wird er die eigene Kultur sein Leben lang nicht, also werden mich diedeutschen Themen und Eigenarten und Details weiter beschäftigen.
Mit "Schmeckt s?" haben Sie inzwischen auch ein Kochbuchvorgelegt. Was macht eine Schriftstellerin anders als Fernseh- oder andereKöche, wenn sie ein Kochbuch schreibt?
Für mich gibt es zwischen dem Schreiben und dem Kochen einegewaltige Verwandtschaft; ich finde beide im gelungenen Fall Zauberei, weil manmit einer gewissen Menge an sich nicht aufregender Zutaten durch Umwandelnund Bearbeiten etwas Hochkomplexes, Beglückendes und sogar Geheimnisvollesherstellen kann. Konsequenterweise ist mein Kochbuch ein erzähltes Buch, dasauf Bebilderung, Glanzfotos und Mengenangaben völlig verzichtet und versucht,den Leser mit der Sprache zu Gerichten zu verführen, die ihm vielleichtungeläufig sind oder sogar dubios. Es ist eine Einladung, über dieGeschmacksgrenzen hinauszugehen, die in den letzten zehn Jahren doch recht enggeworden sind und durch den Siegeszug der Lebensmittelindustrie immer engerwerden.
Die Fragen stellteHenrik Flor, Literaturtest.
- Autor: Birgit Vanderbeke
- 2005, 144 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596158001
- ISBN-13: 9783596158003
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