Genesis: Bd.3 Diamant
Genesis: Diamant von Wolfgang und Heike Hohlbein
LESEPROBE
Eine halbe Stunde später trafen siealle wieder in der Zentrale zusammen
- die übliche Besatzung in derüblichen Umgebung, dachte
Ben. Mit der Zentrale verbanden sichfür ihn mittlerweile nur noch negative
Assoziationen. War er überhauptjemals in diesem Raum gewesen,
ohne dass der Besuch auf die eineoder andere Weise in einem Missklang
geendet hatte?
So genau wusste er das nicht mehr,aber dafür wusste er umso besser,
dass die Erinnerung anfünfundzwanzig der dreißig Minuten, die seit
ihrem Zusammentreffen mit denEiskreaturen vergangen waren, derart
unerfreulich war, dass er vorgezogenhätte, sie für immer zu vergessen. Den
deutlich kleineren (wenn auchdeutlich unangenehmeren) Teil dieser fünfundzwanzig
Minuten hatte er damit zugebracht,sich eine Standpauke seines
Vaters anzuhören - was genau erihm gesagt hatte, das gehörte zu den
Dingen, die er tatsächlich ausgeblendethatte, und den deutlich längeren
(allerdings auch deutlichpeinlicheren) unter den kundigen Händen seiner
Mutter, die seinen Körper Zentimeterfür Zentimeter in Augenschein genommen
und abgetastet hatte, umsicherzugehen, dass er auch wirklich
ohne den klitzekleinsten Kratzerdavongekommen war. Er hatte sich zwar
ein paar üble Schrammen eingehandelt,vor allem an den Händen, die aber
ausschließlich von seinem Sturzherrührten. Jetzt saßen sie zusammen an
dem großen Tisch in Ramanovs Allerheiligstem, und Harry stritt sich - zur
Abwechslung - wieder einmal mit demRussen. Eines war allerdings neu:
Diesmal war es Harry, der sich inder Defensive befand.
»Falls ich mich richtig erinnere«,sagte Ramanov gerade, und er musste
sich nicht einmal anstrengen, umseiner Stimme dabei den anheimelnden
Klang einer Kreissäge zu verleihen,»dann ist es noch keine vierundzwanzig
Stunden her, seit Sie behauptethaben, dass wir vollkommen sicher sind.
Nichts und niemand kommt hierherein, ohne dass wir es merken«, zitierte er
mit verstellter Stimme. »Das warendoch Ihre Worte, oder?«
Harry starrte ihn beinahe schonhasserfüllt an und presste die Kiefer
so fest aufeinander, dass Ben seineZähne knirschen hören konnte. »Das
stimmt«, sagte er schließlich. »Undich bleibe auch dabei, immer voraus-
gesetzt « Er sprach nicht weiter,sondern wandte sich übertrieben langsam
zu Tahiaum, die mit vor der Brust verschränkten Armen und in betont
lässiger Haltung an der Wand nebendem Monitor lümmelte. Die
Söldnerin führte den begonnenen Satzfür ihn zu Ende.
» wir haben vollen Zugriff auf dasSystem.«
»Was soll das heißen?«, schnappte Ramanov. »Wollen Sieetwa behaupten-?«
»Ich behaupte gar nichts«,unterbrach ihn Tahia. Ben konnte ihr deutlich
ansehen, wie gründlich sie sichüberlegt hatte, was sie sagte, und wie
sehr sie jedes einzelne Wort genoss.Noch bevor sie auch nur den ersten
Satz zu Ende gesprochen hatte, warihm klar, dass Ramanov zumindest
diesmal keine Chance haben würde;und ein rascher Blick ins Gesicht
des Russen zeigte ihm, dass er daswohl genauso sah. Er wirkte überrascht,
aber auch verunsichert und einbisschen bestürzt.
»Ich sage«, fuhr Tahia nach einer dramatischen Pause und mit veränderter
Betonung fort, »dass Tooth ununterbrochen aufgepasst und sämtliche
Kameras beobachtet hat. Ich war fastdie ganze Zeit bei ihm und Gerrit
auch. Wir hätten ihr Eindringenschon alle drei übersehen müssen.«
»Vielleicht funktionieren ja nichtmehr alle Kameras«, murmelte Ben.
Er hörte selbst, wie wenigüberzeugend das klang.
»Oder Sie haben schlichtweg schlechtgearbeitet«, bemerkte Ramanov
verächtlich.
Tahia ignorierte ihn und schlendertescheinbar gelangweilt heran.
»Nein. Die Kameras funktionierenalle.« Sie warf Harry einen - fast -
unmerklich fragenden Blick zu, dendieser mit einem ebenso angedeuteten
Nicken beantwortete. Geradeauffällig genug, dass das stumme Zwiegespräch
Ramanov eben nicht entging. »Unser Problemist ein ganz anderes
«, erklärte sie schließlich.
Ramanov runzelte wunschgemäß die Stirn undfragte: »Und welches?«
Tahia tauschte einen weiteren Blick mitHarry, bevor sie antwortete
und zugleich die Hand in einer fastbeiläufig wirkenden Bewegung nach
der Computertastatur ausstreckte,die vor Ramanov auf dem Tisch lag.
Der Russe machte eine Bewegung, wieum sie daran zu hindern, wagte es
dann aber doch nicht. Ben nahm an,dass es auch gesünder für ihn war.
»Eigentlich sind es zwei Probleme.Vielleicht fange ich mit dem kleineren
an.« Ihre Finger huschten über dieTastatur, und der Monitor hinter
ihr erwachte lautlos zum Leben. Inder ersten Sekunde zeigte er das
gewohnte Schneegestöber, aber schonnach einem Augenblick leuchtete
das Bild in allen nur vorstellbarenGrüntönen und ähnelte plötzlich dem,
was er vorhin auf Tooths Laptop gesehen hatte, nur dass es deutlich
größer war und um einiges schärfer.
Trotzdem erkannte man keineEinzelheiten, und nach ein paar Sekunden
fragte Ramanovdann auch: »Und? Was bedeutet das?«
Tahias Finger glitten weiter über dieTastatur, ohne dass sie auch nur
hingesehen hätte, und das Bild wurdenoch einmal schärfer; vielleicht
hatte sich Ben inzwischen auch nuran den Anblick gewöhnt. So oder so
konnte er jetzt tatsächlich Detailsausmachen. Aus den grünen Gespenstern
wurden menschenähnliche und klarunterscheidbare Gestalten, immer
noch Gespenster, nun aber menschlicheGespenster. Hinter ihnen,
gerade weit genug entfernt, um einunheimlicher, zitternder Schemen zu
bleiben, stand etwas Großes undHelles, das eine bizarre Krone zu tragen
schien. Es war nicht nötig, es genauzu erkennen.
»Das war vor einer Stunde«, sagte Tahia ruhig.
»Als Sie ganz fest davon überzeugtwaren, dass alles in Ordnung ist«,
schnaubte Ramanov.
»Das ist die der Rückseite derStation«, fuhr Tahia fort, als hätte er gar
nichts gesagt. »Dort gibt es eineServiceklappe, den Zugang zu einem
Schacht, der zur Klimaanlage und demBelüftungssystem gehört.«
»Eine sensationelle Erkenntnis«,stichelte Ramanov.
»Allerdings ist er mit einemziemlich massiven Gitter gesichert - und
zusätzlich natürlich mit der Alarmanlagegekoppelt.«
Sie sah den Russen an, als erwartesie eine ganz bestimmte Antwort,
und Ramanovtat ihr auch den Gefallen. »Was Sie und Ihre Kollegen offensichtlich
nicht davon abgehalten hat, ihrEindringen nicht zu bemerken.
Ich nehme doch an, sie sind aufdiesem Weg hereingekommen?«
»Schauen Sie in die rechte obereEcke des Bildschirms, Professor«, sagte
Tahia ruhig. »Sie sehen die Uhrzeit unddie Nummer der Kamera, von
der diese Aufnahme stammt, nichtwahr?« Sie berührte eine einzelne
Taste. »Und was sehen Sie nun?«
Das Bild wechselte zu der ebenfallsfalschfarbenen Aufnahme einer
wesentlich kleineren Gruppe plumperdreifingriger Gestalten, die einfach
mitten im tobenden Sturm standen undgar nichts taten.
Das Einzige, was sich nicht änderte,war die Uhrzeit und die Nummer
der Überwachungskamera in derBildschirmecke.
Ramanov beugte sich mit gerunzelter Stirnvor und starrte den Monitor
mindestens fünf Sekunden lang an:»Und was ist das?«
»Das, Professor«, meldete sich Harryan Tahias Stelle zu Wort, »ist die
Aufnahme, die wir gesehenhaben. Dieselbe Kamera - angeblich - und
dieselbe Uhrzeit.«
Ramanov nickte. »Sie wollen behaupten, essei ein technischer Defekt
gewesen und Sie könnten gar nichtsdafür?«, vermutete er spöttisch.
»Genau das habe ich im ersten Momentauch geglaubt«, antwortete
Harry. »Aber dann hat sich Tahia diese Avi-Datei genauerangesehen.«
Avi-Datei?, dachte Ben verwirrt. Wieso Avi-Datei? Das war ein komprimiertes
Bildformat, mit dem man Dateienbesonders platzsparend
und klein auf einer DVD oderFestplatte unterbringen konnte - aber
diese Bilder waren eineRealzeitübertragung des Kamerabildes oder?
Er glaubte nicht, dass Harry diesesWort rein zufällig gewählt hatte,
aber wenn es Ramanovetwas sagte, dann ließ er es sich jedenfalls nicht
anmerken. Er sah Harry nurauffordernd und eher noch misstrauischer
an. Der Söldner gab Tahia ein Zeichen.
»Das ist keine Liveübertragung«,sagte sie.
»Sondern?«,fragte Ben, wobei er allerdings das ungute Gefühl hatte,
die Antwort bereits zu kennen.
»Eine Schleife. Neunzig Sekunden, inständiger Wiederholung
aber raffiniert gemacht, das mussich zugeben. Die Datenmenge ist klein
genug, dass es weder zu einemRuckeln noch zu einer erkennbaren Verzögerung
bei der Übertragung kommt, und dazugibt es noch ein winziges
Programm, das den Clip in zufälligwechselnden Variationen abspielt,
mal um eine Winzigkeit schnelleroder langsamer, in unterschiedlicher
Qualität und Helligkeit und auch malrückwärts.« Sie machte ein
anerkennendes Gesicht. »DieUnterschiede sind so klein, dass man sie
bewusst gar nicht wahrnimmt, abertrotzdem hat man nicht das Gefühl,
immer dasselbe zu sehen. Wie gesagt:sehr raffiniert.«
»Das ist ja ganz beeindruckend«,meldete sich Jennifer Berger zu
Wort. »Aber warum erzählen Sie unsdas? Meinen Sie nicht, dass wir im
Moment andere Probleme haben, alsuns über ein raffiniertes Computerprogramm
zu unterhalten?«
»Ich fürchte, das ist unserProblem, Jennifer«, sagte Harry betont.
Bens Vater runzelte die Stirn, alsHarry seine Frau so ganz selbstverständlich
mit dem Vornamen ansprach. SeineMutter fragte nur:
»Wieso?«
»Das war keine technischeFehlfunktion, meine Liebe«, sagte Ramanov,
noch bevor Harry oder Tahia antworten konnten. »Habe ich Recht?«
Die letzte Frage galt Harry, der siemit einem finsteren Nicken beantwortete.
»Ja. Jemand hat uns diese Bilderuntergeschoben. Ganz gezielt.«
Er deutete auf den Laptop, den Tooth mitgebracht hatte. »Wir haben
uns auch die anderen Aufzeichnungenangesehen. Sie sind in Ordnung.
Nur diese eine wurde manipuliert.«
»Das heißt, jemand hat sich an derKamera zu schaffen gemacht?«,
fragte van Staaten erschrocken.
»Ich wünschte, es wäre nur das«,sagte Harry ernst. »Hätten sie nur die
Kamera zerstört oder sich irgendwiedaran zu schaffen gemacht, würde
mich das nicht einmal sehrbeunruhigen, offen gestanden. Mir ist ein
Gegner, der scheinbar gar nichtstut, eindeutig unheimlicher als einer,
der etwas unternimmt, auch wenn er michdamit in Schwierigkeiten
bringt. Aber das da ist ein ganzanderes Kaliber.«
»Ach?«,meinte Ramanov. »Und wieso?«
»Weil es nicht unsere Freunde dortdraußen waren. Verstehen Sie, Professor?
Diese Bilder wurden vorbereitet, undzwar lange bevor sie angefangen
haben das Gitter zu entfernen. Wie gesagt,jemand hat sie uns untergeschoben.
« Er legte eine spürbare Pause ein,in der sein Blick kurz, aber
sehr aufmerksam über die Gesichterder Anwesenden tastete. Dann sagte
er betont: »Jemand von hierdrinnen.«
»Wissen Sie, was Sie da behaupten?«, fragte Ramanov schockiert.
»Dass wir einen Verräter unter unshaben. Ja.«
»Aber das ist doch Unsinn!«, rief Bens Mutter. »Man sollte niemals
vorschnell einen Verdacht äußern.Vor allem nicht in einer Situation wie
unserer. Vielleicht war es wirklichein technisches Versagen. Oder diese
Dinger da sind schlauer, als wirbisher angenommen haben.«
»Die Alarmanlage wurde ebenfallsmanipuliert«, sagte Tahia ruhig.
»Und zwar von hier drinnen. Ich kannIhnen sogar sagen, wann und von
wo.«
»Von wo?«,wollte Ramanov wissen.
»Genau von hier aus, Professor. VonIhrem Rechner aus, um genau zu
sein, und mit Ihrem Passwort. Daswar, bevor ich die Zugriffscodes geändert
habe.«
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© Verlag Ueberreuter
- Autoren: Wolfgang Hohlbein , Heike Hohlbein
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2006, 527 Seiten, Maße: 15,6 x 23 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ueberreuter
- ISBN-10: 3800052679
- ISBN-13: 9783800052677
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