Gnade
Johan Sletten hat sich nie besonders hervorgetan, nicht im Beruf, nicht in seiner Ehe, nicht als Vater. Sein einziger Segen ist seine zweite Frau Mai. Als er erfährt, dass er bald sterben wird, trifft er die erste mutige Entscheidung seines Lebens....
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Johan Sletten hat sich nie besonders hervorgetan, nicht im Beruf, nicht in seiner Ehe, nicht als Vater. Sein einziger Segen ist seine zweite Frau Mai. Als er erfährt, dass er bald sterben wird, trifft er die erste mutige Entscheidung seines Lebens.Johan will nicht sterben, und vor allem will er nicht so sterben, wie er gelebt hat. Sein Leben läuft vor seinem inneren Auge ab und er fühlt sich klein und ohne Würde. Groß und geehrt fühlt er sich nur, wenn er Mai sieht. Sie ist sein ganzes Glück, seine Gnade, wie er sagt. In ihrer Gegenwart fallen Ängstlichkeit und Unsicherheit von ihm ab. Ihre Liebe zu ihm macht ihn stolz.
Und daher flüchtet er sich mit seinem entsetzlichen Wissen zu Mai, die ihm bei seinem letzten Gang helfen soll. Aber reicht ihre Liebe zu Johan so weit?
Linn Ullmann ist die Tochter von Liv Ullmann und Ingmar Bergmann. Sie ist mit einem norwegischen Bestseller-Autor verheiratet, und ihr Schwager ist Henning Mankell.
Gnade von LinnUllmann
LESEPROBE
Als ihm der jungeArzt nach einigem Hin und Her die neue Diagnose offenbarte und sich ein
wenig halbherzigdarüber ausließ, welche Behandlungsmethoden seiner Meinung nach angemessenwären, ohne jedoch zu verheimlichen, dass das Elend meinen Freund Johan Slettenam Ende das Leben kosten würde, schloss Johan die Augen und dachte an MaisHaare.
Der Arzt war einjunger Mann mit hellen Haaren, der nichts dafür konnte, dass er große,veilchenblaue Augen hatte, die einer Frau viel besser zu Gesicht gestandenhätten. Er erwähnte den Tod mit keinem Wort. Das Wort, das er benutzte, war»alarmierend«.
»Johan!«, sagteder Arzt und versuchte, den Blick des anderen einzufangen. »Bitte hören Sie mirzu.«
Johan gefiel dieseVerwendung des Vornamens nicht. Außerdem hatte die Stimme des Arztes etwasSchrilles.
Es hörte sich an,als hätte er den Stimmbruch nie ganz hinter sich gebracht oder als wäre er alsKind womöglich von den Eltern kastriert worden, die sich eine Zukunft alsEunuch für ihn erhofft hatten, überlegte Johan, der das mit dem Vornamen unddem Nachnamen ansprechen wollte, vor allem im Hinblick auf denAltersunterschied. Der Arzt war jünger als Johans eigener Sohn, mit dem er seitacht Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Doch es ging nicht nur um dieErziehung, wenn er meinte, dass jüngere Menschen ältere Menschen nicht einfachmit dem Vornamen anreden sollten, nein, Johan hatte immer Wert darauf gelegt, einegewisse Distanz zu wahren. Jegliche Form von Intimität zwischen Fremden -beispielsweise die Unart, sich in sozialen Situationen zu umarmen (odervielleicht nicht wirklich zu umarmen, sondern lediglich flüchtig die Wange desanderen mit der eigenen zu berühren) - empfand er als unangenehm und im Grunde respektlos.Er zog es, wie gesagt, vor, dass man ihn, wenn man nicht mit ihm verheiratetwar, Sletten nannte.
Nicht Johan.Sondern Sletten. Und das wollte er dem Arzt gerne sagen, traute sich abernicht, weil es ihm unklug vorkam, jetzt eine ungute Stimmung zwischen ihnenaufkommen zu lassen. Er wollte den Arzt nicht verärgern. Das könnte denGesprächsverlauf beeinträchtigen. Der Arzt könnte auf die Idee verfallen,unaussprechliche Dinge über Johans Zustand zu sagen, einfach nur, weil ervergrätzt war und weil er sich nicht gerne über seine Erziehung belehren ließ.
»Ich hatte miretwas andere Ergebnisse erhofft«, fuhr der Arzt fort.
»Hm«, sagte Johanund gönnte ihm ein Lächeln. »Ich fühle mich ja schon viel besser.«
»Der Körper istbisweilen tückisch«, flüsterte der Arzt, vielleicht etwas unsicher, ob dieFormulierung »tückischer Körper« nicht ein wenig übertrieben war.
»Hm«, sagte Johannoch einmal.
»Ja, also«, sagteder Arzt und wandte sich seinem Computer zu, »wie ich bereits erwähnt habe,besteht ein gewisser Grund zur Sorge.«
Dann folgte einkurzer Monolog, in dem ihm der Arzt die Ergebnisse und ihre praktischenKonsequenzen darlegte, zum Beispiel, dass eine neue Behandlung notwendig wäre,möglicherweise sogar eine weitere Operation. Gleichzeitig versuchte Johan, dernur gelegentlich zu Wort kam, den Arzt davon zu überzeugen, dass er sicheigentlich besser fühlte, und könnten sie sich nicht wenigstens darauf einigen,dass dies ein gutes Zeichen wäre? Auch wenn der Körper, wie gesagt,tückisch sei. Doch als der Arzt am Ende das Wort »Streuung« in den Mund nahm,fast beiläufig, gab Johan es auf, ihn überhaupt noch von irgendetwas überzeugenzu wollen. »Streuung« war so ein Wort, auf das er sein ganzes erwachsenes Lebenlang gewartet hatte - er hatte es erwartet, gefürchtet und vorhergesehen.
Es gibt keineVeranlassung, nicht einmal nach seinem Tod, zu verheimlichen, dass JohanSletten ein unverbesserlicher Hypochonder und Schwarzseher war und dasssich diese Szene - die Urszene eines Hypochonders - zwischen dem Arzt und ihmin seinem Kopf immer und immer wieder abgespielt hatte, seit er ein junger Mannwar. Doch im Gegensatz zu diesen Urszenen, behutsam inszeniert und in seinemKopf unablässig redigiert, war die reale Szene, das, was tatsächlich passierte,weitaus weniger dramatisch, als Johan es in seiner Fantasie vorhergesehenhatte.
»Streuung?«,fragte Johan.
»Das bedeutetnicht «, sagte der Arzt.
»Streuung«, sagteJohan.
Und der Arztwiederholte noch einmal, dass dies nicht zwangsläufig bedeute, was es in denallermeisten Fällen bedeutete. Das jedenfalls sagte er, wenngleich natürlichnicht mit diesen Worten. Es war ein sympathischer junger Arzt, der Johan vonAngesicht zu Angesicht gegenübersaß. Er wollte dem Patienten Zeit geben, dieDiagnose zu verdauen, schließlich saß er da und besiegelte gerade das Leben einesanderen Menschen und hatte bestimmt in seinem Medizinstudium auch einmal etwasüber Empathie gelernt, dachte Johan.
»Wie lange, meinenSie, habe ich noch «, sagte Johan.
»Dazu meine ichüberhaupt nichts«, antwortete der Arzt. »Das ist höchst individuell und wiegesagt, es gibt gute Möglichkeiten.«
»Aber im Schnitt«,unterbrach ihn Johan. »Wie lange kann jemand wie ich leben? Rein statistischgesehen?«
»Ich finde nicht«
Johan unterbrachihn erneut.
»Wenn nicht ichhier sitzen würde, wenn ich nicht ich wäre, und Sie nicht Sie, wenn wir zweizufällige Menschen wären, und Sie, der also nicht Sie wäre, darum gebetenwürden, sich ganz allgemein zu äußernja, verstehen Sie was würden Sie dannsagen?«
»Wie gesagt: Dazumöchte ich am liebsten überhaupt nichts sagen.«
Johan schlug mitder Faust auf den Tisch.
»Zeit, Mann! GebenSie mir wenigstens eine ehrliche Antwort, geben Sie mir einen Anhaltspunkt.Geben Sie mir eine Zeit! Verstehen Sie?« Johan hielt dem Arzt seine Uhr vorsGesicht. »Ich will eine Zeit haben.«
Der Arzt entzogsich nicht, sondern erwiderte Johans Blick.
»Ein halbes Jahr,vielleicht mehr, vielleicht weniger«, sagte er. Und dann, nach einer Pause:»Aber wie ich schon sagte « Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Es wurde still.Johan sah zu Boden, zupfte an seiner rechten Augenbraue, eine schlechteAngewohnheit, die er seit seiner Kindheit hatte und die seinem Gesicht etwasSchiefes verlieh, da er über dem linken Auge eine buschige Braue hatte und überdem rechten eine gezupfte. Er versuchte herauszufinden, was genau er empfand.Für die Worte des Arztes gab es kein Zurück, aber es waren, wie gesagt, Worte,keine Schläge oder Liebkosungen, und Worte brauchen länger, bis sie wirken. Daswusste er. Er spürte noch keinen Unterschied, er fühlte sich eigentlichziemlich fit, er fühlte sich bereits seit etwa einer Woche fit, so fit wieschon lange nicht mehr. Nichts hinderte ihn daran, aufzustehen und dasArztzimmer zu verlassen. Er könnte in die Stadt gehen, das Frühlingswettergenießen, vielleicht eine Buchhandlung aufsuchen oder einen Plattenladen, sichetwas kaufen oder einfach ein wenig bummeln und sich umschauen. Kein Menschhatte das Gespräch mit dem Arzt mit angehört. Es könnte geheim gehalten werden.Und alles wäre wie früher. Es würde ihn aufmuntern, eine Runde durch die Stadtzu drehen, das Arztzimmer kam ihm heiß und stickig vor. Der Arzt roch nachSchweiß, das war Johan sofort aufgefallen, als er das Zimmer betreten hatte.
Er erhob sich undsagte: »Ich bin verwirrt, ich muss jetzt gehen, wir sprechen uns späterwieder.«
Der Arzt nickte.
Und dann sagteJohan: »Meine Frau hilft mir dabei. Mai hilft mir.« Und erneut dachte er anMais Haare, die (und das war das Merkwürdige) glänzten, auch wenn es im Zimmerdunkel war.
© VerlagsgruppeDroemerKnaur
Übersetzung: Ina Kronenberger
- Autor: Linn Ullmann
- 2006, 171 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ina Kronenberger
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426631555
- ISBN-13: 9783426631553
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