Gnadenlose Mission

"Ein milchiges Flimmern, hinter dem die Sonne nur zu vermuten
war, verwischte die Konturen der Villa. Der Geruch von gefrorenem Laub stieg ihr in die Nase. Sie war früh dran. Eine neue Runde im Spiel Immobilienmaklerin trifft Interessenten lag vor ihr. Das war ihr tägliches Brot und bedeutete ihr nicht viel. Ihre wahre Passion aber durfte sie in der nächsten halben Stunde ausleben.
Zuerst umrundete sie ehrfürchtig das dreigeschossige neoklassizistische Gebäude in der Clara-Zetkin-Straße auf dem wohl zweitausend Quadratmeter großen Grundstück. Der Vorbau mit der halbrunden verfallenen Terrasse an der Westseite versprühte noch seinen früheren Charme. Immer wieder versperrten ihr kahle Bäume und Büsche aus Wildwuchs den Weg. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich weiterstolpernd die Umrisse der Villa in ihr
Gedächtnis zu speichern.
Wie hohl klangen doch architektonische Beschreibungen, wenn sie wie hier von einer ursprünglichen L-Form des Grundrisses sprachen, die durch Erweiterungsanbauten einen rechteckigen Gesamtbaukörper erhielt. Viel lieber betrachtete die junge Frau die leibhaftigen Proportionen und Formen mit eigenen Augen. Diese hatten die Färbung eines aromatischen Milchkaffees und spiegelten die Mauern in Ausschnitten wider, wie sie nur ein erfahrener Fotograf auf die Linse bannen konnte.
Im Moment interessierte sie weder der Architekturstil, der reiche Fassadenschmuck noch der Zustand der Bausubstanz oder die Anordnung der Rundbogen- und Rechteckfenster - all die Äußerlichkeiten, die für den künftigen Besitzer von Belang waren. Ihr ging es um die Ausformung des Gebäudes und damit der inneren Räume. So, wie ein Resonanzkörper den Klang von Musikinstrumenten bestimmte, sorgten Fluchten, Türmchen und Erker eines Hauses für seinen ganz eigenen Raumklang. Nicht jeder konnte diesen wahrnehmen oder erfühlen, ob ein Gebäude einem freundlich oder ablehnend gesinnt war. Es war auch nicht jeder in der Lage, die Klangfarbe von Tönen zu sehen. Und doch gab es

Ulla Spörl wurde 1955 im thüringischen Schleiz geboren, durchlief die DDR-übliche Schulbildung und flüchtete kurz vor dem Abitur nach Westberlin. Familiäre Gründe zwangen sie, in die DDR zurückzukehren, wo sie ihren Wunschberuf als Journalistin aufgeben musste. Nach Stasi-Haft, einer Zwangslehre mit Arbeitsplatzbindung in der Produktion und zehn Jahren Qualifizierungsverbot gelang ihr in den 1980er-Jahren der Abschluss als Industriemeisterin und die Aufnahme eines Pädagogikfernstudiums. Nach der Wende engagierte sie sich in einem Verein für die Opfer von SED-Willkür und begann, literarisch tätig zu werden. Freiberuflich arbeitet sie seit 2005 als regionalhistorische Sachbuchautorin und seit 2008 als Romanautorin.