Götter, Helden, Denker
Keine Epoche der Weltgeschichte fasziniert so nachhaltig wie die griechische Antike: Die olympischen Götter und ihre verblüffend menschlichen Affären, Meilensteine der Dichtung, Kunst und Architektur, aber auch die bahnbrechenden Leistungen in Wissenschaft...
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Produktinformationen zu „Götter, Helden, Denker “
Keine Epoche der Weltgeschichte fasziniert so nachhaltig wie die griechische Antike: Die olympischen Götter und ihre verblüffend menschlichen Affären, Meilensteine der Dichtung, Kunst und Architektur, aber auch die bahnbrechenden Leistungen in Wissenschaft und Philosophie auf nahezu jedem Gebiet hat Hellas Maßstäbe für die Zukunft gesetzt. Gemeinsam mit renommierten Altertumsforschern schildern SPIEGEL-Autoren den Werdegang dieser einzigartigen Kultur von der archaischen Zeit bis zum Hellenismus und erklären die bleibende Bedeutung der Epoche.
Hellas, Homer und heroische Kämpfer - eine Einführung in die griechische Antike Keine Epoche der Weltgeschichte fasziniert so nachhaltig wie die griechische Antike: Die olympischen Götter und ihre verblüffend menschlichen Affären, Schlüsselwerke der Dichtung, Kunst und Architektur, aber auch die bahnbrechenden Leistungen in Wissenschaft und Philosophie - auf nahezu jedem Gebiet hat Hellas Maßstäbe für die Zukunft gesetzt. Gemeinsam mit renommierten Altertumsforschern schildern nun SPIEGEL-Autoren den Werdegang dieser einzigartigen Kultur von der archaischen Zeit bis zum Hellenismus und erklären die bleibende Bedeutung der Epoche.
Lese-Probe zu „Götter, Helden, Denker “
Götter, Helden, Denker von Johannes SalzwedelVorwort
Kaum eine Epoche der Weltgeschichte ist in den vergangenen
Jahren so fundamental neu interpretiert worden wie die griechische
Antike. In scharfem Gegensatz zur klassizistischen Verklärung,
wie sie im Gymnasialkanon wilhelminisch-viktorianischer
Prägung ihren Höhepunkt erreichte, ist heute auf allen
Feldern der Altertumswissenschaft ein „Oriental Turn" beinahe
revolutionären Ausmaßes im Gange. Vom unbezweifelten Kernstück
bürgerlicher Bildung, in der Homers Epen, die Dramen des
Sophokles oder Platons Dialoge feste Ewigkeitswerte darstellten,
hat sich die hellenische Kultur zur heftig debattierten Schnittstelle
zwischen Ost und West, Asien und Europa entwickelt. Spät
erweist sich so als prophetisch, was Friedrich Hölderlin schon
1803 schrieb: Gerade weil die griechische Kunst „uns fremd" sei,
müsse man „das Orientalische" an ihr eigens hervorheben; nur
auf diese Art könne unsere „abendländische junonische Nüchternheit"
zu echtem Verständnis der Antike gelangen. Verständnis
aber bleibt unentbehrlich, denn den Spuren griechischer
Ursprünge begegnet man in Europa und der westlichen Welt
auf Schritt und Tritt. Woher kamen diese Hellenen, deren Götterwelt
und Forschergeist der westlichen Kunst und Wissenschaft
entscheidende Anregungen vermittelt haben? Warum konnte ein
Volk (sofern sich diese Bezeichnung heute überhaupt noch halten
lässt) weit über die Antike hinaus kulturelle Kraft ausüben?
... mehr
Wie intensiv solche Fragen momentan unter den Fachleuten
debattiert werden, ist in diesem Buch mit Beiträgen von SPIEGEL-
Redakteuren und renommierten Wissenschaftlern an vielen
Einzelheiten zu erkennen. Da kreist der Basler Homer-Experte
Joachim Latacz die Ursprünge der „Ilias" ein und betont ihren
poetischen Rang. Sein Kieler Kollege Josef Wiesehöfer macht die
Gegenrechnung auf: Er führt vor, in welchem Maß die frühen
Griechen kulturelle Anregungen aus dem Osten aufnahmen. Die
Epoche des Hellenismus, lange als Periode von Schwulst und
Dekadenz verkannt, hat sich zu einem Lieblingsfeld der Detailforschung
entwickelt. Der Althistoriker Hans-Ulrich Wiemer gibt
einen souveränen Überblick dieser wahrhaft multikulturellen
Zeit; sein Hamburger Kollege Burkhard Meißner schildert im
Kontrast dazu beispielhaft das geradezu stalinistische Regime
des Makedonen-Herrschers Philipp V. Auch über die Philosophie
der Griechen, von den Vorsokratikern bis zum großen Empiriker
Aristoteles und darüber hinaus, gibt es weiterhin ergiebige
Diskussionen. Die Philosophen Thomas Buchheim und
Michael Großheim erklären, welch fundamentale Rolle die denkerische
Neugier der Hellenen für das Weltbild Europas spielt.
Hans-Joachim Gehrke, der Präsident des Deutschen Archäologischen
Instituts, sieht die Aufbruchsstimmung innerhalb seiner
Zunft als große Chance. So sehr sich unter seinen Kollegen
der Blick „nahezu komplett gedreht" habe, erklärt der Freiburger
Althistoriker, und so viele Begriffe man kritisch befragen müsse -
eines stehe fest: Von Griechenlands Urproblem, „Einheit und
Vielfalt zu verbinden", könne Europa weiterhin lernen. Das gilt
ebenso vom schöpferischen Elan der Hellenen, ihrer Lust an
der Sprache und ihrem unstillbaren Wissensdurst. Mit seinen
Übersichten und Nahaufnahmen, Porträts großer Gestalten und
manchem vergnüglichen Seitenblick lädt dieses Buch dazu ein,
die faszinierende Vielfalt einer der entscheidenden Phasen der
Weltgeschichte neu zu entdecken.
Hamburg, Sommer 2008 Johannes Saltzwedel
HELLAS UND DIE FOLGEN
„JENES BEKANNTE VÖLKCHEN"
Von Trojas Helden bis zur Logik - fast alle Leitmotive
der westlichen Kultur stammen aus dem antiken
Griechenland. Im Rückblick zeigt sich: Hellas ist lebendig
geblieben, weil es unentwegt neu erfunden wurde.
Von Johannes Saltzwedel
Apollon hat es nicht leicht. „Früher waren wir mal berühmt - da
haben die Leute noch an uns geglaubt", seufzt der selbsternannte
Frauenheld. „Diese Verehrung, dieser Ruhm, das war wie - tja,
es war richtig Anbetung."
Jetzt dagegen lebt er von Wahrsagerei im Fernsehen und
wohnt mit seiner Zwillingsschwester Artemis, die einen Gassi-
Service für Hunde betreibt und sonst wie besessen joggt, in
einem heruntergekommenen Stadthaus im Londoner Norden.
Ihren klapprigen Daddy Zeus haben sie in eine Dachkammer
abgeschoben, denn in den übrigen Zimmern wohnen unter
anderem noch Managerin Athena, Nachtclub-Besitzer Dionysos,
der dauernd mit Kopfhörern auf den Ohren herumläuft, und die
verflixt attraktive Telefonsex-Angestellte Aphrodite.
So frech, wie die Britin Marie Phillips in ihrer vergangenen
Sommer erschienenen Roman-Farce „Gods behaving badly"
das Personal des Olymps ins schmuddelige 21. Jahrhundert versetzt
hat, ist man mit den mächtigen Herrschaften nicht immer
umgegangen. Aber eines beweist der große Erfolg des Buches
auf jeden Fall: Die starken Typen aus dem alten Hellas sind
auch heute noch für manche Story gut - durchaus nicht nur als
Pausen-Gag.
Geradezu verbissen kämpfen beispielsweise seit Anfang dieses
Jahres gestandene Professoren der Alten Geschichte, Philologen
und Archäologen um Homers Troja. Seit der Mythen-Jongleur
Raoul Schrott das bizarre Szenario auftischte, der Verfasser der
„Ilias", bisher als kleinasiatischer Grieche identifiziert, sei ein
Schreiber-Eunuch in assyrischen Diensten gewesen, der für sein
episches Opus in Versen munter am Feierabend vorderasiatische
Vorlagen ausgeschlachtet habe, sind Feuilleton und Fachwelt
nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Zwar leugnet von den Experten letztlich niemand, dass die
inzwischen auf Buchlänge ausgewalzte Spekulation („Homers
Heimat", Hanser Verlag) vielfach wissenschaftliche Standards
unterläuft. Aber der Elan, mit dem Kenner aus diesem Anlass
öffentlich zu streiten angefangen haben, wie denn eine Helden-
und Belagerungsgeschichte aus dem erzählerischen Gen-Pool des
östlichen Mittelmeerraums zur poetischen Gründungsurkunde
griechischer Identität werden konnte, zeigt deutlich: Hier geht
es um nichts Geringeres als die geistigen Grundlagen Europas.
Sachdienliche Hinweise liefert jedes bessere Wörterbuch
selbst der deutschen Sprache. Idee und Phänomen, Charakter
und Horizont, Chaos und Asyl, Engel und Teufel, aber auch
Handfestes wie Butter, Messing, Anker, Schminke, Eisbein und
sogar Bombe - all diese Wörter gehen auf griechische Ursprünge
zurück. Striche man sämtliche Vokabeln, die (oft in lateinischer
Version, manchmal bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen) aus
hellenischem Erbe stammen, schrumpfte das geistige Repertoire
auf ein bedrohliches Minimum. Vor allem Mathematiker, Ärzte,
Physiker, Ingenieure, Musiker, aber auch Theologen und Philosophen
verlören unversehens die Kernbegriffe ihres Metiers.
Aber das ist nur der Anfang. Von den Heldengeschichten
Homers über die aufrüttelnd privat-emotionale Lyrik der Sappho
und ihrer Sängerkollegen, vom athenischen Drama bis zum
Abenteuer-gespickten hellenistischen Liebesroman - so gut
wie jede literarische Gattung kann sich auf griechische Urbilder
berufen. Wie ein gigantischer Fundus sind Plots und Personal der
alten Geschichten bis heute abrufbar. Gemeinsam mit den Vorbildern
für Kunst und Architektur sowie den Regeln und Motiven
der Theorie (noch so ein griechisches Grundwort) bilden sie
Tasten einer allumfassenden geistigen Klaviatur: „Im Grunde
sind ja alle heutigen religiösen Ideen bis hin zum Atheismus
schon damals ausprobiert worden", sagt etwa der Münchner
Archäologe Raimund Wünsche (siehe Seite 81ff.).
Bereits die Römer der augusteischen Zeit waren sich darüber
klar, dass sie den von ihnen besiegten östlichen Nachbarn intellektuell
nahezu alles verdankten. „Als dann Hellas bezwungen,
bezwang es den rohen Besieger / Brachte zu Latiums Bauern die
Kunst", gab schon der Dichter Horaz zu; der Zeitgenosse Vergil
hatte, wie jeder Literaturfreund wusste, sein Nationalgedicht um
Roms Stammvater Äneas bis in Einzelheiten nach dem Vorbild
der beiden homerischen Epen angelegt. In der Rhetorik, dem
Rüstzeug der Politiker, rieten Lehrmeister vom aufgedonnerten
„asianischen" Stil ab und verlangten nach konzis-eleganter
„attischer" Beweisführung.
Allerdings: So legendär Hellas als Bildungsquelle blieb, so
ungeschützt war es schon lange vor Christi Geburt in politischer
Hinsicht. Als dann der Erlöserglaube sich durchsetzte und zur
Staatsreligion avancierte (380 n. Chr.), als der Kirche beim allmählichen
Zerfall des Römerreichs politisch wie kulturell immer
größere Autorität zufiel, geriet das geistige Erbe der Griechen in
den Generalverdacht sündigen Heidentums. Die Schrecken der
Völkerwanderung, das Aufkommen des Islam im 8. und 9. Jahrhundert
und die Trennung von Ost- und Westkirche kappten
die meisten Verbindungen Resteuropas zu seinen hellenischen
Ursprüngen. Um 1400 bewunderten die Gelehrten in Paris, Prag
oder Oxford zwar Aristoteles, den Begründer der Naturwissenschaften
und Patriarchen von Metaphysik und Logik - aber seine
Werke studierten sie gewöhnlich in lateinischer Übersetzung, die
mitunter nach arabischer Vorlage entstanden war.
Erst im 15. Jahrhundert brach dieser Bann. Wie eine Offenbarung
feierten es Humanisten in Italien und bald in ganz
Europa, als wandernde Gelehrte die ersten Originalmanuskripte
griechischer Philosophie und Literatur aus Byzanz mitbrachten.
Der neuartige Buchdruck machte Texte, die bislang in fernen
Truhen verstaubt waren, verblüffend leicht zugänglich. Vom
angeblich heidnischen Inhalt ließen sich die Entdecker nicht
bange machen.
Unter den Intellektuellen setzte ein wahrer Griechisch-
Boom ein. Selbst Machtmenschen wie Urbinos Herzog Federigo
da Montefeltro (1422 bis 1482) oder der Florentiner Stadtherr
Lorenzo de' Medici (1449 bis 1492) wurden von der Begeisterung
der Humanisten angesteckt. In ihrem als Reich des Geistes verehrten
Griechenland, für dessen „Wiedergeburt" (Renaissance)
sie arbeiteten, war das Politische fast völlig ausgeblendet; übrig
blieb ein weltbürgerlich-philosophischer Bildungskanon, der
trotz kirchlicher Opposition bis weit in den Schulunterricht neue
Wissensmaßstäbe setzte.
Der Venetus A, eine der wichtigsten Homer-Handschriften, liegt
Bibliothek der Universität Basel
seit 1468 in der Marcus-Bibliothek in Venedig. Alte Vokabelhilfen
und Randkommentare überwuchern geradezu den Text der antiken
Dichtung.
Dennoch brauchte es noch 250 Jahre, bis Hellas auch ästhetisch
seine einstige Vorbildrolle wiederzuerlangen begann. Mit
galanter Schäferdichtung und sinnenfrohen Trinkliedern nach
dem Vorbild des Lyrikers Anakreon zelebrierte das Barockzeitalter
griechische Natürlichkeit; der Antiken-Kenner und Kunstgelehrte
Johann Joachim Winckelmann (1717 bis 1768) allerdings
ging dann über solch neckische Maskeraden weit hinaus. „Der
gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt
ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen
Himmel zu bilden", trompetete der Archäologe gleich im ersten
Satz seines Manifests „Gedanken über die Nachahmung der griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755). Winckelmanns
Plädoyer dafür, dass in Hellas „die reinsten Quellen
der Kunst" geflossen seien, sein griffiger Slogan, dass „eine edle
Einfalt und eine stille Größe" wie bei den Griechen für Statuen,
Bauwerke und Gemälde endlich wieder zum Maßstab werden
müsse, revolutionierte das Kunstempfinden seiner Zeitgenossen.
„Dem Kolumbus ähnlich" habe Winckelmann, der Griechenland
selbst nie betrat, „ahndungsvoll" auf die „Neue Welt" der
Harmonie gedeutet, erklärte noch im hohen Alter einer seiner
lebenslang dankbaren Leser, Goethe.
Der Weimarer Dichter war nicht nur Zeuge, er wirkte auch
selbst kräftig daran mit, dass das antike Hellas - und zwar
nahezu ausschließlich seine klassische Zeit, vor allem Athen -
zum Paradies für Kunst und Humanität schlechthin erklärt
wurde. „Es bildete an sich aus, was es ausbilden konnte", so
brachte Goethes Anreger und Stadtnachbar, der enzyklopädisch
gebildete Prediger Johann Gottfried Herder, das neue Kunst-
und Menschheitsideal auf den Punkt. Im ländlich-verträumten
Otterndorf nahe der Elbmündung hatte der Lehrer Johann Heinrich
Voß bis 1781 Homers „Odyssee" in sprachgewaltige deutsche
Hexameter übersetzt; 1793 kam die „Ilias" dazu. Die klingenderhabene
Nachahmung des Griechischen machte solchen Eindruck,
dass Scharen von Poeten eifrig mit dem Versmaß experimentierten.
Auch stofflich griffen deutsche Dichter und Künstler nun wie
selbstverständlich auf Hellenisches zurück: In seinem Drama
„Iphigenie", aber auch Epischem wie der „Achilleis" und Balladen
(„Die Braut von Korinth") reiste Goethe, „das Land der
Griechen mit der Seele suchend", produktiv in die Antike; Schiller
schlug sich mit Wehmut über das Entschwundene („Die
Götter Griechenlands") und sarkastischer Zeitkritik („Pegasus
im Joche") eher auf die nostalgische Seite. Von klassizistischen
Grundsatzerklärungen in der Zeitschrift „Propyläen" bis zu den
Preisaufgaben der „Weimarischen Kunstfreunde", die fast immer
auf Szenen griechischer Mythologie zurückgriffen, prägten Vorbilder
aus dem Altertum das Denken und Empfinden der Weimarer
Klassiker. Der abgeklärte, selbst in antiken Idealen denkende
Schriftsteller Christoph Martin Wieland dachte sich für
den Trend sogar ein eigenes Tätigkeitswort aus: Er und seine
Kollegen seien am „Griechenzen".
Kein Wunder, dass Jüngere meinten, ihren auf dem Papier
weit gediehenen Humanitäts-Traum in Erfüllung gehen zu sehen,
als 1789 die Französische Revolution ausbrach. „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit" - es klang, als könne unter dieser Parole
ein neues, herrliches Griechenland quer durch Europa entstehen.
Hymnisch begrüßte der Schiller-Adept Friedrich Hölderlin
wie andere den Befreiungskampf; geschichtsphilosophisch tiefsinnig
versuchte er das Vorbild Hellas mit dem „hesperischen"
(westlich-abendländischen) Neuanfang zu verbinden. Selbst der
alternde Herder blickte voll Sympathie auf die Weltverbesserer.
Desto bitterer, als die schon greifbar nah geglaubte Utopie im
Terror der Guillotine und napoleonischer Diktatur endete.
Zwar ließen sich viele Künstler, Poeten und Wissenschaftler
ihr Hellenen-Ideal nicht mehr rauben. Aber wer nicht wie
Hölderlin am Sinn seiner Vision überhaupt verzweifelte - er
sei von „Apollo geschlagen", erklärte der Schwabe traurig, kurz
bevor er in den Irrsinn abglitt -, ging lieber mit ihr ins innere
Exil. Wilhelm von Humboldt, Staatsmann und geistiger Vater
der preußischen Universität, der in den Fächern Griechisch und
Mathematik die Essenz alles erforderlichen Schulwissens sah,
mühte sich jahrzehntelang an einer Übertragung des „Agamemnon"
von Aischylos. Auch der alte Johann Heinrich Voß, längst
geehrter Professor, verdeutschte lieber im Stillen weitere Griechenlyrik,
als verblichenen Träumen nachzutrauern.
Eines aber blieb von dem ungeheuren Enthusiasmus: Der
wissenschaftlich-pädagogische Ehrgeiz. Seit geniale Arbeitstiere
wie der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne und
streitbare Pioniere wie der Homer-Entzauberer Friedrich August
Wolf - von seinem Bekannten Goethe mit Fabel-Spott „Isegrim"
genannt - klargemacht hatten, wie viel es noch zu tun gab,
stürzten sich ihre geistigen Erben mit akribischer Gelehrsamkeit
auf alles Antike. Forscher wie Karl Otfried Müller (1797 bis
1840) suchten nach den Ursprüngen der griechischen Stämme;
selbst die bislang als dekadent empfundene Spätzeit fand nun
in Johann Gustav Droysen (1808 bis 1884) einen engagierten
Deuter. Im größten deutschen Lexikon aller Zeiten, der 1818
begonnenen und nach 167 Bänden 1889 abgebrochenen „Allgemeinen
Encyclopädie der Wissenschaften und Künste", braucht
das Stichwort „Griechenland" mehr Platz als jedes andere: acht
große, engbedruckte Bände.
Ein langer Weg fand so seinen vorläufigen Abschluss: vom
feuchtfröhlichen Landleben der Rokoko-Schäfermode über die
Entdeckung Griechenlands als künstlerisch-poetisches Jugendalter
der Menschheit bis zum nicht ganz freiwillig verinnerlichten
Ideal hellenischer Freiheit und Bildung. Weder Industrialisierung
noch nationales Pathos, weder der Boom experimenteller Naturwissenschaften
noch preußische Beamtendisziplin konnten aus
den Köpfen verdrängen, welch leuchtendes Vorbild menschlichen
Daseins die Griechen um 1800 - den Jahren, die nun
schon selbst die „klassische" Epoche hießen - abgegeben hatten.
In Berlin, München und anderswo ließen die Regenten von
ihren Hofarchitekten inzwischen Museen, Gedenkstätten wie
die imposante Walhalla bei Regensburg, zuweilen sogar Alltagsgebäude
in hellenischem Gewand errichten. Aber in Deutsch-
land geschah nur das Gleiche wie anderswo auch. Baumeister in
ganz Europa stellten vor Schatzhäuser des Geistes oder auch des
Geldes erhabene Tempelfassaden, ja selbst an US-Kulturzentren
wie Philadelphia oder Stanford stärkten griechische Säulenfronten
das Traditionsbewusstsein.
Überall in der westlichen Welt galt die Kenntnis der alten
Sprachen als Prüfstein höherer Bildung - gerade weil sie nicht
in Profit umzurechnen war. William Ewart Gladstone, später
mächtiger Premierminister der Queen Victoria, schrieb als
gestandener Politiker mit wissenschaftlichem Ehrgeiz drei Bände
über Homer. Britische Kolonialoffiziere in Indien oder Afrika
hatten Sophokles oder Thukydides auf Griechisch im Gepäck.
Der junge Harry Graf Kessler, ein Bankierssohn, den seine Eltern
aus Paris auf ein Internat im englischen Ascot geschickt hatten,
führte dort 1882 mit seinen Kameraden Aristophanes' Komödie
„Die Wolken" in der Ursprache auf. Die Atmosphäre von
Sportsgeist, Kunstgeschmack und Freundschaft wurde für den
späteren Kosmopoliten und Mäzen zur prägenden Erfahrung.
Glaubte der Kultur-Gentleman später auf seinen hektischen Reisen
den inneren Halt zu verlieren, nahm er sich Homer vor, den
altgriechischen Text natürlich.
Selbstverständlich gab es auch Zweifler - und es waren keineswegs
nur Banausen. Ausgerechnet einer der belesensten und
weisesten Historiker des 19. Jahrhunderts, Jacob Burckhardt aus
Basel, riet gleich zu Beginn seiner Vorlesung über die „Griechische
Kulturgeschichte" von jeder Verklärung ab. Wohl seien
die Hellenen „mit ihrem Schaffen und Können wesentlich ... das
geniale Volk auf Erden", aber „mit allen Fehlern und Leiden
eines solchen". „Unglücklicher, als die meisten glauben", seien
die Griechen gewesen, zitierte er seinen Berliner Kollegen, den
Altertumsforscher August Böckh; er belegte erschütternd ihren
durchdringenden Pessimismus und verschwieg auch nicht ihre
schon im Altertum sprichwörtliche Treulosigkeit, Tücke und
Leichtfertigkeit. In diesem Punkt waren Burckhardt und sein junger
Kollege Friedrich Nietzsche sich einig: Zum frisch-fröhlichen
Leitbild eignete sich das Griechentum weit weniger, als stramme
Oberlehrer es so gern verkündeten. Krankheit und Gefährdung,
Schuld und Exzess bis zu einer „abscheulichen Mischung von
Wollust und Grausamkeit", aber auch robuste Unbildung sei
für „jenes bekannte Völkchen" die Normalität gewesen, schrieb
Nietzsche. Lehrreich sei das allemal, aber bestimmt kein Anlass
zur Glorifizierung.
Erheblich weiter als die beiden Gelehrten ging kurz darauf
ein Mann mit echter Richtlinienkompetenz: Die Schule solle
gefälligst „nationale junge Deutsche" erziehen, „nicht junge Griechen
und Römer", polterte Kaiser Wilhelm II. als Überraschungsgast
der Berliner Schulkonferenz von 1890. Sosehr sich die eingefleischten
Humanisten in Schule und Universität sträubten:
Als zentrale Bezugsgröße, das beweisen Lehrpläne, hatten die
Hellenen bald ausgedient. Nur eine unbeirrbare Minderheit
von Bildungsbürgern ließ sich - von der faszinierenden Lektüre
Burckhardts und Nietzsches nur bestärkt - ihre Griechen-Verehrung
auch weiterhin nicht ausreden.
Gerade diese Unentwegten traf es tief, als der Wiener Poet
Hugo von Hofmannsthal sie 1903 mit einem Bühnenwerk
schockte, das sich äußerlich nach Sophokles' Tragödie „Elektra"
nannte, tatsächlich aber ein Fanal von Rachsucht und Ohnmacht,
finsteren Blutphantasien und Psycho-Horror bot. Mit noch nicht
30 Jahren hatte der überaus belesene Autor gezeigt, wie rätsel-, ja
schauderhaft das angebliche Mustervolk der Humanität erscheinen
konnte. Die „Elektra", später von Richard Strauss kongenial
vertont, markiert den Auftakt zur Wiederentdeckung all dessen,
was am Griechischen so lange verdrängt worden war: Raserei,
Ekstase und Marter - ein Arsenal alles Unbürgerlichen.
Verständlich, dass Hofmannsthal Bedenken hatte, als ihn sein
Freund Harry Graf Kessler, der Homer-Leser, 1908 zu einer Reise
nach Griechenland einlud, obendrein in Begleitung des Bildhauers
Aristide Maillol. Schwer verstört brach der Dichter nach
nicht einmal zwei Wochen den Besuch ab; von Entdeckungen
am Quell europäischer Kultur konnte keine Rede sein. Grenzen
© ullstein bild - AISA; „The Poseidon of Artemision".
Athens, National Museum of Archeology. © ullstein bild - AISA;
19th Century, Antike Vase, Illustration des Dionysos und
drei Figuren © Stapleton Collection/ Corbis (Umschlagrückseite)
KF • Herstellung: Str.
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-10227-3
www.goldmann-verlag.de
Wie intensiv solche Fragen momentan unter den Fachleuten
debattiert werden, ist in diesem Buch mit Beiträgen von SPIEGEL-
Redakteuren und renommierten Wissenschaftlern an vielen
Einzelheiten zu erkennen. Da kreist der Basler Homer-Experte
Joachim Latacz die Ursprünge der „Ilias" ein und betont ihren
poetischen Rang. Sein Kieler Kollege Josef Wiesehöfer macht die
Gegenrechnung auf: Er führt vor, in welchem Maß die frühen
Griechen kulturelle Anregungen aus dem Osten aufnahmen. Die
Epoche des Hellenismus, lange als Periode von Schwulst und
Dekadenz verkannt, hat sich zu einem Lieblingsfeld der Detailforschung
entwickelt. Der Althistoriker Hans-Ulrich Wiemer gibt
einen souveränen Überblick dieser wahrhaft multikulturellen
Zeit; sein Hamburger Kollege Burkhard Meißner schildert im
Kontrast dazu beispielhaft das geradezu stalinistische Regime
des Makedonen-Herrschers Philipp V. Auch über die Philosophie
der Griechen, von den Vorsokratikern bis zum großen Empiriker
Aristoteles und darüber hinaus, gibt es weiterhin ergiebige
Diskussionen. Die Philosophen Thomas Buchheim und
Michael Großheim erklären, welch fundamentale Rolle die denkerische
Neugier der Hellenen für das Weltbild Europas spielt.
Hans-Joachim Gehrke, der Präsident des Deutschen Archäologischen
Instituts, sieht die Aufbruchsstimmung innerhalb seiner
Zunft als große Chance. So sehr sich unter seinen Kollegen
der Blick „nahezu komplett gedreht" habe, erklärt der Freiburger
Althistoriker, und so viele Begriffe man kritisch befragen müsse -
eines stehe fest: Von Griechenlands Urproblem, „Einheit und
Vielfalt zu verbinden", könne Europa weiterhin lernen. Das gilt
ebenso vom schöpferischen Elan der Hellenen, ihrer Lust an
der Sprache und ihrem unstillbaren Wissensdurst. Mit seinen
Übersichten und Nahaufnahmen, Porträts großer Gestalten und
manchem vergnüglichen Seitenblick lädt dieses Buch dazu ein,
die faszinierende Vielfalt einer der entscheidenden Phasen der
Weltgeschichte neu zu entdecken.
Hamburg, Sommer 2008 Johannes Saltzwedel
HELLAS UND DIE FOLGEN
„JENES BEKANNTE VÖLKCHEN"
Von Trojas Helden bis zur Logik - fast alle Leitmotive
der westlichen Kultur stammen aus dem antiken
Griechenland. Im Rückblick zeigt sich: Hellas ist lebendig
geblieben, weil es unentwegt neu erfunden wurde.
Von Johannes Saltzwedel
Apollon hat es nicht leicht. „Früher waren wir mal berühmt - da
haben die Leute noch an uns geglaubt", seufzt der selbsternannte
Frauenheld. „Diese Verehrung, dieser Ruhm, das war wie - tja,
es war richtig Anbetung."
Jetzt dagegen lebt er von Wahrsagerei im Fernsehen und
wohnt mit seiner Zwillingsschwester Artemis, die einen Gassi-
Service für Hunde betreibt und sonst wie besessen joggt, in
einem heruntergekommenen Stadthaus im Londoner Norden.
Ihren klapprigen Daddy Zeus haben sie in eine Dachkammer
abgeschoben, denn in den übrigen Zimmern wohnen unter
anderem noch Managerin Athena, Nachtclub-Besitzer Dionysos,
der dauernd mit Kopfhörern auf den Ohren herumläuft, und die
verflixt attraktive Telefonsex-Angestellte Aphrodite.
So frech, wie die Britin Marie Phillips in ihrer vergangenen
Sommer erschienenen Roman-Farce „Gods behaving badly"
das Personal des Olymps ins schmuddelige 21. Jahrhundert versetzt
hat, ist man mit den mächtigen Herrschaften nicht immer
umgegangen. Aber eines beweist der große Erfolg des Buches
auf jeden Fall: Die starken Typen aus dem alten Hellas sind
auch heute noch für manche Story gut - durchaus nicht nur als
Pausen-Gag.
Geradezu verbissen kämpfen beispielsweise seit Anfang dieses
Jahres gestandene Professoren der Alten Geschichte, Philologen
und Archäologen um Homers Troja. Seit der Mythen-Jongleur
Raoul Schrott das bizarre Szenario auftischte, der Verfasser der
„Ilias", bisher als kleinasiatischer Grieche identifiziert, sei ein
Schreiber-Eunuch in assyrischen Diensten gewesen, der für sein
episches Opus in Versen munter am Feierabend vorderasiatische
Vorlagen ausgeschlachtet habe, sind Feuilleton und Fachwelt
nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Zwar leugnet von den Experten letztlich niemand, dass die
inzwischen auf Buchlänge ausgewalzte Spekulation („Homers
Heimat", Hanser Verlag) vielfach wissenschaftliche Standards
unterläuft. Aber der Elan, mit dem Kenner aus diesem Anlass
öffentlich zu streiten angefangen haben, wie denn eine Helden-
und Belagerungsgeschichte aus dem erzählerischen Gen-Pool des
östlichen Mittelmeerraums zur poetischen Gründungsurkunde
griechischer Identität werden konnte, zeigt deutlich: Hier geht
es um nichts Geringeres als die geistigen Grundlagen Europas.
Sachdienliche Hinweise liefert jedes bessere Wörterbuch
selbst der deutschen Sprache. Idee und Phänomen, Charakter
und Horizont, Chaos und Asyl, Engel und Teufel, aber auch
Handfestes wie Butter, Messing, Anker, Schminke, Eisbein und
sogar Bombe - all diese Wörter gehen auf griechische Ursprünge
zurück. Striche man sämtliche Vokabeln, die (oft in lateinischer
Version, manchmal bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen) aus
hellenischem Erbe stammen, schrumpfte das geistige Repertoire
auf ein bedrohliches Minimum. Vor allem Mathematiker, Ärzte,
Physiker, Ingenieure, Musiker, aber auch Theologen und Philosophen
verlören unversehens die Kernbegriffe ihres Metiers.
Aber das ist nur der Anfang. Von den Heldengeschichten
Homers über die aufrüttelnd privat-emotionale Lyrik der Sappho
und ihrer Sängerkollegen, vom athenischen Drama bis zum
Abenteuer-gespickten hellenistischen Liebesroman - so gut
wie jede literarische Gattung kann sich auf griechische Urbilder
berufen. Wie ein gigantischer Fundus sind Plots und Personal der
alten Geschichten bis heute abrufbar. Gemeinsam mit den Vorbildern
für Kunst und Architektur sowie den Regeln und Motiven
der Theorie (noch so ein griechisches Grundwort) bilden sie
Tasten einer allumfassenden geistigen Klaviatur: „Im Grunde
sind ja alle heutigen religiösen Ideen bis hin zum Atheismus
schon damals ausprobiert worden", sagt etwa der Münchner
Archäologe Raimund Wünsche (siehe Seite 81ff.).
Bereits die Römer der augusteischen Zeit waren sich darüber
klar, dass sie den von ihnen besiegten östlichen Nachbarn intellektuell
nahezu alles verdankten. „Als dann Hellas bezwungen,
bezwang es den rohen Besieger / Brachte zu Latiums Bauern die
Kunst", gab schon der Dichter Horaz zu; der Zeitgenosse Vergil
hatte, wie jeder Literaturfreund wusste, sein Nationalgedicht um
Roms Stammvater Äneas bis in Einzelheiten nach dem Vorbild
der beiden homerischen Epen angelegt. In der Rhetorik, dem
Rüstzeug der Politiker, rieten Lehrmeister vom aufgedonnerten
„asianischen" Stil ab und verlangten nach konzis-eleganter
„attischer" Beweisführung.
Allerdings: So legendär Hellas als Bildungsquelle blieb, so
ungeschützt war es schon lange vor Christi Geburt in politischer
Hinsicht. Als dann der Erlöserglaube sich durchsetzte und zur
Staatsreligion avancierte (380 n. Chr.), als der Kirche beim allmählichen
Zerfall des Römerreichs politisch wie kulturell immer
größere Autorität zufiel, geriet das geistige Erbe der Griechen in
den Generalverdacht sündigen Heidentums. Die Schrecken der
Völkerwanderung, das Aufkommen des Islam im 8. und 9. Jahrhundert
und die Trennung von Ost- und Westkirche kappten
die meisten Verbindungen Resteuropas zu seinen hellenischen
Ursprüngen. Um 1400 bewunderten die Gelehrten in Paris, Prag
oder Oxford zwar Aristoteles, den Begründer der Naturwissenschaften
und Patriarchen von Metaphysik und Logik - aber seine
Werke studierten sie gewöhnlich in lateinischer Übersetzung, die
mitunter nach arabischer Vorlage entstanden war.
Erst im 15. Jahrhundert brach dieser Bann. Wie eine Offenbarung
feierten es Humanisten in Italien und bald in ganz
Europa, als wandernde Gelehrte die ersten Originalmanuskripte
griechischer Philosophie und Literatur aus Byzanz mitbrachten.
Der neuartige Buchdruck machte Texte, die bislang in fernen
Truhen verstaubt waren, verblüffend leicht zugänglich. Vom
angeblich heidnischen Inhalt ließen sich die Entdecker nicht
bange machen.
Unter den Intellektuellen setzte ein wahrer Griechisch-
Boom ein. Selbst Machtmenschen wie Urbinos Herzog Federigo
da Montefeltro (1422 bis 1482) oder der Florentiner Stadtherr
Lorenzo de' Medici (1449 bis 1492) wurden von der Begeisterung
der Humanisten angesteckt. In ihrem als Reich des Geistes verehrten
Griechenland, für dessen „Wiedergeburt" (Renaissance)
sie arbeiteten, war das Politische fast völlig ausgeblendet; übrig
blieb ein weltbürgerlich-philosophischer Bildungskanon, der
trotz kirchlicher Opposition bis weit in den Schulunterricht neue
Wissensmaßstäbe setzte.
Der Venetus A, eine der wichtigsten Homer-Handschriften, liegt
Bibliothek der Universität Basel
seit 1468 in der Marcus-Bibliothek in Venedig. Alte Vokabelhilfen
und Randkommentare überwuchern geradezu den Text der antiken
Dichtung.
Dennoch brauchte es noch 250 Jahre, bis Hellas auch ästhetisch
seine einstige Vorbildrolle wiederzuerlangen begann. Mit
galanter Schäferdichtung und sinnenfrohen Trinkliedern nach
dem Vorbild des Lyrikers Anakreon zelebrierte das Barockzeitalter
griechische Natürlichkeit; der Antiken-Kenner und Kunstgelehrte
Johann Joachim Winckelmann (1717 bis 1768) allerdings
ging dann über solch neckische Maskeraden weit hinaus. „Der
gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt
ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen
Himmel zu bilden", trompetete der Archäologe gleich im ersten
Satz seines Manifests „Gedanken über die Nachahmung der griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755). Winckelmanns
Plädoyer dafür, dass in Hellas „die reinsten Quellen
der Kunst" geflossen seien, sein griffiger Slogan, dass „eine edle
Einfalt und eine stille Größe" wie bei den Griechen für Statuen,
Bauwerke und Gemälde endlich wieder zum Maßstab werden
müsse, revolutionierte das Kunstempfinden seiner Zeitgenossen.
„Dem Kolumbus ähnlich" habe Winckelmann, der Griechenland
selbst nie betrat, „ahndungsvoll" auf die „Neue Welt" der
Harmonie gedeutet, erklärte noch im hohen Alter einer seiner
lebenslang dankbaren Leser, Goethe.
Der Weimarer Dichter war nicht nur Zeuge, er wirkte auch
selbst kräftig daran mit, dass das antike Hellas - und zwar
nahezu ausschließlich seine klassische Zeit, vor allem Athen -
zum Paradies für Kunst und Humanität schlechthin erklärt
wurde. „Es bildete an sich aus, was es ausbilden konnte", so
brachte Goethes Anreger und Stadtnachbar, der enzyklopädisch
gebildete Prediger Johann Gottfried Herder, das neue Kunst-
und Menschheitsideal auf den Punkt. Im ländlich-verträumten
Otterndorf nahe der Elbmündung hatte der Lehrer Johann Heinrich
Voß bis 1781 Homers „Odyssee" in sprachgewaltige deutsche
Hexameter übersetzt; 1793 kam die „Ilias" dazu. Die klingenderhabene
Nachahmung des Griechischen machte solchen Eindruck,
dass Scharen von Poeten eifrig mit dem Versmaß experimentierten.
Auch stofflich griffen deutsche Dichter und Künstler nun wie
selbstverständlich auf Hellenisches zurück: In seinem Drama
„Iphigenie", aber auch Epischem wie der „Achilleis" und Balladen
(„Die Braut von Korinth") reiste Goethe, „das Land der
Griechen mit der Seele suchend", produktiv in die Antike; Schiller
schlug sich mit Wehmut über das Entschwundene („Die
Götter Griechenlands") und sarkastischer Zeitkritik („Pegasus
im Joche") eher auf die nostalgische Seite. Von klassizistischen
Grundsatzerklärungen in der Zeitschrift „Propyläen" bis zu den
Preisaufgaben der „Weimarischen Kunstfreunde", die fast immer
auf Szenen griechischer Mythologie zurückgriffen, prägten Vorbilder
aus dem Altertum das Denken und Empfinden der Weimarer
Klassiker. Der abgeklärte, selbst in antiken Idealen denkende
Schriftsteller Christoph Martin Wieland dachte sich für
den Trend sogar ein eigenes Tätigkeitswort aus: Er und seine
Kollegen seien am „Griechenzen".
Kein Wunder, dass Jüngere meinten, ihren auf dem Papier
weit gediehenen Humanitäts-Traum in Erfüllung gehen zu sehen,
als 1789 die Französische Revolution ausbrach. „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit" - es klang, als könne unter dieser Parole
ein neues, herrliches Griechenland quer durch Europa entstehen.
Hymnisch begrüßte der Schiller-Adept Friedrich Hölderlin
wie andere den Befreiungskampf; geschichtsphilosophisch tiefsinnig
versuchte er das Vorbild Hellas mit dem „hesperischen"
(westlich-abendländischen) Neuanfang zu verbinden. Selbst der
alternde Herder blickte voll Sympathie auf die Weltverbesserer.
Desto bitterer, als die schon greifbar nah geglaubte Utopie im
Terror der Guillotine und napoleonischer Diktatur endete.
Zwar ließen sich viele Künstler, Poeten und Wissenschaftler
ihr Hellenen-Ideal nicht mehr rauben. Aber wer nicht wie
Hölderlin am Sinn seiner Vision überhaupt verzweifelte - er
sei von „Apollo geschlagen", erklärte der Schwabe traurig, kurz
bevor er in den Irrsinn abglitt -, ging lieber mit ihr ins innere
Exil. Wilhelm von Humboldt, Staatsmann und geistiger Vater
der preußischen Universität, der in den Fächern Griechisch und
Mathematik die Essenz alles erforderlichen Schulwissens sah,
mühte sich jahrzehntelang an einer Übertragung des „Agamemnon"
von Aischylos. Auch der alte Johann Heinrich Voß, längst
geehrter Professor, verdeutschte lieber im Stillen weitere Griechenlyrik,
als verblichenen Träumen nachzutrauern.
Eines aber blieb von dem ungeheuren Enthusiasmus: Der
wissenschaftlich-pädagogische Ehrgeiz. Seit geniale Arbeitstiere
wie der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne und
streitbare Pioniere wie der Homer-Entzauberer Friedrich August
Wolf - von seinem Bekannten Goethe mit Fabel-Spott „Isegrim"
genannt - klargemacht hatten, wie viel es noch zu tun gab,
stürzten sich ihre geistigen Erben mit akribischer Gelehrsamkeit
auf alles Antike. Forscher wie Karl Otfried Müller (1797 bis
1840) suchten nach den Ursprüngen der griechischen Stämme;
selbst die bislang als dekadent empfundene Spätzeit fand nun
in Johann Gustav Droysen (1808 bis 1884) einen engagierten
Deuter. Im größten deutschen Lexikon aller Zeiten, der 1818
begonnenen und nach 167 Bänden 1889 abgebrochenen „Allgemeinen
Encyclopädie der Wissenschaften und Künste", braucht
das Stichwort „Griechenland" mehr Platz als jedes andere: acht
große, engbedruckte Bände.
Ein langer Weg fand so seinen vorläufigen Abschluss: vom
feuchtfröhlichen Landleben der Rokoko-Schäfermode über die
Entdeckung Griechenlands als künstlerisch-poetisches Jugendalter
der Menschheit bis zum nicht ganz freiwillig verinnerlichten
Ideal hellenischer Freiheit und Bildung. Weder Industrialisierung
noch nationales Pathos, weder der Boom experimenteller Naturwissenschaften
noch preußische Beamtendisziplin konnten aus
den Köpfen verdrängen, welch leuchtendes Vorbild menschlichen
Daseins die Griechen um 1800 - den Jahren, die nun
schon selbst die „klassische" Epoche hießen - abgegeben hatten.
In Berlin, München und anderswo ließen die Regenten von
ihren Hofarchitekten inzwischen Museen, Gedenkstätten wie
die imposante Walhalla bei Regensburg, zuweilen sogar Alltagsgebäude
in hellenischem Gewand errichten. Aber in Deutsch-
land geschah nur das Gleiche wie anderswo auch. Baumeister in
ganz Europa stellten vor Schatzhäuser des Geistes oder auch des
Geldes erhabene Tempelfassaden, ja selbst an US-Kulturzentren
wie Philadelphia oder Stanford stärkten griechische Säulenfronten
das Traditionsbewusstsein.
Überall in der westlichen Welt galt die Kenntnis der alten
Sprachen als Prüfstein höherer Bildung - gerade weil sie nicht
in Profit umzurechnen war. William Ewart Gladstone, später
mächtiger Premierminister der Queen Victoria, schrieb als
gestandener Politiker mit wissenschaftlichem Ehrgeiz drei Bände
über Homer. Britische Kolonialoffiziere in Indien oder Afrika
hatten Sophokles oder Thukydides auf Griechisch im Gepäck.
Der junge Harry Graf Kessler, ein Bankierssohn, den seine Eltern
aus Paris auf ein Internat im englischen Ascot geschickt hatten,
führte dort 1882 mit seinen Kameraden Aristophanes' Komödie
„Die Wolken" in der Ursprache auf. Die Atmosphäre von
Sportsgeist, Kunstgeschmack und Freundschaft wurde für den
späteren Kosmopoliten und Mäzen zur prägenden Erfahrung.
Glaubte der Kultur-Gentleman später auf seinen hektischen Reisen
den inneren Halt zu verlieren, nahm er sich Homer vor, den
altgriechischen Text natürlich.
Selbstverständlich gab es auch Zweifler - und es waren keineswegs
nur Banausen. Ausgerechnet einer der belesensten und
weisesten Historiker des 19. Jahrhunderts, Jacob Burckhardt aus
Basel, riet gleich zu Beginn seiner Vorlesung über die „Griechische
Kulturgeschichte" von jeder Verklärung ab. Wohl seien
die Hellenen „mit ihrem Schaffen und Können wesentlich ... das
geniale Volk auf Erden", aber „mit allen Fehlern und Leiden
eines solchen". „Unglücklicher, als die meisten glauben", seien
die Griechen gewesen, zitierte er seinen Berliner Kollegen, den
Altertumsforscher August Böckh; er belegte erschütternd ihren
durchdringenden Pessimismus und verschwieg auch nicht ihre
schon im Altertum sprichwörtliche Treulosigkeit, Tücke und
Leichtfertigkeit. In diesem Punkt waren Burckhardt und sein junger
Kollege Friedrich Nietzsche sich einig: Zum frisch-fröhlichen
Leitbild eignete sich das Griechentum weit weniger, als stramme
Oberlehrer es so gern verkündeten. Krankheit und Gefährdung,
Schuld und Exzess bis zu einer „abscheulichen Mischung von
Wollust und Grausamkeit", aber auch robuste Unbildung sei
für „jenes bekannte Völkchen" die Normalität gewesen, schrieb
Nietzsche. Lehrreich sei das allemal, aber bestimmt kein Anlass
zur Glorifizierung.
Erheblich weiter als die beiden Gelehrten ging kurz darauf
ein Mann mit echter Richtlinienkompetenz: Die Schule solle
gefälligst „nationale junge Deutsche" erziehen, „nicht junge Griechen
und Römer", polterte Kaiser Wilhelm II. als Überraschungsgast
der Berliner Schulkonferenz von 1890. Sosehr sich die eingefleischten
Humanisten in Schule und Universität sträubten:
Als zentrale Bezugsgröße, das beweisen Lehrpläne, hatten die
Hellenen bald ausgedient. Nur eine unbeirrbare Minderheit
von Bildungsbürgern ließ sich - von der faszinierenden Lektüre
Burckhardts und Nietzsches nur bestärkt - ihre Griechen-Verehrung
auch weiterhin nicht ausreden.
Gerade diese Unentwegten traf es tief, als der Wiener Poet
Hugo von Hofmannsthal sie 1903 mit einem Bühnenwerk
schockte, das sich äußerlich nach Sophokles' Tragödie „Elektra"
nannte, tatsächlich aber ein Fanal von Rachsucht und Ohnmacht,
finsteren Blutphantasien und Psycho-Horror bot. Mit noch nicht
30 Jahren hatte der überaus belesene Autor gezeigt, wie rätsel-, ja
schauderhaft das angebliche Mustervolk der Humanität erscheinen
konnte. Die „Elektra", später von Richard Strauss kongenial
vertont, markiert den Auftakt zur Wiederentdeckung all dessen,
was am Griechischen so lange verdrängt worden war: Raserei,
Ekstase und Marter - ein Arsenal alles Unbürgerlichen.
Verständlich, dass Hofmannsthal Bedenken hatte, als ihn sein
Freund Harry Graf Kessler, der Homer-Leser, 1908 zu einer Reise
nach Griechenland einlud, obendrein in Begleitung des Bildhauers
Aristide Maillol. Schwer verstört brach der Dichter nach
nicht einmal zwei Wochen den Besuch ab; von Entdeckungen
am Quell europäischer Kultur konnte keine Rede sein. Grenzen
© ullstein bild - AISA; „The Poseidon of Artemision".
Athens, National Museum of Archeology. © ullstein bild - AISA;
19th Century, Antike Vase, Illustration des Dionysos und
drei Figuren © Stapleton Collection/ Corbis (Umschlagrückseite)
KF • Herstellung: Str.
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-10227-3
www.goldmann-verlag.de
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Autoren-Porträt
Johannes Saltzwedel, geboren 1962, ist seit 1991 Redakteur beim SPIEGEL. Der promovierte Germanist beschäftigt sich dort vorwiegend mit Ideen- und Kulturgeschichte, Sachbüchern und klassischer Musik. Er hat mehrere literaturgeschichtliche Studien zu Goethe und Rudolf Borchardt veröffentlicht.Karen Andresen, geb. 1945, ist seit 1989 Redakteurin beim SPIEGEL, bis 2003 im Politik-Ressort, danach im Ressort Sonderthemen. Sie ist Autorin zahlreicher zeitgeschichtlicher Beiträge.Susanne Beyer ist 1969 in Balige/Indonesien geboren. Schulzeit in Wuppertal und Bielefeld. Studium der Germanistik, Geschichte und Journalistik in Bamberg und Wien. Danach Besuch der Deutschen Journalistenschule in München. Journalistische Arbeit bei Tageszeitungen, Print-Magazin, Nachrichtenagentur, Rundfunk und Fernsehen. Seit 1996 Kulturredakteurin beim SPIEGEL. Von 1997 bis 2003 Zweitwohnsitz in Dresden.Georg Bönisch, geboren 1948, ist seit 1982 Redakteur des SPIEGEL und Autor mehrerer Sachbücher, unter anderem schrieb er über das Verhältnis zwischen Köln und Preußen und verfasste eine Biographie über den Kölner Kurfürsten und Erzbischof Clemens August von Bayern.
Bibliographische Angaben
- 2010, 288 Seiten, mit farbigen Abbildungen, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 12,6 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Hrsg. v. Johannes Saltzwedel; Mit Beitr. v. Karen Andresen, Susanne Beyer, Georg Bönisch u. a.
- Herausgegeben: Johannes Saltzwedel
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442102278
- ISBN-13: 9783442102273
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