Wo bist du, Motek?
Ein Israeli in Berlin
Ein rasantes, witziges, nachdenkliches Buch, halb Roman, halb Reportage, dessen polyglotter Autor als Prototyp des Neu-Berliners durchgehen würde, wenn er nicht vor allem das wäre: ein Israeli auf der Suche nach seinen deutschen Wurzeln.
Erst als er seinen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wo bist du, Motek? “
Klappentext zu „Wo bist du, Motek? “
Ein rasantes, witziges, nachdenkliches Buch, halb Roman, halb Reportage, dessen polyglotter Autor als Prototyp des Neu-Berliners durchgehen würde, wenn er nicht vor allem das wäre: ein Israeli auf der Suche nach seinen deutschen Wurzeln.Erst als er seinen Job bei Channel 10 los ist, kann er sie aufmachen, die große schwarze Kiste, die mitten in seiner Berliner Wohnung steht: Ilan Goren, junger Fernsehreporter aus Tel Aviv, war in die zweitkultigste Stadt der Welt gekommen (die kultigste ist seine eigene), um seiner Familie nachzuspüren. Nicht umsonst hatte ihn seine Mutter mit Ritter Sport und Hoppe, hoppe Reiter aufgezogen. Aber diese Kiste nun, die Notizbücher, Fotos, Briefe und ziemlich scheußlichen Schmuck enthält, gibt nur neue Rätsel auf.
Während Ilan als Reporter und Ahnenforscher durch Berlin streift, stößt er auf ein reiches Panoptikum an Leuten und Geschichten. Er freundet sich mit dem Journalisten Omer an, der darauf spezialisiert ist, geschmackvolle Holocaust-Witze zu reißen. Beide wollen sie herausfinden, worin für sie diese morbide Deutschland-Faszination besteht. Es können doch nicht nur die zusammengesetzten Hauptwörter sein.
Ein intelligentes Buch für alle Ausländer und Schwaben in Berlin.
Lese-Probe zu „Wo bist du, Motek? “
Wo bist du, Motek? von Ilan Goren Erstes Kapitel
Der unheiligste Ort aller Zeiten Spätherbst
Die erste Mission
Ich war erschöpft nach meiner ersten Nacht als Berliner. Zu viel Weißburgunder, zu viel Lechaim, zu viele Farben.
Am Abend zuvor hatte mich der freundliche Direktor einer freundlichen Stiftung, die die deutsch-israelischen Bande stärken sollte, in ein neu eröffnetes Designhotel direkt an der Museumsinsel eingeladen. Er nahm mich zunächst zu einem Spaziergang in der Umgebung mit, dort, wo sich die grünbraune Spree in zwei schmale Arme teilt. Sie floss kühl und langsam an den Mauern des hoch aufragenden Doms dahin, vorbei am geschichtsträchtigsten Teil der Stadt, vorbei an dem, was einmal das steinerne Herz der DDR und, lange zuvor, das Ostjudenviertel Berlins gewesen war. In den Zwanzigerjahren wurde hier das jüdische Strandgut der russischen Revolutionen, polnischen Teilungen und galizischen Pogrome angespült. Ich sah sie vor mir, in abgetragenen Kaftanen, mit zerzausten Bärten, die Augen mit Salzlake gefüllt, eingelegt in Hoffnung und Verdammnis. Dort, wo heute, den großen Museen gegenüber, eine Promenade liegt, deren Ruhe an diesem Abend nur gestört wurde durch einen Akkordeon spielenden, gegelten Zigeuner mit seiner fordernd dreinblickenden Frau, an der ein Baby hing wie eine stumme Zimbel. In den Cafés am Wasser wurden glänzende, süßliche Pizzen für Touristen aufgewärmt.
... mehr
Nach unserer Rückkehr, in der aufdringlich bunten Lobby des Kunsthotels, hatte der Gastgeber viel zu viele Gläser Weißburgunder auf den neuen Korrespondenten, also auf mich, gehoben. Wir stießen an auf die Freiheit der israelischen, der deutschen und der internationalen Presse, auf das Gedenken, die Hoffnung, die Ehrlichkeit und den Dialog - für alles ein eigenes Chin-Chin, Prost und Lechaim. Irgendwann verlor ich den Überblick. Und ich genoss es, von einem beschwipsten Funktionär ein ums andere Mal in den Stand eines »Sondergesandten des israelischen Fernsehens in Deutschland« erhoben zu werden. Später, in meinem kunstinspirierten Zimmer, in meinem viel zu weichen Bett, zwischen gelbgrünen Wänden, stieg der Weißwein dann pochend in meinen Nacken und hinauf in mein Gehirn. Ich dämmerte weg.
Schweißgebadet wachte ich auf. Hatte nicht ein Einheimischer irgendwas gesagt von deutscher Genauigkeit und der Notwendigkeit, die Uhr umzustellen? Aber auf was? Winterzeit? Oder war es Sommerzeit? Mit verquollenen Augen mühte ich mich, die Uhrzeit auf meinem Wecker zu entziffern. Er hatte mich im Stich gelassen.
Es war heller Tag, und ich hätte längst bei meinem Interview sein müssen. Wenn es etwas gab, was mir meine geliebte halbdeutsche Mutter eingeimpft hatte, so war es die Angst davor, zu spät zu einem geplanten Interview zu kommen.
Die jüdischen und christlichen Berliner Vorfahren meiner Mutter hatten beste Manieren, war mir immer gesagt worden. Juda und Else, die in den Zwanzigerjahren im Westen der Stadt zu Hause waren, hatten großen Wert darauf gelegt, dass man es nur durch Disziplin und harte Arbeit zu etwas bringt. Unpünktlichkeit allein hätten mir meine längst verstorbenen Ahnen vielleicht noch verziehen. Doch meine Verderbtheit reichte ja tiefer. Ich befand mich auf dem Weg in Europas größtes Bordell. Und das war noch dazu der einzige Termin des heutigen Tages, den ich selbst organisiert hatte, und meine erste journalistische Mission in der Stadt.
Offiziell war ich für zwölf Monate als Europakorrespondent für Channel 10 von Tel Aviv nach Berlin geschickt worden. So lange hatte ich Zeit, um die rutschige Karriereleiter zu erklimmen. Der Sender wollte Erfolg am Bildschirm. Ich auch.
Der eigentliche Grund, warum ich mich in die Arbeit stürzen wollte, war das dringende Bedürfnis, innezuhalten, zurückzublicken und mich umzusehen. Ich zog kurz nach dem Tod meiner Mutter hierher, vergangenen Sommer in Jerusalem, wo heruntergelassene Jalousien das helle Licht daran gehindert hatten, in das Krankenhauszimmer vorzudringen. Während meine Mutter auf grünen Laken in einer neonerleuchteten Grotte dahinwelkte, schwelgte sie in Erinnerungen an ein goldenes Berlin, in dem ihre Vorfahren ein zielgerichtetes Leben geführt hatten. Meine weltliche Mutter setzte alles daran, diese Leute quasi heiligzusprechen. Deutsch à la Mom zu werden musste ziemlich toll sein, stellte ich mir vor. Und womöglich würde diese Stadt einen Teil meines Schmerzes über ihren Tod in sich aufnehmen.
Engelbert Krümmels Reich höchster Ekstase
Ich hatte Herrn Engelbert Krümmel, den Manager des Diana FKK Saunaklub mit Pool, Bio- und Finnische Sauna, Hamam, Sexkinos, Solarium, Restaurant und mehr, bereits angerufen, mich mehrfach für meine Verspätung entschuldigt (»I am so sorry, it's just that I'm grief stricken and jet lagged«) und feierlich geschworen, bis 11.15 Uhr am Hintereingang des Etablissements zu erscheinen, also nur fünfundsiebzig Minuten später als ursprünglich vereinbart. Aber ich wollte meinen Redakteuren beim israelischen Fernsehen zum Auftakt meiner Korrespondententätigkeit in Europa unbedingt einen unkonventionellen Bericht vorlegen. Die Art Bericht, den sie einerseits als »sexy« verkaufen konnten - »Dreihundert bezaubernde Mädchen erwarten in jeder Schicht ihre Kunden« - und andererseits als »hochbrisant« - »Dreihundert ausgebeutete Mädchen erwarten in jeder Schicht ihre Kunden«. Die Tatsache, dass keine Frau vor der Kamera erscheinen durfte, sollte diesem zweifachen Marketingansatz nicht im Wege stehen. Der Beitrag wurde bereits angeteasert als »Die nackte Wahrheit hinter Berlins glänzender Fassade. Heute in den Nachrichten auf Channel 10«. Dazu sah man Archivaufnahmen von jungen Frauen in Polyesterminiröcken.
Der Taxifahrer gab sein Bestes. Er hatte erklärt, er persönlich kenne Orte wie das Diana zwar nicht, doch: »Wenn es das ist, was du brauchst, bring ich dich hin, Inschallah!« Dabei hob er einen Finger, um den Ernst seiner Aussage zu unterstreichen, bevor er mit demselben Finger fünfzehn Sekunden lang auf die Hupe drückte. »Arschloch, Ausländer, Schwabe!«, bellte er den anderen Autofahrern durch das offene Fenster entgegen, durch das der Ostwind hereinblies. Bis vor Kurzem war es noch Sommer gewesen in der Stadt. »Und wo kommen Sie her?«, fragte ich ihn auf Englisch. Ich fühlte mich dem Mann auf seltsame Art verbunden. »Ich? Wedding. Und Palästina«, grinste er.
Da war es schon 11.20 Uhr. »Scheise!«, brachte ich heraus, mein erstes deutsches Wort auf deutschem Boden. Zumindest war es nicht das unumgängliche »schnell schnell« meiner Generation, die mit einer audiovisuellen Kost aus deutschen Softpornos und harten israelischen Dokumentarfilmen aufgewachsen war. »Vielleicht wissen Sie ja den Weg?«, fragte er. Aus dem Radio blubberte etwas, was sich anhörte wie fierutneunzichdreidersupermix.
»Ich weiße nicht.« Ich erinnerte mich an ein Familienfest in meiner Kindheit, bei dem alle von mir entzückt waren, dem kleinen Wunderkind, das fließend Deutsch sprach. »Ich weiße nicht. Ich komme aus die Wuste.« Wo hatte ich diesen Tarnausdruck her? Ich wusste es nicht.
»Da ist es, da ist es!«, rief ich, als ich auf der anderen Straßenseite plötzlich eine Werbetafel mit rosa Lippen auf einem würfelförmigen Industriegebäude sah. Und dann: »Halt, halt!«, wie in einem schlechten Kriegsfilm, in dem blond gescheitelte Totenkopfmajore skandierten, wie sie das auf dem Bildschirm unseres Schwarz-Weiß-Grundig-Fernsehers taten, den Mutter in vierundzwanzig Raten abgezahlt hatte. Ich ließ den Fahrer sitzen, der erneut etwas über Ausländer murmelte.
Es war 11.52 Uhr, und ich schwitzte mächtig, als ich beim Eingang angelangt war. Engelbert rief mich auf dem Handy an, um mir zu sagen: »Zer iz no point in ze meeting at zis late hour.« Doch ich musste mich dem Schicksal stellen und auch Herrn Krümmels blondiertem Vokuhila, blondem Schnauzer und silbernen Koteletten. Als ich endlich vor ihm stand, erbarmte er sich und gewährte mir einen schnellen Rundgang durch sein Etablissement. So erhielt ich Erläuterungen zu harmonischen Kombinationen aus mit Polyestertigerfell bezogenen Chaiselongues und vergoldeten dorischen Plastiksäulen. Ringsum brannten Fackelleuchten mit Zellophanflammen.
»Zis is like a temple but a relaxing place. Zer iz a discount for taxi drivers und pensioners«, erklärte Engelbert, während ich eine Suite namens Hellenistischer Hedonismus filmte. Nie zuvor hatte ich einen so schamroten Raum gesehen: Auf einem riesigen runden Bett lagen eine bordeauxrote Decke und rubinrote Kissen. Die Vorhänge waren in Safran und Ketchup gehalten, die lachsfarbenen Wände verziert mit Silhouetten verschlungener Körper in Flieder und Indigo, nackt, geschmeidig und in höchster Ekstase. Genau das, was man sich vorstellt bei einer Orgie, in die Nutten, Taxifahrer und herumtollende Rentner mit Dauerkarte involviert sind.
Eigentlich wollte ich nichts anderes, als meinen Chefredakteur davon überzeugen, dass ich einen Exklusivbericht über die Sexindustrie in Deutschland unmittelbar vor dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls hinkriegte, ein Ereignis, »which brings maaeeny nice clients from Israel into our establishment, even if zey need a long long time to understand our rulez and regulations«, wie Engelbert es ausdrückte.
Später schrieb ich dem Chefredakteur der Nachrichtenabteilung eine SMS: »Bordellbesuch war fantastisch, keine Zeit für einen Kommentar vor der Kamera im Sexkino, aber Interview mit blondem, schnauzbärtigem deutschem Platzhirsch der Zuhälterszene.« Er schrieb zurück: »Perfec!«
»Was machst du mit dem Deutschen?«
Zu den Weltmeisterschaften 2006 hatte ich es versäumt, nach Deutschland zu reisen, als in den Köpfen der Fernsehzuschauer der Welt - und in Israel - das neue Deutschland offiziell geboren wurde und Berlin zum unheiligsten, angesagtesten Ort aller Zeiten aufstieg. Ein Ort, an dem Prostitution legal ist und auf Werbetafeln im Bus beworben wird, Zuspätkommen aber undenkbar ist. Und jetzt war ich hier, in dieser Stadt, die Urgroßvater und Urgroßmutter vor langer Zeit verlassen hatten. Der Tod meiner Mutter hatte mir den letzten Anstoß gegeben für die Reise hierher.
Ihr Leben, so wurde mir klar, hatte etwas von einer schmerzvollen Werbekampagne gehabt; schließlich hatte sie über Jahrzehnte hinweg beinahe alles Deutsche enthusiastisch gelobt und gepflegt, wobei Kinderreime, Holzspielzeug, Zartbitterschokolade und qualitativ hochwertige Küchengeräte ganz oben auf der Liste rangierten. Ihre Hauptzielgruppe, meine Schwester und ich, hatten mitunter Probleme damit gehabt, ihre sehnsüchtigen Werbebotschaften zu verstehen.
Ich schäme mich noch heute für den Tag vor etwa dreißig Jahren, an dem sie mich mit feierlicher Geste mit orangefarbenen Wollsocken in meinen braunen Ledersandalen zur Schule geschickt hatte, bevor sie zur Arbeit ins Krebsforschungszentrum gefahren war. Ich sah aus wie ein Idiot. Wie viel lieber hätte ich gefälschte »Adidas« oder »Puma« getragen, wie die anderen Jungs.
Ich schnitt mir mit einer Nagelschere kleine Löcher in die orangefarbenen Socken und behauptete später, ein paar Jungs aus Bethlehem hätten mich mit Steinchen beworfen, die wiederum meine Socken zerstört hätten.
»So ein Quatsch!«, zischte meine Mutter. »Wenn ich daran denke, wie teuer die waren! Wo ich doch kaum Geld übrig habe, zumal dein Vater nicht mehr ...« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Mein Sohn ist ein Schwindler ... und ein Banause. Deutsche Jungs lieben es, grüne Socken zu ihren Sandalen zu tragen.«
»Orangefarbene«, schoss ich zurück. »Jeder hat mich Shiknoz genannt!« Das ist eine beleidigende Bezeichnung für neurotische, verpeilte Kinder mit europäischen Wurzeln. Ich beneidete meine sephardischen Klassenkameraden mit Wurzeln aus Nahost oder aus Nordafrika. Deren Eltern schienen den Weg zum Scheidungsanwalt nicht zu kennen, dafür aber wussten sie, wo man supercoole Windjacken kauft. »Du und dein Deutschland. Aber wenn deine eigene Mama von dort anruft, gibst du mir sofort den Hörer weiter, und ich muss mit ihr sprechen! Und dabei darf ich sie nicht mal Oma nennen. Sie ist aber nicht irgendeine Jutta, sondern deine Mutter!«
© Graf Verlag
Nach unserer Rückkehr, in der aufdringlich bunten Lobby des Kunsthotels, hatte der Gastgeber viel zu viele Gläser Weißburgunder auf den neuen Korrespondenten, also auf mich, gehoben. Wir stießen an auf die Freiheit der israelischen, der deutschen und der internationalen Presse, auf das Gedenken, die Hoffnung, die Ehrlichkeit und den Dialog - für alles ein eigenes Chin-Chin, Prost und Lechaim. Irgendwann verlor ich den Überblick. Und ich genoss es, von einem beschwipsten Funktionär ein ums andere Mal in den Stand eines »Sondergesandten des israelischen Fernsehens in Deutschland« erhoben zu werden. Später, in meinem kunstinspirierten Zimmer, in meinem viel zu weichen Bett, zwischen gelbgrünen Wänden, stieg der Weißwein dann pochend in meinen Nacken und hinauf in mein Gehirn. Ich dämmerte weg.
Schweißgebadet wachte ich auf. Hatte nicht ein Einheimischer irgendwas gesagt von deutscher Genauigkeit und der Notwendigkeit, die Uhr umzustellen? Aber auf was? Winterzeit? Oder war es Sommerzeit? Mit verquollenen Augen mühte ich mich, die Uhrzeit auf meinem Wecker zu entziffern. Er hatte mich im Stich gelassen.
Es war heller Tag, und ich hätte längst bei meinem Interview sein müssen. Wenn es etwas gab, was mir meine geliebte halbdeutsche Mutter eingeimpft hatte, so war es die Angst davor, zu spät zu einem geplanten Interview zu kommen.
Die jüdischen und christlichen Berliner Vorfahren meiner Mutter hatten beste Manieren, war mir immer gesagt worden. Juda und Else, die in den Zwanzigerjahren im Westen der Stadt zu Hause waren, hatten großen Wert darauf gelegt, dass man es nur durch Disziplin und harte Arbeit zu etwas bringt. Unpünktlichkeit allein hätten mir meine längst verstorbenen Ahnen vielleicht noch verziehen. Doch meine Verderbtheit reichte ja tiefer. Ich befand mich auf dem Weg in Europas größtes Bordell. Und das war noch dazu der einzige Termin des heutigen Tages, den ich selbst organisiert hatte, und meine erste journalistische Mission in der Stadt.
Offiziell war ich für zwölf Monate als Europakorrespondent für Channel 10 von Tel Aviv nach Berlin geschickt worden. So lange hatte ich Zeit, um die rutschige Karriereleiter zu erklimmen. Der Sender wollte Erfolg am Bildschirm. Ich auch.
Der eigentliche Grund, warum ich mich in die Arbeit stürzen wollte, war das dringende Bedürfnis, innezuhalten, zurückzublicken und mich umzusehen. Ich zog kurz nach dem Tod meiner Mutter hierher, vergangenen Sommer in Jerusalem, wo heruntergelassene Jalousien das helle Licht daran gehindert hatten, in das Krankenhauszimmer vorzudringen. Während meine Mutter auf grünen Laken in einer neonerleuchteten Grotte dahinwelkte, schwelgte sie in Erinnerungen an ein goldenes Berlin, in dem ihre Vorfahren ein zielgerichtetes Leben geführt hatten. Meine weltliche Mutter setzte alles daran, diese Leute quasi heiligzusprechen. Deutsch à la Mom zu werden musste ziemlich toll sein, stellte ich mir vor. Und womöglich würde diese Stadt einen Teil meines Schmerzes über ihren Tod in sich aufnehmen.
Engelbert Krümmels Reich höchster Ekstase
Ich hatte Herrn Engelbert Krümmel, den Manager des Diana FKK Saunaklub mit Pool, Bio- und Finnische Sauna, Hamam, Sexkinos, Solarium, Restaurant und mehr, bereits angerufen, mich mehrfach für meine Verspätung entschuldigt (»I am so sorry, it's just that I'm grief stricken and jet lagged«) und feierlich geschworen, bis 11.15 Uhr am Hintereingang des Etablissements zu erscheinen, also nur fünfundsiebzig Minuten später als ursprünglich vereinbart. Aber ich wollte meinen Redakteuren beim israelischen Fernsehen zum Auftakt meiner Korrespondententätigkeit in Europa unbedingt einen unkonventionellen Bericht vorlegen. Die Art Bericht, den sie einerseits als »sexy« verkaufen konnten - »Dreihundert bezaubernde Mädchen erwarten in jeder Schicht ihre Kunden« - und andererseits als »hochbrisant« - »Dreihundert ausgebeutete Mädchen erwarten in jeder Schicht ihre Kunden«. Die Tatsache, dass keine Frau vor der Kamera erscheinen durfte, sollte diesem zweifachen Marketingansatz nicht im Wege stehen. Der Beitrag wurde bereits angeteasert als »Die nackte Wahrheit hinter Berlins glänzender Fassade. Heute in den Nachrichten auf Channel 10«. Dazu sah man Archivaufnahmen von jungen Frauen in Polyesterminiröcken.
Der Taxifahrer gab sein Bestes. Er hatte erklärt, er persönlich kenne Orte wie das Diana zwar nicht, doch: »Wenn es das ist, was du brauchst, bring ich dich hin, Inschallah!« Dabei hob er einen Finger, um den Ernst seiner Aussage zu unterstreichen, bevor er mit demselben Finger fünfzehn Sekunden lang auf die Hupe drückte. »Arschloch, Ausländer, Schwabe!«, bellte er den anderen Autofahrern durch das offene Fenster entgegen, durch das der Ostwind hereinblies. Bis vor Kurzem war es noch Sommer gewesen in der Stadt. »Und wo kommen Sie her?«, fragte ich ihn auf Englisch. Ich fühlte mich dem Mann auf seltsame Art verbunden. »Ich? Wedding. Und Palästina«, grinste er.
Da war es schon 11.20 Uhr. »Scheise!«, brachte ich heraus, mein erstes deutsches Wort auf deutschem Boden. Zumindest war es nicht das unumgängliche »schnell schnell« meiner Generation, die mit einer audiovisuellen Kost aus deutschen Softpornos und harten israelischen Dokumentarfilmen aufgewachsen war. »Vielleicht wissen Sie ja den Weg?«, fragte er. Aus dem Radio blubberte etwas, was sich anhörte wie fierutneunzichdreidersupermix.
»Ich weiße nicht.« Ich erinnerte mich an ein Familienfest in meiner Kindheit, bei dem alle von mir entzückt waren, dem kleinen Wunderkind, das fließend Deutsch sprach. »Ich weiße nicht. Ich komme aus die Wuste.« Wo hatte ich diesen Tarnausdruck her? Ich wusste es nicht.
»Da ist es, da ist es!«, rief ich, als ich auf der anderen Straßenseite plötzlich eine Werbetafel mit rosa Lippen auf einem würfelförmigen Industriegebäude sah. Und dann: »Halt, halt!«, wie in einem schlechten Kriegsfilm, in dem blond gescheitelte Totenkopfmajore skandierten, wie sie das auf dem Bildschirm unseres Schwarz-Weiß-Grundig-Fernsehers taten, den Mutter in vierundzwanzig Raten abgezahlt hatte. Ich ließ den Fahrer sitzen, der erneut etwas über Ausländer murmelte.
Es war 11.52 Uhr, und ich schwitzte mächtig, als ich beim Eingang angelangt war. Engelbert rief mich auf dem Handy an, um mir zu sagen: »Zer iz no point in ze meeting at zis late hour.« Doch ich musste mich dem Schicksal stellen und auch Herrn Krümmels blondiertem Vokuhila, blondem Schnauzer und silbernen Koteletten. Als ich endlich vor ihm stand, erbarmte er sich und gewährte mir einen schnellen Rundgang durch sein Etablissement. So erhielt ich Erläuterungen zu harmonischen Kombinationen aus mit Polyestertigerfell bezogenen Chaiselongues und vergoldeten dorischen Plastiksäulen. Ringsum brannten Fackelleuchten mit Zellophanflammen.
»Zis is like a temple but a relaxing place. Zer iz a discount for taxi drivers und pensioners«, erklärte Engelbert, während ich eine Suite namens Hellenistischer Hedonismus filmte. Nie zuvor hatte ich einen so schamroten Raum gesehen: Auf einem riesigen runden Bett lagen eine bordeauxrote Decke und rubinrote Kissen. Die Vorhänge waren in Safran und Ketchup gehalten, die lachsfarbenen Wände verziert mit Silhouetten verschlungener Körper in Flieder und Indigo, nackt, geschmeidig und in höchster Ekstase. Genau das, was man sich vorstellt bei einer Orgie, in die Nutten, Taxifahrer und herumtollende Rentner mit Dauerkarte involviert sind.
Eigentlich wollte ich nichts anderes, als meinen Chefredakteur davon überzeugen, dass ich einen Exklusivbericht über die Sexindustrie in Deutschland unmittelbar vor dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls hinkriegte, ein Ereignis, »which brings maaeeny nice clients from Israel into our establishment, even if zey need a long long time to understand our rulez and regulations«, wie Engelbert es ausdrückte.
Später schrieb ich dem Chefredakteur der Nachrichtenabteilung eine SMS: »Bordellbesuch war fantastisch, keine Zeit für einen Kommentar vor der Kamera im Sexkino, aber Interview mit blondem, schnauzbärtigem deutschem Platzhirsch der Zuhälterszene.« Er schrieb zurück: »Perfec!«
»Was machst du mit dem Deutschen?«
Zu den Weltmeisterschaften 2006 hatte ich es versäumt, nach Deutschland zu reisen, als in den Köpfen der Fernsehzuschauer der Welt - und in Israel - das neue Deutschland offiziell geboren wurde und Berlin zum unheiligsten, angesagtesten Ort aller Zeiten aufstieg. Ein Ort, an dem Prostitution legal ist und auf Werbetafeln im Bus beworben wird, Zuspätkommen aber undenkbar ist. Und jetzt war ich hier, in dieser Stadt, die Urgroßvater und Urgroßmutter vor langer Zeit verlassen hatten. Der Tod meiner Mutter hatte mir den letzten Anstoß gegeben für die Reise hierher.
Ihr Leben, so wurde mir klar, hatte etwas von einer schmerzvollen Werbekampagne gehabt; schließlich hatte sie über Jahrzehnte hinweg beinahe alles Deutsche enthusiastisch gelobt und gepflegt, wobei Kinderreime, Holzspielzeug, Zartbitterschokolade und qualitativ hochwertige Küchengeräte ganz oben auf der Liste rangierten. Ihre Hauptzielgruppe, meine Schwester und ich, hatten mitunter Probleme damit gehabt, ihre sehnsüchtigen Werbebotschaften zu verstehen.
Ich schäme mich noch heute für den Tag vor etwa dreißig Jahren, an dem sie mich mit feierlicher Geste mit orangefarbenen Wollsocken in meinen braunen Ledersandalen zur Schule geschickt hatte, bevor sie zur Arbeit ins Krebsforschungszentrum gefahren war. Ich sah aus wie ein Idiot. Wie viel lieber hätte ich gefälschte »Adidas« oder »Puma« getragen, wie die anderen Jungs.
Ich schnitt mir mit einer Nagelschere kleine Löcher in die orangefarbenen Socken und behauptete später, ein paar Jungs aus Bethlehem hätten mich mit Steinchen beworfen, die wiederum meine Socken zerstört hätten.
»So ein Quatsch!«, zischte meine Mutter. »Wenn ich daran denke, wie teuer die waren! Wo ich doch kaum Geld übrig habe, zumal dein Vater nicht mehr ...« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Mein Sohn ist ein Schwindler ... und ein Banause. Deutsche Jungs lieben es, grüne Socken zu ihren Sandalen zu tragen.«
»Orangefarbene«, schoss ich zurück. »Jeder hat mich Shiknoz genannt!« Das ist eine beleidigende Bezeichnung für neurotische, verpeilte Kinder mit europäischen Wurzeln. Ich beneidete meine sephardischen Klassenkameraden mit Wurzeln aus Nahost oder aus Nordafrika. Deren Eltern schienen den Weg zum Scheidungsanwalt nicht zu kennen, dafür aber wussten sie, wo man supercoole Windjacken kauft. »Du und dein Deutschland. Aber wenn deine eigene Mama von dort anruft, gibst du mir sofort den Hörer weiter, und ich muss mit ihr sprechen! Und dabei darf ich sie nicht mal Oma nennen. Sie ist aber nicht irgendeine Jutta, sondern deine Mutter!«
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Autoren-Porträt von Ilan Goren
Ilan Goren, geboren 1974 in Jerusalem, zog mit Anfang 20 nach Tel Aviv. Später Studium an der London School of Economics. 2010 ging er als Europa-Korrespondent für den Tel Aviver Nachrichtensender Channel 10 News nach Berlin und lebt seitdem abwechselnd in Berlin, Tel Aviv und Moskau. Er veröffentlichte Reportagen und Kommentare in Der Spiegel, Washington Post, Ha aretz und im Tagesspiegel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ilan Goren
- 2013, 256 Seiten, Maße: 13,4 x 20 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Buhr, Vanadis
- Übersetzer: Vanadis Buhr
- Verlag: Graf Verlag
- ISBN-10: 3862200256
- ISBN-13: 9783862200252
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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