Graf Stephan Szechenyi
Andreas Oplatkas Biographie bietet das Bild einer überragenden Persönlichkeit und zugleich das Panorama einer ganze Epoche.
Exzellent geschrieben, bietet Andreas Oplatkas Biographie das Bild einer überragenden Persönlichkeit und zugleich das Panorama einer ganze Epoche.
Graf Stephan Széchenyi von Andreas Oplatka
LESEPROBE
Es muß eine seltsame Nacht gewesen sein. Derzweiundzwanzigjährige Rittmeister Stephan Széchenyi bezeichnete sie in einemBrief an die Eltern als eine der schlimmsten seines Lebens, wiewohl sie dochglücklich ausging. Datiert ist das Schreiben, aus dem wir das nächtlicheAbenteuer des jungen Offiziers kennen, aus Troyes am 10. Februar 1814. DieHeere der Verbündeten drängten zu der Zeit die geschwächten, aber zuGegenschlägen immer noch fähigen Armeen Napoleons in Richtung Paris zurück, undmit der österreichischen Streitmacht des Fürsten Carl Schwarzenberg erreichtein den Wintermonaten auch dessen Ordonnanzoffizier Széchenyi die Champagne.
Der Rittmeister blickte trotz seiner Jugend bereits auf fünf beim Militärverbrachte Jahre zurück. Er hatte nicht nur Pulver gerochen, sondern gegen dieFranzosen auch Nahkämpfe bestanden und dabei Wunden empfangen. Ebenso lag schonmanch ein mit Bravour erfüllter Kurierauftrag hinter ihm; vor allem von seinerMission am Vorabend der Völkerschlacht von Leipzig soll noch die Rede sein. DieGeschichte der Nacht vom 9. auf den 10. Februar 1814, wie sie Széchenyi erlebtund geschildert hat, ist nicht von militärischem Belang. Bedeutung hat vielmehrdas Persönliche: Charakterzüge und Denkmuster, wie sie in diesem frühen BriefSzéchenyis mit seltener Deutlichkeit zum Ausdruck kommen. In gedrängter Formmanifestiert sich hier bereits das Rätselhafte des späteren Staatsmanns, alldas Geheimnisvolle, das Ungarns Geschichtsschreibung seit Generationen als eineHerausforderung empfindet.
Stephans Brief nach Hause, dies zum ersten, ist deutsch geschrieben. Der Sohnungarischer Aristokraten mit dem so schwierigen magyarischen Namen – dieAussprache nach deutscher Rechtschreibung wäre etwa „Setschenji“ – führte dieKorrespondenz mit den Eltern in deutscher Sprache (manchmal reicherte er dieTexte mit französischen Sätzen an); in seinem Tagebuch hielt er es ebenso.Deutsch blieb die Sprache der Tagebücher selbst nach dem großen Entschluß Mitteder zwanziger Jahre, sich der Laufbahn eines ungarischen Politikers zuverschreiben.
Sodann aber: Das von Széchenyi geschriebene Deutsch eignet sich dazu, Puristendas Fürchten zu lehren. Gewiß, der Graf beherrschte das Deutsche aufmuttersprachlichem Niveau; er drückte sich auf deutsch am leichtesten aus; überfeste Wendungen und bildhafte Vergleiche verfügte er vor allem in dieserSprache. Was er schrieb und wohl auch sprach, war indessen ein Wienerisch, daseiner seiner Biographen zu Recht als verwaschen bezeichnete. Wer will, kann beider Lektüre seiner Texte amüsiert auch die mit französischen Vokabeln unddialektalen Formen durchsetzte Sprache entdecken, die Hofmannsthal,sprachhistorisch getreu, im „Rosenkavalier“ den Standspersonen der Zeit MariaTheresias in den Mund gelegt hat. Zumindest in seinen privaten Aufzeichnungen,in welche keine wohltuend korrigierende Hand eines Sekretärs eingriff, machtees Széchenyi nichts aus, „er rathete uns“ zu schreiben, und mit dengrammatikalischen Fällen, so dem Unterschied zwischen „ihn“ und „ihm“, stand erganz und gar auf Kriegsfuß. Den Namen seines geliebten Heimatlandes schrieb erabwechselnd „Ungarn“, „Ungern“, „Hungarn“ und sogar „Hungern“. Széchenyi, infünf Sprachen zu Hause – er sprach, las und schrieb neben dem DeutschenUngarisch, Französisch, Englisch und Italienisch –, blieb in jeder Grammatikunsicher, sich aber dieses Mangels auch bewußt. Merkmale eines weitgreifenden,europäischen Geistes, der freilich seinen Ausbildungsweg wegen deshereinbrechenden Kriegs und der früh eingeschlagenen Militärlaufbahn aufhöherer Stufe nicht hatte fortsetzen können.
Deutsche Sprache, deutsche Bildung. Der nächtliche Ritt in der Umgebung vonTroyes – denn darum handelte es sich, um den beinahe tödlich ausgehendenVersuch, als Kurier einen Auftrag zu erfüllen – schien in einem unwegsamenSumpfgebiet sein vorzeitiges Ende zu finden: Széchenyi und sein Pferd stecktenim Morast fest. Nach dem Zeugnis seines Briefes kamen dem Rittmeister in dieserverzweifelten Lage Jugendlektüren in den Sinn: Robinson auf seiner Insel, den erin der Kindheit komisch gefunden hatte, dessen Einsamkeit er aber jetzt vollerMitleid mit dem eigenen Los verglich, und dann Schillers „Taucher“. Er zitiertdie Ballade, zitiert sie aus dem Kopf und ungenau – „In der schrecklichenEinöde von der menschlichen Hülfe so weit“ –; einer der ersten Gedanken undsein nächster Bezugspunkt sind aber jedenfalls Elemente aus dem Gedicht desKlassikers, der um diese Zeit in deutschsprachigen Ländern bereits Gemeingutder Gebildeten ist. Schiller und Goethe blieben denn auch für Széchenyi in allden folgenden Jahrzehnten gegenwärtig. Er, der gern an schicksalhafte Mächteund Fügungen glaubte, erkannte im Drama „Die Braut von Messina“ vorabÄhnlichkeiten mit seinem Leben, und immer wieder beschwor er „Die Kraniche desIbykus“, wenn er sich, was oft geschah, schon auf Erden von rächenden Geisterneingeholt wähnte.
Und nun der Verlauf des Abenteuers in der Winternacht, wie es Széchenyi denEltern am nächsten Tag – bereits aus der Geborgenheit einer geheizten Stube undmit der soldatischen Keckheit seiner zweiundzwanzig Jahre – beschrieben hat.Der Rittmeister, der in den Wochen zuvor unter anderem damit betraut wordenwar, die Verbindung zwischen Schwarzenberg und dem preußischen OberbefehlshaberBlücher aufrechtzuerhalten, und der zahlreiche lange und erschöpfende Ritte imsüddeutschen und elsässischen Raum hinter sich hatte, fühlte sich am Abend des9. Februar krank. Er legte sich in seinem Quartier nieder, nur von dem einzigenWunsch erfüllt, schlafen zu dürfen. „Ein unsanfter Corporal weckte mich.“ Erüberbrachte Széchenyi den Befehl, zu den Vorposten zu reiten und demFeldmarschall rasch Nachricht über die Stellung des Feindes zu bringen. DerGedanke ging da Széchenyi durch den Kopf, daß ihm die Quittierung des Dienstes „diesePromenade“ hätte ersparen können. Er sollte die gleiche Überlegung nochunzählige Male anstellen, die Armee jedoch erst zwölf Jahre später wirklichverlassen. Jetzt galt es zu gehorchen, „und mit Schaudern sah ich in die dunkleNacht, und unlenkbar, unaufhaltsam wie das Schicksal gingen im Traume meineBegebenheiten mir vor – es war mir so, als ob die Sonne meines Lebens sich zumUntergange geschwinder neigen wollte [...].“
Traum, Schicksal, Untergang – die Wörter und die Stimmungen, die sie kennzeichnen,kehren in den Bekenntnissen, welche die Tagebücher des reifen Széchenyifesthalten, zu allen Zeiten wieder; sie sind Grundmotive seines Lebensgefühls.In der harten Realität jener Nacht lagen die Dinge indessen so, daß der jungeOffizier, jäh aus dem ersten Schlaf geholt und ohne Instruktionen auf die Reisegeschickt, keinerlei Ortskenntnisse besaß und nicht wußte, welche Richtung ereinschlagen sollte. So schwang er sich auf das Pferd und überließ sich, wie erschreibt, dem Zufall. Der Ritt ging durch ein vom Krieg verwüstetes undmenschenleeres Dorf, wo sich niemand fand, der Auskunft hätte geben können.Széchenyi durchquerte Wälder und Wiesen und landete schließlich in demunwegsamen Sumpfgebiet. Die Verzweiflung, die ihn hier überkam, hatte nicht daseigene Geschick zur Ursache. Sie nährte sich vielmehr – seine Schilderung töntglaubwürdig – aus der Erkenntnis, daß er nicht imstande war, seine Pflicht zuerfüllen. Die Vorstellung plagte ihn, welche fatalen Folgen sein Versagen fürdie Kriegführung haben werde. Von Furien verfolgt, wie er halb dramatisierendund halb ironisch schreibt, rief er die Vorsehung an und erwartete sein„seliges Ende“.
Die Fähigkeit, sich selbst gegenüber ironische Distanz zu wahren, verblaßte mitvorrückendem Alter, wiewohl sein Humor, von einer ehrfürchtigen Nachweltzumeist verkannt oder übersehen, ihm nie abhanden kam und selbst in dendunkelsten Zeiten gelegentlich aufblitzte. Auch die schützende Vorsehungbeschwor er im weiteren Leben oft auf ähnliche Art wie im Sumpf bei Troyes. DieFurien freilich vermehrten sich in den späten Jahren bedenklich und suchten ihnimmer häufiger heim.
Die selbstquälerischen Gedanken des im Sumpf steckengebliebenenOrdonnanzoffiziers über verhängnisvolle „Verspätungen und Verabsäumungen“, diesein unerfüllter Auftrag zeitigen werde, signalisieren einen weiteren Grundzug,der die Natur des reifen Széchenyi beherrschen sollte: Der Graf, ein Mann desWillens und in noch größerem Maß der Beharrlichkeit, war gewohnt, Hindernisseunter allen Umständen zu meistern und das Vorgenommene am Ende doch zuerreichen. Der Erfolg galt als sein Element. Niederlagen trafen ihn, er verwandsie schlecht. Das Scheitern, mochte es auch um öffentliche Dinge gehen, empfander in nervöser Überempfindlichkeit stets als einen gegen ihn selbergerichteten, persönlichen Schlag, der geradezu seine Existenzberechtigung inFrage stellte.
So auch beim frühen Erlebnis im Februar 1814: „Mir wurde immer heißer, dieIdeen, die mannigfaltigsten, jagten sich in meinem Gehirn. Die letzte war diebeste, ‚ich wollte mich erschießen‘.“ Es ist der junge Széchenyi selbst, der inseinem Brief an Vater und Mutter die Worte über die Selbstmordabsicht mitAnführungszeichen hervorhebt und dazu noch unterstreicht. Was in der Geschichteder Nacht folgte, erscheint nur noch in der scherzhaften Brechung, aus dersicheren Perspektive des nächsten Tages: „Es fiel mir ein, ich habe ja Pistolen– ich griff mutig nach der einen“, doch gab er dann – „und da, seligsterAugenblick, wähnte ich mich auf einem Kriegsschiff“ – bloß einen Notschuß ab.Der Knall hatte zum einen zur Folge, daß das erschrockene Pferd ausschlug undsein Reiter nach dem Willen des – hier zum ersten Mal und bloß ironischerwähnten – Allmächtigen „mit dem Gesicht in die Teichsuppe“ fiel. Zum anderenaber bewirkte der Schuß das Erscheinen von drei magyarischen Husaren: „durchderen Hülfe, denen ich alsogleich eine ungarische Anrede hielt, ward mein Romanzu Ende.“
Begrüßung und Dank auf ungarisch gehören mit zum Schluß dieses „Romans“, auchsie markieren Bedeutendes: Das Kind Stephan Széchenyi hatte zu Hause frühUngarisch gelernt, und er war ungarisch erzogen worden. Gewandtheit in derSprache, die er als angehender Politiker später neu studieren sollte, erlangteer aber nicht, diente er doch vom siebzehnten Lebensjahr an unter derkaiserlichen Fahne. Die ungarische Anrede an die engeren Landsleute, an die mitgezücktem Säbel herbeisprengenden Joseph-Husaren, ist indessen ein Beleg dafür,daß sich Széchenyi in den Jahren des österreichischen Kriegsdienstes seinesUngartums bewußt blieb. Er mochte es als eine Besonderheit, als ein Merkmalandersartigen Herkommens auffassen; eine feste innere Bindung an das ihm nochunbekannte Ungarn empfand er zu der Zeit noch nicht. Der gut zehn Jahre spätergetroffene Entscheid, sich Ungarn zuzuwenden und fortan für dieses Land zuleben, hat trotzdem seine in die Kindheit zurückreichende Vorgeschichte.
Wie Stephans Eltern den Bericht vom Selbstmordgedanken des Sohnes aufnahmen,wissen wir nicht. Der gemütliche Ton, in dem ihr Stephan den Rückblick auf dasihm Widerfahrene beendete, mochte den Schrecken mildern: „Der Feind war ganzabgezogen, ich sammelte alle Rapporte, und beim Erwachen des Fürsten war ichauch schon wieder da. Seine Zufriedenheit lohnte mich – und was noch mehr? Meingänzlich Wohlbefinden. Gestern war ich krank, hielt Todesangst aus, und nunkann ich kaum erwarten, einen 14-jährigen Hahn, den meine Hausfrau eben fürmich umbringt, rein aufzuessen.“ Ende gut, alles gut. Der nachgeborene Leservon Széchenyis Tagebüchern weiß indessen, daß Gedanken an den Selbstmord in denAufzeichnungen des Grafen in allen Epochen seines Lebens mit manischerHartnäckigkeit wiederkehren. Der Ausruf „Pistole!“ ist geradezu eine stehendeKurzformel, die in Stunden der Verzweiflung seinen Selbstmordwunsch ausdrückt.Und es war denn auch die Pistole, mit der er 1860 seinem Leben durch eigeneHand ein Ende setzte.
Der Graf, auch dies verrät der 1814 verfaßte Brief bereits, war eineKämpfernatur; über Härte und Strapazierfähigkeit verfügte er in einem Grad, deralle Vorstellungen vom verweichlichten Aristokraten Lügen straft. In der Tat,Széchenyi scheute zeit seines Lebens keine körperlichen Mühen, doch galt er –und auch dies erwies sich wiederholt – nicht als ein Mann, der Krisen mitkühlem Kopf zu bestehen verstand.
Ist dieser Charakterzug, die seelische Labilität der suizidgefährdetenPersönlichkeit, in dem frühen Brief bereits angedeutet, so wiegt ein weiteres,hier ebenso schon auftauchendes Motiv zwar minder schwer, es begleitete undbelastete aber Széchenyi als Grundempfinden ein Leben lang auf gleiche Weise:die Krankheit. Tatsächliche und vermeintliche Leiden plagten den Grafen ohneUnterlaß, und er selber amtete in seinem Tagebuch als ein getreuer, manchmal auchmit peinlichen Einzelheiten aufwartender Chronist der eigenen Gesundheit. Alsein eingebildeter Kranker läßt sich der Graf allerdings nicht abtun. Die Ärzte,die ihn zu Lebzeiten pflegten, und Mediziner nachfolgender Generationen, die imhistorischen Rückblick seine Krankheitsgeschichten zu deuten suchten, zeigtensich über den Hauptbefund einig: Széchenyis Körper war tatsächlich vielfachangegriffen. Indessen: Der Graf, der nicht müde wurde, sich über seineGebrechlichkeit zu beklagen, erregte in seiner Heimat als Sportsmann Aufsehen.Er ritt und schwamm, war ein Liebhaber des Ballspiels, er ruderte, fuhrSchlittschuh, bestieg Berge und unternahm weite Fußmärsche – in der erstenHälfte des 19. Jahrhunderts noch ein seltenes und seltsames Tun. Sodann sindbei Széchenyi physisches Leiden und Stimmung nicht voneinander zu trennen. Erselbst war sich darüber im klaren: „Es ist eine Seelenkrankheit“, so etwastellte er sich inmitten einer langwierigen Leidensgeschichte selber dieDiagnose. Daß er darniederlag und durch Erfolg oder gute Nachricht gleichwieder genas, wie in Troyes geschehen, kam immer wieder vor. Das Gegenteilebenso: daß Mißerfolg, ob politisch oder persönlich, seinen Organismus heftigin Mitleidenschaft zog.
Daß Graf Stephan Széchenyi einer jener komplizierten Menschen war, die sichlaut dem Verdikt des Briten Thomas Edward Lawrence zum Objekt einer einfachenBiographie schlecht eignen, mag schon aus dem frühen, in Troyes datierten Briefhervorgehen. Die Wirklichkeit seines Lebens war noch um einiges schwieriger,vielschichtiger.
© Zsolnay Verlag
Andreas Oplatka (1942-2020) wurde in Budapest geboren und kam 1956 in die Schweiz. Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich und Wien. Von 1968 bis 2004 außenpolitischer Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, deren Korrespondent er in Stockholm, Paris, Moskau und Budapest war. Bei Zsolnay erschienen Graf Stephan Széchenyi. Der Mann, der Ungarn schuf (2004), Der erste Riss in der Mauer (2009) und im Herbst 2019 die Biografie über den Dirigenten Adam Fischer Die ganze Welt ist ein Orchester.
- Autor: Andreas Oplatka
- 2004, 526 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15,1 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552053174
- ISBN-13: 9783552053175
- Erscheinungsdatum: 20.08.2004
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