Heimat 3
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Mit seinem weltberühmten Zyklus "Heimat" hat Edgar Reitz Film- und Fernsehgeschichte geschrieben. In den 80er und 90er Jahren war die Geschichte um "Hermännchen" und das abgelegene Hunsrückdorf Schabbach ein Straßenfeger. Jetzt erzählt Reitz sein Psychogramm der Bundesrepublik Deutschland bis zur Jahrtausendwende als großangelegtes Finale: "Heimat 3" Hermann und Clarissa begegnen sich nach siebzehn Jahren wieder - in Berlin am Abend des Mauerfalls. Als Musiker sind beide international erfolgreich, in der Liebe sind beide gescheitert. Sie beschließen, es nochmals miteinander zu versuchen. In der Nähe von Schabbach kaufen sie ein traumhaft gelegenes, verfallenes Bauernhaus, in dem der Legende nach die unglückliche Caroline von Günderrode sich mit ihrem Geliebten traf. Der Abschluss der Renovierung wird mit einer großen Party gefeiert. Inzwischen ist Hermanns Bruder Ernst wieder aufgetaucht. Er ist begeisterter Flieger und Kunstsammler, der sich in Osteuropa immer wieder durch zwielichtige Geschäfte in Schwierigkeiten bringt. Auch in der Familie des dritten Bruders August bahnen sich Konflikte an: Hartmut, Augusts Sohn, der gerade in die Firma des Vaters eingetreten ist, verliebt sich in die schöne Russlanddeutsche Galina und gefährdet seine junge Ehe. Clarissa verlässt Hermann wegen eines anderen Mannes, und Hermann reist unstet durch die Welt auf der Suche nach neuem Halt. Als Clarissa schließlich in ihr gemeinsames Haus zurückkehrt, ist sie eine schwerkranke Frau. Die Zeit des Abschiednehmens ist angebrochen - von Menschen, von Schabbach und von einem Jahrtausend.
Clarissa verlässt Hermann wegen eines anderen Mannes, und Hermann reist unstet durch die Welt auf der Suche nach neuem Halt. Als Clarissa schließlich in ihr gemeinsames Haus zurückkehrt, ist sie eine schwerkranke Frau. Die Zeit des Abschiednehmens ist angebrochen - von Menschen, von Schabbach und von einem Jahrtausend.
Berliner Philharmonie, am Künstlerausgang
Das Konzert dieses Abends war ein Erfolg. Unter den Orchestermitgliedern, die nach dem Applaus eilig das Gebäude verlassen, nähert sich auch der Dirigent, Hermann W. Simon, der Pforte. Hermann ist Ende vierzig, graumelierte Künstlermähne, in lässiger Eleganz gekleidet: schwarzer Tuchmantel, darunter Pulli und schwarze Jeans. Der Komponist, dessen Stück Teil des heutigen Abendprogramms war, will ihn in ein Gespräch über künftige Zusammenarbeit verwickeln. Hermann ist unkonzentriert und strebt ins Freie. Autogrammjäger versperren ihm den Weg. Sein Assistent, Reinhold Loewe, ist auf den Parkplatz vorausgeeilt, um ein Taxi zu ordern. Hermann wirft beim Signieren der Autogrammkarten einen forschenden Blick nach draußen, und es prägt sich ihm in dieser Sekunde eine bizarre Momentaufnahme ein: sein devoter Assistent, mit Hermanns Frack am Bügel, seiner Partiturentasche unter dem Arm, in der freien Hand seine Lackschuhe haltend und mit dem Etui winkend, das des Meisters Taktstock enthält ... Und dabei lächelt er auch noch - ein absurdes Bild.
HERMANN. 'Am Abend des 9. November 1989 hatte ich ein Konzert in der Berliner Philharmonie dirigiert. Als ich mich am Künstlerausgang von dem Komponisten und meinem Assistenten verabschiedet hatte, spürte ich eine eigenartige Vibration, die sich in der Berliner Nachtluft auszubreiten schien.'
Hermann sieht sich nach dem Komponisten um, der ebenfalls auf dem Parkplatz steht. Auch er scheint von etwas Unbenennbarem fasziniert und horcht in die Nacht hinein. Reinhold hat Schuhe, Frack und Partitur in einem Taxi verstaut und versucht, sich zu den wichtigen Gegenständen auf den Rücksitz zu quetschen. Dabei nennt er dem Fahrer das Ziel: Hotel Kempinski, Kurfürstendamm.
'Taxifahrer'. Zum Brandenburger Tor wolln Se nich?
Reinhold weiß nicht, was er von der Frage halten soll, und drängt zur Abfahrt. Sein "Maestro" hatte gesagt, er werde
Savignyplatz um 23 Uhr
Wo immer Hermann nun geht in dieser Novembernacht, hat er den Eindruck von irgendeiner Veränderung, die seinem Blick verborgen bleibt. Der Savignyplatz ist eher menschenleer, die S-Bahn donnert über die Brücke wie sonst auch, die Hausfassaden schweigen.
HERMANN. 'Es war, als nähere sich ein ungeheurer Jubel, den man aber noch nicht hört, der sich nur als Erregung des Nervensystems ankündigt. Erst nach und nach begriff ich, dass diese Stadt sich gerade veränderte.'
Auf dem Weg zur Grohlmannstraße kommt ihm ein einzelner Mensch entgegen: ein weinender Mann in Stonewashed-Jeans, Mitte fünfzig, der von einem Straßenschild zum anderen taumelt und deren Namen vor sich hinmurmelt, als wolle er sie alle auswendig lernen. Als er Hermann entdeckt, fasst er ihn an beiden Händen und schüttelt sie unablässig.
PASSANT. Dat ick det noch erleben durfte! Nee! Ick denk, ick fass et nich - dat ick det noch erleben durfte!
Hermann, ein wenig erschrocken, versucht sich aus dem Griff des Mannes zu befreien.
HERMANN. Ist ja gut ...
Der Mann fällt ihm um den Hals, um sich gleich wieder loszumachen und in die Dunkelheit weiterzulaufen.
Kopfschüttelnd setzt Hermann seinen Weg fort. Er hört jetzt von weitem, aus vielen Kehlen dringend, das Lied "So ein Tag, so wunderschön wie heute".
Da bleibt er noch einmal stehen, tastet nach seiner Brieftasche und überprüft die Hosentaschen, ob er noch alles hat. Es fehlt nichts.
Der Mann war also kein Taschendieb.
HERMANN. 'Ich ging zu meinem Hotel, spürte, wie der Jubel immer näher kam, und wusste, von diesem Augenblick an wird sich unser Leben in Deutschland verändern.'
Hotel Kempinski, in der Lobby
Als Hermann den Hoteleingang erreicht, brandet in der Straße Jubel auf. Ein fast bedrohlich lautes Geschrei! Er beeilt sich, ins Foyer zu kommen. Der Jubel der Passanten gilt einem einzelnen Trabi, der gerade vorbeifährt und weiße Rauchwölkchen zurücklässt. Das Hupen und Gejohle von der Straße scheint sich in der weitläufigen Halle des Edelhotels noch zu verstärken. Wie Hermann feststellt, schallt es hier aus einem laut aufgedrehten Fernseher, der neben dem Eingang zur Hotelbar aufgestellt worden ist. Das Programm hat eine ganze Traube neugieriger Hotelgäste angelockt. Der Portier winkt Hermann vom Tresen aus zu und deutet auf den Hausdiener, der seinen Frack, die Lackschuhe und Partiturtasche auf einem vergoldeten Gepäckwagen heranfährt. Hermann mischt sich, so gut es geht, in das Gedränge vor dem Fernseher. In einer Nachrichtenzusammenfassung wird gerade eine Pressekonferenz mit Günter Schabowski, einem Mitglied des DDR-Ministerrats, gezeigt. Man sieht, wie er nach seinem Spickzettel greift.
SCHABOWSKI. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass und Meldewesen der VPKÄ - äh, der Volkspolizeikreisämter - in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen ..."
Auf dem Bildschirm folgen Szenen vom Andrang der Ostberliner an den geöffneten Grenzdurchgängen, Bornholmer Straße, Sonnenallee und im Westteil der Stadt. Hermanns Gesicht wird von einem üppigen Blumenstrauß gestreift. Der Rosenduft umschmeichelt ihn, sodass er einen neugierigen Blick zur Seite wagt. Er kann das Wesen hinter den Blumen nicht erkennen.
Als sich der Strauß während eines Beifallsturms einmal senkt, blickt Hermann nochmals zur Seite, sieht eine elegant gekleidete Dame mit hochgestecktem Haar.
Ihre Blicke begegnen sich. Hermanns Konzentration scheint gestört, er schaut wieder weg.
Auch sie wagt einen nochmaligen Blick. Das ist doch ...!
Er stutzt. Sie sehen sich erneut an. Dann entsteht ein helles Lächeln des Wiedererkennens in seinen Augen.
HERMANN. Clarissa, bist du das?
Clarissa hat nun auch ihn erkannt.
CLARISSA. Hermann? Was machst du in Berlin? Ich will das wissen. Ausgerechnet heute Abend. Hier?
Die Hotelgäste sind von der stürmischen Umarmung, mit der die beiden sich begrüßen und in einen Freudentanz des Wiedersehens geraten, peinlich berührt. Sie starren umso interessierter auf den Fernsehschirm.
HERMANN. Ich habe eben Schubert dirigiert.
CLARISSA. Und ich habe Schubert gesungen ...
HERMANN. Clarissa, bist du das wirklich?
CLARISSA. Sag, dass du real bist, kein Traum.
Clarissas Hotelzimmer
Der allgemeine Jubel mischt sich mit der Leidenschaft der Liebenden. Zwischen Bett und laufendem Fernseher lieben sie sich in wilder Ekstase auf dem Teppichboden. Auf dem Bildschirm spielen sich gleichzeitig euphorische Szenen ab: Unbehelligt von der Grenzpolizei überwinden Menschenpulks von beiden Seiten die Grenzbefestigungen, bilden Räuberleitern und klettern auf die Mauerkrone. Manche nehmen die Wasserschläuche zu Hilfe, mit denen die Grenzer zuvor versucht hatten, die Menge zurückzutreiben. An anderer Stelle steuern Tausende von DDR-Bürgern mit ihren Trabants und Wartburgs auf die Grenzübergänge zu. Jubelnde Westberliner bilden Spaliere für die DDR-Autos und trommeln zur Begrüßung mit den Händen auf die Wagendächer.
HERMANN. 'In dieser Nacht, in der die Weltgeschichte den Atem anhielt, sah ich Clarissa wieder. In unseren Studentenjahren waren wir ein Liebespaar gewesen. Verstrickt in Sehnsüchte und Widersprüche, hatten wir uns aber in den wilden Siebzigern verloren. Jahrelang waren wir auf getrennten Wegen, jeder für sich, durch die Welt gerannt, hatten Karriere als Musiker gemacht, hatten Familien gegründet und wieder zerstört, hatten Freunde gefunden und wieder verlassen. Wir lebten in Hotelzimmern, und die Flughäfen der Welt waren uns vertrauter als unsere Wohnungen. Seit 17 Jahren hatten wir uns nicht gesehen, vergessen aber hatten wir uns nie. Die Fernsehbilder vom Fall der Mauer, unsere Umarmungen im Hotelzimmer, die Küsse, der Jubel auf dem Kurfürstendamm - das alles gehörte auf einmal zusammen und verschmolz zu einem Bild unserer wiedergefundenen Liebe.'
Die Ereignisse auf dem Bildschirm verwandeln sich für die Liebenden in unmittelbare Wirklichkeit. Dieselben Menschen, die in den Fernsehbildern über die Mauer geklettert, über die Bornholmer Brücke geströmt oder, von euphorischen Westberlinern mit Sektflaschen begrüßt, in den Trabikolonnen durchs Brandenburger Tor gerollt sind, feiern, tanzen und jubeln nun direkt unterhalb der Hotelfenster auf dem Kurfürstendamm.
Hermann und Clarissa treten, ihre Nacktheit mit der Bettdecke verhüllend, auf den Balkon hinaus und sind mitten im Geschehen.
HERMANN. Das ist alles nur für uns. Ihre Münder finden sich wieder zum Kuss, und erneut verschmelzen ihre Körper auf dem Teppichboden. Sie bleiben den ganzen folgenden Tag über in Clarissas Zimmer.
Niemand soll sie stören, auch Assistent Reinhold nicht, der wegen eines von Hermann versäumten Pressetermins sehr beunruhigt ist. Immer noch läuft das Fernsehgerät. Man hört die Ansprache des Westberliner Bürgermeisters Walter Momper vor dem Schöneberger Rathaus.
MOMPER. "Seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 haben wir diesen Tag herbeigesehnt und herbeigehofft. Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt."
Hermann und Clarissa haben viel nachzuholen. Zwischen ihren Umarmungen stellen sie sich wichtige Fragen. Was haben sie in den langen 17 Jahren, seit ihrem missglückten Wiedersehen in Amsterdam, erlebt? Sind sie frei füreinander, oder warten ihre getrennten Leben schon hinter der Tür dieses Zimmers, das sie von der Außenwelt abschirmt?
CLARISSA. Bist du eigentlich wieder verheiratet? Was macht denn deine Tochter? Hast du noch andere Kinder? Ich weiß eigentlich gar nichts von dir.
HERMANN. Im Grunde leb ich genauso aus den Koffern wie du. Fernsehton im Hintergrund: Jetzt singen sie das Deutschlandlied. Willy Brandt, Helmut Kohl, Walter Momper. Dazu wird eine kombinierte ost-westdeutsche Flagge geschwenkt. "... blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland."
Clarissas Stimme meldet sich aus dem Badezimmer.
CLARISSA. Hermann, ich muss dir unbedingt was erzählen! Schon ist sie wieder bei ihrem Geliebten im Bett, kuschelt sich an ihn.
CLARISSA. Das war vor fünf Jahren, im Sommer '84, da kam ich während einer Tournee an das schönste Fleckchen Erde der Welt, wo ich mir sofort vorstellen konnte, für immer zu bleiben. Da stand ein Haus, ein kuscheliges Fachwerkhaus, mit dem sagenhaftesten Blick. Es gibt so was, man steht davor und weiß es einfach.
HERMANN. Ja und, hast du das Haus gekauft?
CLARISSA. Natürlich nicht.
HERMANN. Warum nicht, was war der Haken?
CLARISSA. Na du, du warst der Haken.
HERMANN. Vielleicht ist es noch zu haben. Komm, lass uns da hinfahren.
Hermann ist zu allem entschlossen. Schon ist er aufgesprungen und ins Bad gelaufen, um sich anzuziehen.
Die deutsch-deutsche Grenze bei Teistungen
Auf ihrer Fahrt nach Westen gelangen die Liebenden in Hermanns BMW über kleine Straßen an einen Grenzübergang: ein Wachturm, Armeefahrzeuge, halb geöffnete Grenzbefestigungen. Weggeräumte Mauersegmente geben im Hintergrund eine längst vergessene Straße frei.
Männer von der DDR-Grenztruppe bemühen sich, eine immer länger werdende Kolonne von Fahrzeugen zu stoppen. Hermann und Clarissa müssen anhalten.
Ein DDR-Grenzoffizier balanciert einen Tisch über seinem Kopf und versucht, mit Hocker und Dienststempel wenigstens eine provisorische Passkontrolle einzurichten. Doch die Menschen in ihren Trabis und Wartburgs sind nicht mehr bereit, bürokratische Hindernisse zu akzeptieren. Sie fordern die Grenzbeamten mit Rufen zur Eile auf. "Aufmachen, aufmachen, aufmachen ..." und "Wir kommen wieder, wir kommen wieder!" "Wie lange sollen wir denn noch warten?" "Wir wollen rüber!"
Schon kommen weitere Fahrzeuge aus allen Richtungen an - Autos, Mopeds und Fahrräder - und reihen sich hinter dem West-BMW ein.
Als die Grenzer an den rot-weißen Kegeln immer ratloser den wachsenden Andrang registrieren, werden die Zurufe nur noch lauter, und ein Hupkonzert beginnt.
CLARISSA. Wenn man bedenkt, dass hier vor kurzem noch geschossen wurde ...
Ehe sie ihren Gedanken weiter nachhängen kann, haben die Grenzer schon klein beigegeben: Sie räumen die Sperrkegel aus dem Weg. Die Kolonne rollt an den Grenzbeamten vorbei und erreicht westdeutsches Gebiet.
HERMANN. Glück auf, meine Herren, Glück auf!
Der Grenzoffizier starrt hilflos auf die Autoflut. Er kann den Zusammenbruch seines Ordnungssystems nicht fassen.
Eine Autobahnstrecke in Westdeutschland
Auf der westdeutschen Autobahn kommen Hermann und Clarissa zügig voran. Immer wieder überholen sie überfüllte DDR-Wagen, ein endloses Band von Trabis, Wartburgs, Motorrädern und anderen Vehikeln auf beiden Fahrspuren. Über eine Million DDR-Bürger sind an diesem Samstag zu einer Fahrt in die Bundesrepublik aufgebrochen. Aus den Wagen winken fröhliche Menschen den beiden zu. Hinter den Heckfenstern werden Deutschlandfahnen geschwenkt, und es scheint, als wären alle Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt. Einige wagen Überholspiele, andere fahren übermütig in Schlangenlinien, junge Leute mit Sektflaschen in den Händen hängen sich weit aus den Fenstern und johlen den westdeutschen Fahrern zu.
Clarissa lehnt sich mit verträumtem Lächeln an Hermanns Schulter.
Später, als er müde wird, übernimmt sie das Steuer und gönnt ihm etwas Schlaf nach all den aufregenden Erlebnissen.
Und sie allein kennt das Ziel der Reise ...
Oberwesel am Rhein,
der Marktplatz und Weinbergwege
Der Novembertag neigt sich schon, als der BMW mit dem Münchner Kennzeichen im Dämmerlicht an den Rhein kommt. Hermann ist neben Clarissa in tiefen Schlaf gesunken. Beim Städtchen Oberwesel verlässt sie die Landstraße.
Von weitem dringt Kindergesang in Hermanns Träume.
Ein Lichterzug von Kindern, angeführt von einer Blaskapelle, wandert über den historischen Marktplatz des Städtchens. Als die Lampions mit Sonne, Mond und Sternen vorübergezogen sind, gibt ein Polizeibeamter die Straße wieder frei.
Hermann ist bei dem Gesang der Kinder nicht aufgewacht. Clarissa fährt behutsam weiter und findet auch bald den Serpentinenweg wieder, der sich in die Weinberge hochwindet.
CLARISSA. 'Ziel unserer Reise war ein wahres Traumhaus, das hoch über dem Rhein stand, umgeben von Rebstöcken und uralten Bäumen. Ich hatte es ein paar Jahre zuvor auf einer Konzertreise entdeckt und mich sofort in das 200 Jahre alte Haus verliebt. Alle meine verschütteten Sehnsüchte nach Liebe und Geborgenheit wurden geweckt. Ich spürte, dass es auch Hermanns Wunsch war, endlich irgendwo anzukommen. Endlich Schluss zu machen mit diesem Leben aus den Koffern, das wir uns als viel beschäftigte Musiker angewöhnt hatten. Wir standen in der Mitte des Lebens, und unsere Liebe brauchte ein Zuhause.'
Clarissa steuert das Auto über einen steil ansteigenden Weg zwischen Rebstöcken und Abgründen hinauf. Hoch oben, dort, wo sich der Blick über das weite Rheintal und das Städtchen öffnet, endet der Weg. Im letzten rosaroten Licht des Tages leuchtet der mächtige Fluss herauf, dessen Wasser in einer weit ausholenden Schleife einen von Reben und Gestrüpp bewachsenen Berg umspülen.
Hermann spürt zwar, dass Clarissa anhält und aussteigt, aber er ist noch zu schlaftrunken, um die bleischweren Lider über den Augen öffnen zu können.
Günderrode-Haus
Clarissa sieht sich auf dem dämmrigen Gelände um. Nur über einen Pfad gelangt man weiter hinauf. Hinter wuchernden Hecken, fast ganz verborgen, erkennt sie die Konturen eines Hauses. Es ist ein ehemals hübscher, halb zerfallener Fachwerkbau aus dem 18. Jahrhundert, mit marodem Schieferdach, das mit schäbigen Wellblechen bedeckt ist. Risse durchziehen die Fassade, die Fenster sind zerborsten, Fachwerkfüllungen bröckeln. Auch das vorgelagerte Torhäuschen ist nur mehr eine Ruine.
Clarissa versucht, näher an das umwucherte Gebäude heranzukommen. Ein zugewachsener Weg führt an einem mächtigen Kastanienbaum vorbei, hinter dem einst der Vorplatz des Hauses gelegen hat. Voller Ungeduld arbeitet sie sich durch die Dornenhecken und erreicht die Haustür, die halb offen steht.
Mit einem Blick zurück vergewissert sich Clarissa, dass Hermann noch immer schläft. Sie betritt das düstere Haus und bleibt im ehemaligen Salon stehen. Unter einem bedrohlich herabhängenden Balken stehen noch Reste eines reich verzierten gusseisernen Ofens, geschnitzte Wandvertäfelungen haben sich von den Wänden gelöst oder liegen modernd am Boden. Die Innenwände sind eingestürzt, Türen hängen in herausbrechenden Angeln. Der Blick durch die Fenster aber geht direkt auf die Flussbiegung und die dämmernden Berghänge.
Hermann erwacht. Die Autotür steht offen. Nach und nach vernimmt er die Geräusche, die vom Tal heraufwehen. Während er schlaftrunken die kühle Luft einatmet, vernimmt er Clarissas leise singende Stimme.
CLARISSA.
Schlafend trägt man mich
in mein Heimatland.
Ferne komm ich her
über Gipfel, über Schlünde.
Über ein dunkles Meer
in mein Heimatland.
Clarissa hat einen kleinen Aussichtspavillon erreicht und schaut über Büsche hinweg zum Fluss hinunter. Sie genießt die feuchte Stille, die vom Tal aufsteigt. Als Hermann fröstelnd vom Auto herüberkommt, hält sie im Gesang inne, ohne sich nach ihm umzusehen. Er bleibt hinter ihr stehen. Clarissa lehnt sich, sobald sie ihn spürt, an seine Brust. Hermann schließt die Augen, legt seine Wange an ihr Haar.
HERMANN. Ich kenne das alles hier. In der Dämmerung ist der Blick ins Tal von zarter Klarheit: das Städtchen Oberwesel mit seinen alten Mauern und Türmen, die Burg auf dem Hügel über der Stadt, der schimmernde Fluss mit den sanft dahingleitenden Schiffen.
CLARISSA. 'Hermann hatte mir oft erzählt, wie er einst aus seinem Hunsrückdorf weggelaufen war - mit 19. Aus Protest gegen die Enge der Heimat war er damals aufgebrochen und hatte sich geschworen, die Welt der Musik zu erobern und nie mehr zurückzukehren. Es muss am Zauber unseres Wiedersehens gelegen haben, dass er sich auf diese Reise eingelassen hat und mir nichtsahnend in das Land seiner Kindheit gefolgt ist.'
- Autor: Edgar Reitz
- 2004, 2, 637 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502481
- ISBN-13: 9783813502480
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