Heimat aus dem Koffer
Vom Leben nach Flucht und Vertreibung
Sie waren nicht wirklich immer und überall willkommen: Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler in der neuen Heimat BRD. Hier erinnern sich Frauen und Männer an die Jahre zwischen Trauer und Hoffnung.
Ihre alte Heimat...
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Produktinformationen zu „Heimat aus dem Koffer “
Sie waren nicht wirklich immer und überall willkommen: Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler in der neuen Heimat BRD. Hier erinnern sich Frauen und Männer an die Jahre zwischen Trauer und Hoffnung.
Ihre alte Heimat galt für viele Jahrzehnte als Feindesland und Sperrzone. Mit einem Koffer und einem Rucksack kamen sie ins neue Deutschland - und versuchten den Brückenschlag zwischen Erinnerung und Neubeginn. Einfühlsam und berührend zeigt Autorin Hilke Lorenz an ausgewählten Fällen, wie Vertriebene den Schmerz über ihren Verlust verdrängt haben - und welche Folgen dies für sie und ihre Familien hatte.
Lese-Probe zu „Heimat aus dem Koffer “
Heimat aus dem Koffer von Hilke Lorenz»Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. Gib mir den Atem der Kindheit, der lautlos entflieht.«
Aus: Ostseelied von Hildegard Knef
»... und du wirst es nie vergessen, dass du bist ein Schlesier gewesen ...«
Aus einem Gedicht, das die zehnjährige Monika in den späten 1950er Jahren für einen Jungen aus ihrem Kinderchor schrieb
Vorwort
Die Kinder als Sperrzone
Wer sich Ärger einhandeln will, der muss nur das ehemals schlesische Breslau Wroclaw nennen. Von Kaliningrad als Königsberg sprechen. Oder jene Deutschen, die zwischen 1944 und 1946 Flucht und Vertreibung ausgesetzt waren, als späte Opfer des Zweiten Weltkriegs bezeichnen.
Vielstimmiger Protest ist ihm sicher. Das Verhältnis der Deutschen zu der historischen Tatsache, dass 14 Millionen Bewohner der damaligen Ostgebiete ihre Heimat in Folge des Zweiten Weltkriegs verlassen mussten, dass zwei Millionen von ihnen die damit verbundenen Strapazen nicht überlebten, ist alles andere als geklärt, ist schwierig und widersprüchlich.
Dieses Land hört noch immer unangenehm berührt weg, es fehlt ihm die nötige Achtsamkeit, wenn diejenigen ihre Lebensgeschichte erzählen möchten, die ihre Kindheit oder gar Jugend in Ostpreußen, Schlesien, Böhmen und Mähren, Bessarabien oder im Baltikum erlebt haben. Und deren Erzählton nimmt wohl zwangsläufig eine andere Färbung an, wenn sie Mal um Mal merken, dass sie gegen das Weghören anreden müssen. Er wird schrill, reißt mitunter in Misstöne aus und rückt die Erzählungen in den Augen manchen Zuhörers in die Nähe revanchistischen Gedankenguts.
Dabei geht es den meisten derer, die Flucht und Vertreibung miterlebt haben, gar nicht darum, auf die Rückgabe einstiger
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Besitzungen zu pochen. Die meisten haben in der Bundesrepublik eine neue Heimat gefunden, sich integriert und zum Teil Bilderbuchkarrieren hingelegt. Aber irgendwann wollen auch die Angekommenen einmal über ihre Herkunft ja: die eigentliche Heimat reden. Auf offene Ohren stoßen sie dabei selten. In der Öffentlichkeit nicht und auch nicht im Kreis der Familie.
Dabei ist es doch leicht nachzuvollziehen, dass das abrupte, gewaltsame Ende eines Lebensabschnitts Menschen zeitlebens prägt. Diese Erfahrung legt man nicht ab wie ein Kleidungsstück, das irgendwann weder zum gewachsenen Körper noch zur gewandelten Mode passt. Genauso dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass Heimatverlust als eine entscheidende biografische Wende gelten darf auch wenn viele Einheimische ebenso wie die Vertriebenen und Flüchtlinge nach dem Krieg wieder von vorne anfangen mussten.
Es gibt keinen Grund, die Belastungen der einen mit den Beschwernissen der anderen wegzuwischen und aus der Erinnerung zu bannen. Im Grunde könnte unser Land auf seine frühe Integrationsleistung stolz sein. Auch wenn das keine reibungslose, schmerzfreie, harmonische Integration war. Über die alltäglichen Verletzungen beispielsweise am rollenden »r« des sudentendeutschen Dialekts erkannt und deshalb als »Polacke« beschimpft zu werden schwiegen die Gesellschaft und die Betroffenen freilich lange sehr einvernehmlich.
Heute, im Zeitalter hoher, oft vom Arbeitsmarkt erzwungener Mobilität mag es nicht außergewöhnlich erscheinen, dass sich Lebenskoordinaten ändern, dass jemand statt in Königsberg in Stuttgart, statt in Breslau in Hanau wohnen und sich neu einfinden muss. Dieser nüchterne Blick, der Vertreibung lediglich als Adressänderung wertet, blendet Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen aus.
Aber wie spricht man von dem, was hinter einem liegt? Sagt man: Ich komme aus einem Ort, Sie werden ihn nicht kennen, er liegt heute in Polen? Erzählt man von Breslau oder von Wroclaw?
Sagt man: Ich bin ein Vertriebener? Redet man sich als Nachkomme diplomatisch heraus, indem man sagt: Meine Familie ist nicht von hier? Wie verortet man sich, wie erklärt man seine Identität? Gibt es für das, wofür es keine passende sprachliche Ausdrucksform gibt, auch kein Verständnis?
Für die Generation der Flüchtlinge und Vertriebenen waren die Orte der Kindheit bis weit in die 1980er Jahre hinein nicht nur räumliche, sondern auch sprachliche Tabuzonen.
Ein Teil ihres Lebens wurde zur Sperrzone, weil es politisch nicht opportun war, um dieses Stück verlorenen Lebens zu trauern. Den Verlustschmerz milderten die Denkverbote freilich nicht. Dieser Schmerz ist in vielen Familien noch heute präsent. Manchmal sogar in der nächsten Generation. Es gibt bei den ehemaligen Flüchtlingen und Vertriebenen tiefe Verwundungen, auch wenn man nicht pauschal die Traumatisierung aller konstatieren sollte.
Dafür sollte man endlich anerkennen, dass der geglückte Neubeginn im Westen nichts über oft gut kaschierte biografische Brüche sagt. Viele psychologische Studien belegen, dass Gewalterfahrungen wie Flucht und Vertreibung die Betroffenen ein Leben lang beschäftigen und manchmal sogar umtreiben. Je älter Menschen werden, desto lebendiger treten diese Erinnerungen in vielen Schattierungen wieder hervor.
Als etwa beim Großbrand eines Altenheims die betagten Bewohner evakuiert wurden, waren Rufe wie »Hilfe, die Russen kommen!« zu hören. Der überstürzte Aufbruch versetzte die Alten zurück in eine Zeit, in der sie schon einmal Todesangst erfahren hatten. Kindheit und Alter, das zeigt diese Episode beispielhaft, liegen am Ende des Lebens ganz nah beieinander. Was die Menschen jahrzehntelang nur im Verborgenen bewegt hat oder ganz verdrängt wurde, kommt nun mit aller Macht an die Oberfläche.
Den richtigen Umgang damit zu finden fällt Betroffenen, Angehörigen und Außenstehenden nicht leicht. Zu groß ist die gesellschaftliche und politische Scheu, dieselben Kriterien, die man für den Umgang mit ausländischen Flüchtlingen entwickelt hat, auch für die Gruppe der deutschen Vertriebenen gelten zu lassen. Denn das Land hat zu den existenziellen Erschütterungen der Nachkriegszeit noch immer kein tragfähiges Verhältnis entwickelt. Zu sehr war die Zeit danach geprägt von Vorwärtsschauen und der Teilhabe am Wirtschaftswunder.
Für Aufarbeitung blieb da kaum Raum. Dabei geht es vielen Betroffenen nicht etwa darum, die Unrechtsgeschichte des Dritten Reiches umzudeuten. Im Gegenteil. Längst fahren Heimwehtouristen in ihre alte Heimat und werden von den neuen Bewohnern ihrer einst zurückgelassenen Häuser gastfreundlich begrüßt. Da findet Versöhnung im Stillen statt.
Niemand begreift in diesen Begegnungen die Weltgeschichte als große mathematische Aufgabe, in der Opferzahlen gegeneinander aufgerechnet werden müssen. Angesichts solcher Kontakte darf man das Thema Vertreibung nicht als politisches Tabu fürchten. Man sollte die Lebensgeschichten der Betroffenen als private Zeugnisse von Verlust verstehen. Wer sie anhört, lernt viel über ein Kapitel europäischer Geschichte, das unsere Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein prägt.
Und erst wenn man weiß, was geschehen, was Menschen widerfahren ist, schwindet die Gefahr, dass Flucht und Vertreibung tatsächlich noch einmal zu missbrauchbaren Zündsteinen in einer politischen Diskussion werden.
Wir hatten den sonntäglichen Zoobesuch, die anderen ihr ererbtes Wochenendgrundstück
Wie ich merkte, dass meine Familie nicht schon seit Generationen an dem Ort lebte, der mein Zuhause war
Woher unsere Eltern kamen, war kein Thema im Viertel. Wir haben uns über andere Dinge den Kopf zerbrochen. Wie wir zu Fasching an ein Lurchikostüm kommen könnten und wer den blauen Tretroller versteckt hatte. Aber nicht darüber, auf welchem Fleck der Landkarte sich die Kindheit unserer Eltern abgespielt hatte.
Die Gegenwart war so groß, dass sie nach allen Seiten bis zum Horizont reichte. Vergangenheit war das, was vergangen war: fort, ungreifbar, unbedeutend. Wir spielten »Kaiser, wie viel Schritte gibst du mir?« und luden die Nachbarn zum improvisierten Zirkus hinter Bettlakenvorhängen ein. Besonders mochten wir jene, die statt eines Groschens freiwillig fünfzig Pfennig Eintritt zahlten.
Die Gegenwart war aufregend und vielseitig, eine Zeit des unmittelbaren Austauschs. Wir waren dabei, einen Platz im Leben der Großen zu ergattern. Ziel folgte auf Ziel, und immer lag es irgendwo in der Zukunft: Kindergarten, Einschulung, Versetzung. Oder, besser noch: große Ferien, Weihnachtsferien, Osterferien.
Dass meine Freundin Cornelia mit ihren Eltern in den Sommerferien ins Hohenlohische fuhr, wo ihr Vater aufgewachsen war und ihre Großeltern lebten, war nicht weiter erwähnenswert. So wenig wie die Tatsache, dass andere eine fürchterlich saure Salatsauce aßen, während der Kopfsalat bei uns zu Hause mit einer süßen Essigsauce auf den Tisch kam. Ich fand das fein. Und sah das als Geschmacksvorsprung, nicht als Relikt der schlesischen Küche meiner Großmutter. Dass meine Schulfreundin Birgit in einem Bauernhaus mitten im Ortskern wohnte, der Bau um Bau so viele Jahre auf dem Buckel hatte, dass er schließlich den Baggern zum Fraß freigegeben wurde und Birgits Familie noch in unserer Tanzstundenzeit aufs freie Feld ausgesiedelt wurde, war einfach nur unheimlich spannend. Genauso wie die neuen Wörter, die ich von ihr lernte.
Etwa Gselz und Krumbiera, mit denen ich bei Besuchen in Norddeutschland meine Großeltern verstörte, die nicht begriffen, dass ihre Enkelin von Marmelade und Kartoffeln redete. Ich sog die Sprache um mich herum auf, die eigentümlicherweise, das merkte ich allerdings damals schon, nicht die meiner Eltern war. Das war in meiner schwäbischen Experimentierphase, in der ich gern jene Begriffe und Betonungen verwendete, die daheim am Esstisch nicht vorkamen.
Sie ging vorüber, und ich gewöhnte mich daran, auf die Frage, warum ich denn keinen Dialekt spräche, immer nur zu antworten: »Meine Eltern sind nicht von hier.«
Woher sie kamen, sagte ich nie. Da war keine Scham beteiligt, keine Angst vor Zurückweisung, keine bewusste jedenfalls. Ich nahm an, diesen seltsamen fernen Ort, von dem manchmal erzählt wurde, werde sowieso keiner kennen. Doch auch wenn ich das Sondervokabular meiner süddeutschen Heimat beherrschte, wussten meine Eltern, dass mich das nicht nahtlos einfügte.
Noch heute habe ich ihren Spruch im Ohr: »Ein richtiger Schwabe ist man erst in der vierten Generation.« Dieser Satz, den die selbst wiederum von den Alteingesessenen als »Rucksackdeutsche« Titulierten als Mahnung vor allzu großem Übermut beständig wiederholten, blieb uns Kindern unverständlich.
Wir mussten dieses Etwas ja auch nicht begreifen, es wuchs uns selbstverständlich zu, und vielleicht würden wir es später leichtherzig, aus freien Stücken, in trotziger Auflehnung gegen vermeintliche Beengung aufgeben: Heimat. Meine Eltern haben mich, trotz der Wiederkehr der obigen
Ermahnung, auch nie ernster, bitterer auf die Erfahrung des Nichtdazugehörens aufmerksam gemacht. Dass sie in ihrer eigenen Jugend von den anderen »Polacken« genannt worden wären, haben mir weder mein Vater noch meine Mutter berichtet. Entweder behielten sie das für sich, oder sie gehörten zu den wenigen, die solche Beschimpfungen tatsächlich nicht erlebt haben. Heute, nach vielen Gesprächen und Interviews mit Vertriebenen, neige ich zur ersteren Annahme. Die Schwabenkinder in der vierten Generation, die ich kannte, lebten ein wenig anders.
Wenn Claudia mit ihrer Familie aufs ererbte Stückle fuhr, ging ich mit meinem Vater sonntagmorgens in den Zoo. Sie klaubten auf dem Familiengrundstück mit den alten Apfelbäumen das Fallobst zusammen und mussten die Wiese mähen.
Wir bummelten durch die Wilhelma mit den Giraffen und Seelöwen. Ich fand, ich sei gar nicht so schlecht dran. Wir hatten unsere eigenen Geschichten. In denen gab es Giraffenbabys, die waren so neu, dass sie noch ein Preisschild um den Hals hatten. Jedenfalls glaubte ich das. Denn ein Giraffenhals ist lang, und ich war klein. Freilich, auch in der Geschichte meiner Familie gab es Grund und Boden, einen Bauernhof, einen Wald, Felder und Äcker. Und einen kleinen neugierigen Jungen, meinen Vater. Dessen Erzählungen erweckten diesen Ort als Fiktion zum Leben, als Fantasiewelt, unbetretbar wie die Pirateninsel eines Kinderbuchs.
In seinen Geschichten gab es sogar einen Schatz, eine vergrabene aber, so hieß es immer, mittlerweile wohl längst von jemand anderem wieder ausgebuddelte Kiste mit dem Familiensilber und einem Erste-Weltkriegs-Orden meines Großvaters.
»Bevor die Russen kamen« habe man den Familienschatz vergraben. Womit die jugendbuchtypischen Schurken auch gleich ihren Bandennamen hatten. Die alte Heimat, das schien etwas zu sein, was sich eher in den Regalen der Stadtbücherei als auf der Landkarte finden ließ. Nicht allzu fern von
James Fenimore Coopers »Lederstrumpf«, den mein Vater, wie er immer mal wieder erzählte, in seiner Kindheit gelesen hatte. Die nicht fassbare Wirklichkeit wurde von kleinen Anekdoten vertreten. Irgendwann aber, da war ich mir ganz sicher, würden wir nachsehen gehen, ob der Schatz noch da war. Ich war zu jung, auch nur darüber nachzugrübeln, warum bislang noch niemand versucht hatte, die Silberkiste zu heben. Mindestens so geheimnisvoll mutete die Geschichte von der winzig kleinen Armbanduhr an, die sich im Besitz meiner Großmutter befand.
Nie trug sie eine andere Uhr am Arm, aber es hatte eine Phase gegeben, da war dies anders gewesen. Ganz unpraktisch eingewickelt in ein Wollknäuel, versteckt also, hatte die Uhr etwas überstanden, das »die Flucht aus Schlesien« hieß.
Ortsnamen, die keinen Ort benannten, den wir je besuchten, waren Teil meiner Kindheit. Wenn im Radio der Werbespot für Reformhausnahrungsmittel lief und eine Stimme »Schneeeeeeekoppe« sang, erzählte mein Vater manchmal davon, dass er als Junge einen Schulausflug dorthin verpasst hatte. Jetzt, lernte ich Anfang der 1970er Jahre im Grundschulalter, liege dieser Berg an der Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei.
Genau verstanden habe ich das nicht. Berge wandern doch nicht einfach irgendwo anders hin. Und mein Vater war ja auch kein Pole und auch kein Tscheche. Er sprach auch deren Sprachen nicht. Trotzdem, so entnahm ich dieser Anekdote und jener Bemerkung, kam er von dort. Das war verwirrend seltsam. Würden wir auch irgendwann irgendwohin gehen und alles, was ich kannte, zurücklassen? Die Sonntage verbrachten wir auf der Schwäbischen
Alb bei Krautsalat und Wurstbrot. Die Höhenzüge meiner Kindheit waren die Rhön und die Kasseler Berge, deutsche Mittelgebirge, durch die sich die Autobahn bohrte, über die wir zu den Verwandten nach Norddeutschland fuhren. Obwohl wir das häufig taten, fragte ich mich nie, warum meine Familie nicht auf einem Fleck zusammenwohnte.
Ich fragte mich auch nicht, warum sich meine Mutter so sehr freute, als sie in der Kleinstadt, in der wir wohnten, eine Bäckerei fand, die Bosniaken im Angebot hatte. Das musste eben am Geschmack liegen, wie bei meinem Lieblingsbrausepulver. Ich wusste nicht, dass die Roggenbrötchen mit dem seltsamen Namen eine Leckerei ihrer Kindheit gewesen waren.
Dass der besondere Geschmack der nach Sorglosigkeit und Frieden war. Wir nannten die Bäckersfrau übrigens nie mit ihrem richtigen Namen.
Bei uns heißt sie bis heute »Frau Bittaschön«, nach dem Dank, mit dem sie jeden Einkauf in ihrem Laden quittierte. Sie sprach ihn im Dialekt ihrer sudetendeutschen Heimat. Aber auch diese Kuriosität war offenbar nicht auffällig genug, als dass ich sie als Puzzleteil erkannt hätte, als Anlass, ein in Details zerstreutes anderes Bild vom Leben meiner Eltern probehalber zusammenzusetzen.
Ich konnte mit all den kleinen Rätseln und Wunderlichkeiten, die nicht zum Alltag ringsum passten, bestens leben. Im Kleinen tat ich das, was die Erwachsenen im Großen praktizieren.
Ich hielt mich an deren Leitsatz: »Es ist halt so!« Ich wollte dazugehören. Trennendes wollte ich nicht ergründen. Heute weiß ich, dass von all den Familien in unserer kleinen Wohnstraße nur zwei aus dem Württembergischen stammten.
Die Familie gleich gegenüber, bei der wir in der Sommerhitze Limonade kauften, bestand aus Ungarndeutschen. Die Familie ein Haus weiter kam aus Oberschlesien. Unser Vermieter stammte aus dem Altvatergebirge. Auch das lag in Schlesien.
Das Eckhaus bewohnte eine Familie aus Sachsen. Und der Vater der zwei Kinder ganz vorne in der Straße hatte seine Wurzeln in Ostpreußen. Damals stellte ich allerdings noch keine kleinen Gedankenfähnchen mit seltsamen Orts- und Landeswappen in die Fenster und Vorgärten der Nachbarn. Meine Heimat hieß Familie. Und meine Sommerferien führten ins Weserbergland. Dort lebten beide Großelternpaare, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen.
Der Weg dorthin war für mich, falls mir so ein Gedanke überhaupt kam, der Weg zurück zu den Familienwurzeln. Später wurde mir zwar klar, dass dieser Pfad ganz woanders hinführte. Aber es schien eine Straße ins Nichts, eine, deren Brücken gesprengt waren und nun auf ewig in abweisenden Stummeln über dem Abgrund der Geschichte ihren Dienst versagten.
Ich kannte die Strecken nach Italien und Schweden. Die Autobahn via Görlitz nach Breslau war mir nicht einmal als Möglichkeit bewusst. Heute weiß ich, dass es von Haustür zu Haustür, von der Wohnung meiner Kindheit zu dem Haus, in dem mein Vater groß geworden war, exakt 673 Kilometer sind. So viel wie von Stuttgart nach Hamburg.
Fährt man frühmorgens los, ist man bereits nachmittags am Ziel. An einem Ort, der früher unbetretbar war wie ein finsterer Märchenwald, Teil einer Weltgegend, die nicht nur vom Eisernen Vorhang des Kalten Krieges, sondern von Barrikaden geschichtspolitischer Korrektheit gegen alle Gedanken und Gefühle der mittelbaren
Zugehörigkeit abgeschirmt wurde. In der früheren Heimat meiner Eltern, so legte es mir sogar die »Tagesschau« am Abend nahe, gab es nicht einmal ein Wetter. Azorenhochs und Biskayatiefs machten an der Elbe halt. Dann war Schluss auf der Wetterkarte.
Die Kindheit meiner Eltern schien selbst von der Meteorologie in Abrede gestellt zu werden. Papa und Mama waren gnädig mit mir und erzählten wenig vom Niemandsland jenseits der Wetterkarte. Aber dass dort mehr gewesen war, als die dezent abbrechenden Handbewegungen der offiziellen Regenorakler nahelegten, erfuhr ich doch.
Dass dort strenge Winter geherrscht hatten, solche, die ihren Namen noch zu Recht trugen. Mit knirschendem Schnee und Nasen, die unter der Haftkraft vereisenden Rotzes zusammenpappten, wenn man sich die Nase putze. Mit Schnee, der noch bis in den März hinein meterhoch lag. Geschichten wie diese machten die Elternkindheit realer und irrealer zugleich.
Es hatte sie gegeben, aber sie musste sich irgendwo kurz vor dem Nordpol oder tief in Sibirien abgespielt haben. Wenn vor Kinderohren überhaupt einmal mehr als das Wetter von dort und damals zur Sprache kam, dann fügte sich die Erinnerung in formelhafte Sätze vom großen Elend.
Die waren nicht dazu da, etwas zu erklären, sondern etwas zu bestärken: den Vorsatz, das Vergangene zu vergessen, um die Gegenwart genießen zu können.
Diese Abdichtung des Heute gegen das Gestern wurde porös, als in den Nachrichtensendungen zu Beginn der 1990er Jahre immer wieder Bilder vom Krieg auf dem Balkan liefen, von »ethnischen Säuberungen« und Flüchtlingstrecks. Der Pakt mit dem Gestern wir lassen dich ruhen, also bleib vergangen, wenigstens hier, wenigstens in Europa erwies sich als Illusion.
In vielen Deutschen wurden Erinnerungen wach. So wie die vielen Verängstigten im auseinandergebrochenen Jugoslawien, in dem Volks- und Religionszugehörigkeit zu Freibriefen für Verfolgung wurden, waren auch sie einst geflohen. Die neu sich Erinnernden waren oft überrascht von der Wucht, mit der die Bilder eines fernen Krieges sie trafen.
In meiner Familie wurde der innere Kurzschluss zwischen damals und heute von nun an nicht mehr versteckt. Er wurde preisgegeben: »So ist es uns damals auch gegangen. Mit fast nichts mussten wir von zu Hause weg.«
Meine Mutter war voller Mitgefühl mit den Flüchtlingen auf dem Fernsehschirm. Im Mai 1946 waren sowohl ihre Familie wie die meines Vaters in einen Zug gesetzt worden. Sie hatten keine andere Wahl und noch Glück im Unglück gehabt. Ihr Zug fuhr nicht nach Sibirien.
Er lud sie im Durchgangslager Marienborn bei Helmstedt aus, dann ging die Reise weiter in die niedersächsische Provinz. Die Erinnerungen an jene Zeit sind selten sanft und nicht immer zu bändigen. In den Praxen der Psychologen und Psychotherapeuten tauchten nun zunehmend ältere Menschen auf, die von körperlichen und seelischen Problemen berichteten, für die sie in ihrem aktuellen Leben keine Ursache sahen.
Altersforscher und Psychiater wie der Kasseler Emeritus Hartmut Radebold und die Nervenärztin und Therapeutin Marieluise Reddemann haben damals genau hingehört. Sie entdeckten Zusammenhänge zwischen fernen, im Inneren eingekapselten Kriegserlebnissen und späten seelischen Störungen wie Angstzuständen, Schlaflosigkeit oder Schmerzen ohne körperliche Ursache.
Ermutigt von einer objektiven, fachwissenschaftlichen Anerkennung der Schwere ihres Schicksals, setzte vor anderthalb Jahrzehnten ein verhaltenes Erzählen auch bei der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen ein.
Die meisten redeten sich ihre Erlebnisse von der Seele, ohne mit jener Geschichtsmathematik zu operieren, vor der die Bundesrepublik sich stets gefürchtet hat, ohne Aufrechnen von Leid und Opfern gegeneinander.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dabei ist es doch leicht nachzuvollziehen, dass das abrupte, gewaltsame Ende eines Lebensabschnitts Menschen zeitlebens prägt. Diese Erfahrung legt man nicht ab wie ein Kleidungsstück, das irgendwann weder zum gewachsenen Körper noch zur gewandelten Mode passt. Genauso dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass Heimatverlust als eine entscheidende biografische Wende gelten darf auch wenn viele Einheimische ebenso wie die Vertriebenen und Flüchtlinge nach dem Krieg wieder von vorne anfangen mussten.
Es gibt keinen Grund, die Belastungen der einen mit den Beschwernissen der anderen wegzuwischen und aus der Erinnerung zu bannen. Im Grunde könnte unser Land auf seine frühe Integrationsleistung stolz sein. Auch wenn das keine reibungslose, schmerzfreie, harmonische Integration war. Über die alltäglichen Verletzungen beispielsweise am rollenden »r« des sudentendeutschen Dialekts erkannt und deshalb als »Polacke« beschimpft zu werden schwiegen die Gesellschaft und die Betroffenen freilich lange sehr einvernehmlich.
Heute, im Zeitalter hoher, oft vom Arbeitsmarkt erzwungener Mobilität mag es nicht außergewöhnlich erscheinen, dass sich Lebenskoordinaten ändern, dass jemand statt in Königsberg in Stuttgart, statt in Breslau in Hanau wohnen und sich neu einfinden muss. Dieser nüchterne Blick, der Vertreibung lediglich als Adressänderung wertet, blendet Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen aus.
Aber wie spricht man von dem, was hinter einem liegt? Sagt man: Ich komme aus einem Ort, Sie werden ihn nicht kennen, er liegt heute in Polen? Erzählt man von Breslau oder von Wroclaw?
Sagt man: Ich bin ein Vertriebener? Redet man sich als Nachkomme diplomatisch heraus, indem man sagt: Meine Familie ist nicht von hier? Wie verortet man sich, wie erklärt man seine Identität? Gibt es für das, wofür es keine passende sprachliche Ausdrucksform gibt, auch kein Verständnis?
Für die Generation der Flüchtlinge und Vertriebenen waren die Orte der Kindheit bis weit in die 1980er Jahre hinein nicht nur räumliche, sondern auch sprachliche Tabuzonen.
Ein Teil ihres Lebens wurde zur Sperrzone, weil es politisch nicht opportun war, um dieses Stück verlorenen Lebens zu trauern. Den Verlustschmerz milderten die Denkverbote freilich nicht. Dieser Schmerz ist in vielen Familien noch heute präsent. Manchmal sogar in der nächsten Generation. Es gibt bei den ehemaligen Flüchtlingen und Vertriebenen tiefe Verwundungen, auch wenn man nicht pauschal die Traumatisierung aller konstatieren sollte.
Dafür sollte man endlich anerkennen, dass der geglückte Neubeginn im Westen nichts über oft gut kaschierte biografische Brüche sagt. Viele psychologische Studien belegen, dass Gewalterfahrungen wie Flucht und Vertreibung die Betroffenen ein Leben lang beschäftigen und manchmal sogar umtreiben. Je älter Menschen werden, desto lebendiger treten diese Erinnerungen in vielen Schattierungen wieder hervor.
Als etwa beim Großbrand eines Altenheims die betagten Bewohner evakuiert wurden, waren Rufe wie »Hilfe, die Russen kommen!« zu hören. Der überstürzte Aufbruch versetzte die Alten zurück in eine Zeit, in der sie schon einmal Todesangst erfahren hatten. Kindheit und Alter, das zeigt diese Episode beispielhaft, liegen am Ende des Lebens ganz nah beieinander. Was die Menschen jahrzehntelang nur im Verborgenen bewegt hat oder ganz verdrängt wurde, kommt nun mit aller Macht an die Oberfläche.
Den richtigen Umgang damit zu finden fällt Betroffenen, Angehörigen und Außenstehenden nicht leicht. Zu groß ist die gesellschaftliche und politische Scheu, dieselben Kriterien, die man für den Umgang mit ausländischen Flüchtlingen entwickelt hat, auch für die Gruppe der deutschen Vertriebenen gelten zu lassen. Denn das Land hat zu den existenziellen Erschütterungen der Nachkriegszeit noch immer kein tragfähiges Verhältnis entwickelt. Zu sehr war die Zeit danach geprägt von Vorwärtsschauen und der Teilhabe am Wirtschaftswunder.
Für Aufarbeitung blieb da kaum Raum. Dabei geht es vielen Betroffenen nicht etwa darum, die Unrechtsgeschichte des Dritten Reiches umzudeuten. Im Gegenteil. Längst fahren Heimwehtouristen in ihre alte Heimat und werden von den neuen Bewohnern ihrer einst zurückgelassenen Häuser gastfreundlich begrüßt. Da findet Versöhnung im Stillen statt.
Niemand begreift in diesen Begegnungen die Weltgeschichte als große mathematische Aufgabe, in der Opferzahlen gegeneinander aufgerechnet werden müssen. Angesichts solcher Kontakte darf man das Thema Vertreibung nicht als politisches Tabu fürchten. Man sollte die Lebensgeschichten der Betroffenen als private Zeugnisse von Verlust verstehen. Wer sie anhört, lernt viel über ein Kapitel europäischer Geschichte, das unsere Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein prägt.
Und erst wenn man weiß, was geschehen, was Menschen widerfahren ist, schwindet die Gefahr, dass Flucht und Vertreibung tatsächlich noch einmal zu missbrauchbaren Zündsteinen in einer politischen Diskussion werden.
Wir hatten den sonntäglichen Zoobesuch, die anderen ihr ererbtes Wochenendgrundstück
Wie ich merkte, dass meine Familie nicht schon seit Generationen an dem Ort lebte, der mein Zuhause war
Woher unsere Eltern kamen, war kein Thema im Viertel. Wir haben uns über andere Dinge den Kopf zerbrochen. Wie wir zu Fasching an ein Lurchikostüm kommen könnten und wer den blauen Tretroller versteckt hatte. Aber nicht darüber, auf welchem Fleck der Landkarte sich die Kindheit unserer Eltern abgespielt hatte.
Die Gegenwart war so groß, dass sie nach allen Seiten bis zum Horizont reichte. Vergangenheit war das, was vergangen war: fort, ungreifbar, unbedeutend. Wir spielten »Kaiser, wie viel Schritte gibst du mir?« und luden die Nachbarn zum improvisierten Zirkus hinter Bettlakenvorhängen ein. Besonders mochten wir jene, die statt eines Groschens freiwillig fünfzig Pfennig Eintritt zahlten.
Die Gegenwart war aufregend und vielseitig, eine Zeit des unmittelbaren Austauschs. Wir waren dabei, einen Platz im Leben der Großen zu ergattern. Ziel folgte auf Ziel, und immer lag es irgendwo in der Zukunft: Kindergarten, Einschulung, Versetzung. Oder, besser noch: große Ferien, Weihnachtsferien, Osterferien.
Dass meine Freundin Cornelia mit ihren Eltern in den Sommerferien ins Hohenlohische fuhr, wo ihr Vater aufgewachsen war und ihre Großeltern lebten, war nicht weiter erwähnenswert. So wenig wie die Tatsache, dass andere eine fürchterlich saure Salatsauce aßen, während der Kopfsalat bei uns zu Hause mit einer süßen Essigsauce auf den Tisch kam. Ich fand das fein. Und sah das als Geschmacksvorsprung, nicht als Relikt der schlesischen Küche meiner Großmutter. Dass meine Schulfreundin Birgit in einem Bauernhaus mitten im Ortskern wohnte, der Bau um Bau so viele Jahre auf dem Buckel hatte, dass er schließlich den Baggern zum Fraß freigegeben wurde und Birgits Familie noch in unserer Tanzstundenzeit aufs freie Feld ausgesiedelt wurde, war einfach nur unheimlich spannend. Genauso wie die neuen Wörter, die ich von ihr lernte.
Etwa Gselz und Krumbiera, mit denen ich bei Besuchen in Norddeutschland meine Großeltern verstörte, die nicht begriffen, dass ihre Enkelin von Marmelade und Kartoffeln redete. Ich sog die Sprache um mich herum auf, die eigentümlicherweise, das merkte ich allerdings damals schon, nicht die meiner Eltern war. Das war in meiner schwäbischen Experimentierphase, in der ich gern jene Begriffe und Betonungen verwendete, die daheim am Esstisch nicht vorkamen.
Sie ging vorüber, und ich gewöhnte mich daran, auf die Frage, warum ich denn keinen Dialekt spräche, immer nur zu antworten: »Meine Eltern sind nicht von hier.«
Woher sie kamen, sagte ich nie. Da war keine Scham beteiligt, keine Angst vor Zurückweisung, keine bewusste jedenfalls. Ich nahm an, diesen seltsamen fernen Ort, von dem manchmal erzählt wurde, werde sowieso keiner kennen. Doch auch wenn ich das Sondervokabular meiner süddeutschen Heimat beherrschte, wussten meine Eltern, dass mich das nicht nahtlos einfügte.
Noch heute habe ich ihren Spruch im Ohr: »Ein richtiger Schwabe ist man erst in der vierten Generation.« Dieser Satz, den die selbst wiederum von den Alteingesessenen als »Rucksackdeutsche« Titulierten als Mahnung vor allzu großem Übermut beständig wiederholten, blieb uns Kindern unverständlich.
Wir mussten dieses Etwas ja auch nicht begreifen, es wuchs uns selbstverständlich zu, und vielleicht würden wir es später leichtherzig, aus freien Stücken, in trotziger Auflehnung gegen vermeintliche Beengung aufgeben: Heimat. Meine Eltern haben mich, trotz der Wiederkehr der obigen
Ermahnung, auch nie ernster, bitterer auf die Erfahrung des Nichtdazugehörens aufmerksam gemacht. Dass sie in ihrer eigenen Jugend von den anderen »Polacken« genannt worden wären, haben mir weder mein Vater noch meine Mutter berichtet. Entweder behielten sie das für sich, oder sie gehörten zu den wenigen, die solche Beschimpfungen tatsächlich nicht erlebt haben. Heute, nach vielen Gesprächen und Interviews mit Vertriebenen, neige ich zur ersteren Annahme. Die Schwabenkinder in der vierten Generation, die ich kannte, lebten ein wenig anders.
Wenn Claudia mit ihrer Familie aufs ererbte Stückle fuhr, ging ich mit meinem Vater sonntagmorgens in den Zoo. Sie klaubten auf dem Familiengrundstück mit den alten Apfelbäumen das Fallobst zusammen und mussten die Wiese mähen.
Wir bummelten durch die Wilhelma mit den Giraffen und Seelöwen. Ich fand, ich sei gar nicht so schlecht dran. Wir hatten unsere eigenen Geschichten. In denen gab es Giraffenbabys, die waren so neu, dass sie noch ein Preisschild um den Hals hatten. Jedenfalls glaubte ich das. Denn ein Giraffenhals ist lang, und ich war klein. Freilich, auch in der Geschichte meiner Familie gab es Grund und Boden, einen Bauernhof, einen Wald, Felder und Äcker. Und einen kleinen neugierigen Jungen, meinen Vater. Dessen Erzählungen erweckten diesen Ort als Fiktion zum Leben, als Fantasiewelt, unbetretbar wie die Pirateninsel eines Kinderbuchs.
In seinen Geschichten gab es sogar einen Schatz, eine vergrabene aber, so hieß es immer, mittlerweile wohl längst von jemand anderem wieder ausgebuddelte Kiste mit dem Familiensilber und einem Erste-Weltkriegs-Orden meines Großvaters.
»Bevor die Russen kamen« habe man den Familienschatz vergraben. Womit die jugendbuchtypischen Schurken auch gleich ihren Bandennamen hatten. Die alte Heimat, das schien etwas zu sein, was sich eher in den Regalen der Stadtbücherei als auf der Landkarte finden ließ. Nicht allzu fern von
James Fenimore Coopers »Lederstrumpf«, den mein Vater, wie er immer mal wieder erzählte, in seiner Kindheit gelesen hatte. Die nicht fassbare Wirklichkeit wurde von kleinen Anekdoten vertreten. Irgendwann aber, da war ich mir ganz sicher, würden wir nachsehen gehen, ob der Schatz noch da war. Ich war zu jung, auch nur darüber nachzugrübeln, warum bislang noch niemand versucht hatte, die Silberkiste zu heben. Mindestens so geheimnisvoll mutete die Geschichte von der winzig kleinen Armbanduhr an, die sich im Besitz meiner Großmutter befand.
Nie trug sie eine andere Uhr am Arm, aber es hatte eine Phase gegeben, da war dies anders gewesen. Ganz unpraktisch eingewickelt in ein Wollknäuel, versteckt also, hatte die Uhr etwas überstanden, das »die Flucht aus Schlesien« hieß.
Ortsnamen, die keinen Ort benannten, den wir je besuchten, waren Teil meiner Kindheit. Wenn im Radio der Werbespot für Reformhausnahrungsmittel lief und eine Stimme »Schneeeeeeekoppe« sang, erzählte mein Vater manchmal davon, dass er als Junge einen Schulausflug dorthin verpasst hatte. Jetzt, lernte ich Anfang der 1970er Jahre im Grundschulalter, liege dieser Berg an der Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei.
Genau verstanden habe ich das nicht. Berge wandern doch nicht einfach irgendwo anders hin. Und mein Vater war ja auch kein Pole und auch kein Tscheche. Er sprach auch deren Sprachen nicht. Trotzdem, so entnahm ich dieser Anekdote und jener Bemerkung, kam er von dort. Das war verwirrend seltsam. Würden wir auch irgendwann irgendwohin gehen und alles, was ich kannte, zurücklassen? Die Sonntage verbrachten wir auf der Schwäbischen
Alb bei Krautsalat und Wurstbrot. Die Höhenzüge meiner Kindheit waren die Rhön und die Kasseler Berge, deutsche Mittelgebirge, durch die sich die Autobahn bohrte, über die wir zu den Verwandten nach Norddeutschland fuhren. Obwohl wir das häufig taten, fragte ich mich nie, warum meine Familie nicht auf einem Fleck zusammenwohnte.
Ich fragte mich auch nicht, warum sich meine Mutter so sehr freute, als sie in der Kleinstadt, in der wir wohnten, eine Bäckerei fand, die Bosniaken im Angebot hatte. Das musste eben am Geschmack liegen, wie bei meinem Lieblingsbrausepulver. Ich wusste nicht, dass die Roggenbrötchen mit dem seltsamen Namen eine Leckerei ihrer Kindheit gewesen waren.
Dass der besondere Geschmack der nach Sorglosigkeit und Frieden war. Wir nannten die Bäckersfrau übrigens nie mit ihrem richtigen Namen.
Bei uns heißt sie bis heute »Frau Bittaschön«, nach dem Dank, mit dem sie jeden Einkauf in ihrem Laden quittierte. Sie sprach ihn im Dialekt ihrer sudetendeutschen Heimat. Aber auch diese Kuriosität war offenbar nicht auffällig genug, als dass ich sie als Puzzleteil erkannt hätte, als Anlass, ein in Details zerstreutes anderes Bild vom Leben meiner Eltern probehalber zusammenzusetzen.
Ich konnte mit all den kleinen Rätseln und Wunderlichkeiten, die nicht zum Alltag ringsum passten, bestens leben. Im Kleinen tat ich das, was die Erwachsenen im Großen praktizieren.
Ich hielt mich an deren Leitsatz: »Es ist halt so!« Ich wollte dazugehören. Trennendes wollte ich nicht ergründen. Heute weiß ich, dass von all den Familien in unserer kleinen Wohnstraße nur zwei aus dem Württembergischen stammten.
Die Familie gleich gegenüber, bei der wir in der Sommerhitze Limonade kauften, bestand aus Ungarndeutschen. Die Familie ein Haus weiter kam aus Oberschlesien. Unser Vermieter stammte aus dem Altvatergebirge. Auch das lag in Schlesien.
Das Eckhaus bewohnte eine Familie aus Sachsen. Und der Vater der zwei Kinder ganz vorne in der Straße hatte seine Wurzeln in Ostpreußen. Damals stellte ich allerdings noch keine kleinen Gedankenfähnchen mit seltsamen Orts- und Landeswappen in die Fenster und Vorgärten der Nachbarn. Meine Heimat hieß Familie. Und meine Sommerferien führten ins Weserbergland. Dort lebten beide Großelternpaare, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen.
Der Weg dorthin war für mich, falls mir so ein Gedanke überhaupt kam, der Weg zurück zu den Familienwurzeln. Später wurde mir zwar klar, dass dieser Pfad ganz woanders hinführte. Aber es schien eine Straße ins Nichts, eine, deren Brücken gesprengt waren und nun auf ewig in abweisenden Stummeln über dem Abgrund der Geschichte ihren Dienst versagten.
Ich kannte die Strecken nach Italien und Schweden. Die Autobahn via Görlitz nach Breslau war mir nicht einmal als Möglichkeit bewusst. Heute weiß ich, dass es von Haustür zu Haustür, von der Wohnung meiner Kindheit zu dem Haus, in dem mein Vater groß geworden war, exakt 673 Kilometer sind. So viel wie von Stuttgart nach Hamburg.
Fährt man frühmorgens los, ist man bereits nachmittags am Ziel. An einem Ort, der früher unbetretbar war wie ein finsterer Märchenwald, Teil einer Weltgegend, die nicht nur vom Eisernen Vorhang des Kalten Krieges, sondern von Barrikaden geschichtspolitischer Korrektheit gegen alle Gedanken und Gefühle der mittelbaren
Zugehörigkeit abgeschirmt wurde. In der früheren Heimat meiner Eltern, so legte es mir sogar die »Tagesschau« am Abend nahe, gab es nicht einmal ein Wetter. Azorenhochs und Biskayatiefs machten an der Elbe halt. Dann war Schluss auf der Wetterkarte.
Die Kindheit meiner Eltern schien selbst von der Meteorologie in Abrede gestellt zu werden. Papa und Mama waren gnädig mit mir und erzählten wenig vom Niemandsland jenseits der Wetterkarte. Aber dass dort mehr gewesen war, als die dezent abbrechenden Handbewegungen der offiziellen Regenorakler nahelegten, erfuhr ich doch.
Dass dort strenge Winter geherrscht hatten, solche, die ihren Namen noch zu Recht trugen. Mit knirschendem Schnee und Nasen, die unter der Haftkraft vereisenden Rotzes zusammenpappten, wenn man sich die Nase putze. Mit Schnee, der noch bis in den März hinein meterhoch lag. Geschichten wie diese machten die Elternkindheit realer und irrealer zugleich.
Es hatte sie gegeben, aber sie musste sich irgendwo kurz vor dem Nordpol oder tief in Sibirien abgespielt haben. Wenn vor Kinderohren überhaupt einmal mehr als das Wetter von dort und damals zur Sprache kam, dann fügte sich die Erinnerung in formelhafte Sätze vom großen Elend.
Die waren nicht dazu da, etwas zu erklären, sondern etwas zu bestärken: den Vorsatz, das Vergangene zu vergessen, um die Gegenwart genießen zu können.
Diese Abdichtung des Heute gegen das Gestern wurde porös, als in den Nachrichtensendungen zu Beginn der 1990er Jahre immer wieder Bilder vom Krieg auf dem Balkan liefen, von »ethnischen Säuberungen« und Flüchtlingstrecks. Der Pakt mit dem Gestern wir lassen dich ruhen, also bleib vergangen, wenigstens hier, wenigstens in Europa erwies sich als Illusion.
In vielen Deutschen wurden Erinnerungen wach. So wie die vielen Verängstigten im auseinandergebrochenen Jugoslawien, in dem Volks- und Religionszugehörigkeit zu Freibriefen für Verfolgung wurden, waren auch sie einst geflohen. Die neu sich Erinnernden waren oft überrascht von der Wucht, mit der die Bilder eines fernen Krieges sie trafen.
In meiner Familie wurde der innere Kurzschluss zwischen damals und heute von nun an nicht mehr versteckt. Er wurde preisgegeben: »So ist es uns damals auch gegangen. Mit fast nichts mussten wir von zu Hause weg.«
Meine Mutter war voller Mitgefühl mit den Flüchtlingen auf dem Fernsehschirm. Im Mai 1946 waren sowohl ihre Familie wie die meines Vaters in einen Zug gesetzt worden. Sie hatten keine andere Wahl und noch Glück im Unglück gehabt. Ihr Zug fuhr nicht nach Sibirien.
Er lud sie im Durchgangslager Marienborn bei Helmstedt aus, dann ging die Reise weiter in die niedersächsische Provinz. Die Erinnerungen an jene Zeit sind selten sanft und nicht immer zu bändigen. In den Praxen der Psychologen und Psychotherapeuten tauchten nun zunehmend ältere Menschen auf, die von körperlichen und seelischen Problemen berichteten, für die sie in ihrem aktuellen Leben keine Ursache sahen.
Altersforscher und Psychiater wie der Kasseler Emeritus Hartmut Radebold und die Nervenärztin und Therapeutin Marieluise Reddemann haben damals genau hingehört. Sie entdeckten Zusammenhänge zwischen fernen, im Inneren eingekapselten Kriegserlebnissen und späten seelischen Störungen wie Angstzuständen, Schlaflosigkeit oder Schmerzen ohne körperliche Ursache.
Ermutigt von einer objektiven, fachwissenschaftlichen Anerkennung der Schwere ihres Schicksals, setzte vor anderthalb Jahrzehnten ein verhaltenes Erzählen auch bei der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen ein.
Die meisten redeten sich ihre Erlebnisse von der Seele, ohne mit jener Geschichtsmathematik zu operieren, vor der die Bundesrepublik sich stets gefürchtet hat, ohne Aufrechnen von Leid und Opfern gegeneinander.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Hilke Lorenz
Bibliographische Angaben
- Autor: Hilke Lorenz
- 300 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,7 x 21,6 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828932460
- ISBN-13: 9783828932463
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