Helmut Schmidt
Helmut Schmidt. Ein Leben in Bildern des SPIEGEL-Archivs von Stefan Aust und Robert Fleck (Hg.)
LESEPROBEVorwort
Werdas Bildarchiv des SPIEGEL betritt,hat den Eindruck, er stünde vor unendlich vielen Fotos. Die Bilddokumente -überwiegend Schwarzweißabzüge von fotografischen Negativen - stehen dichtaneinander gepackt und nehmen 170 Quadratmeter Bodenfläche ein.
Mitüber 3 Millionen Fotografien auf 1200 Regalmetern handelt es sich um das größtenunmehr für Ausstellungsmacher und Wissenschaftler zugänglich gewordenePressebildarchiv in Deutschland und in Europa. Archive, in denen in solcherBreite und Vollständigkeit alle Aspekte des politischen und alltäglichen Lebensfotografisch aufgezeichnet wurden, gibt es erst seit dem vergangenenJahrhundert. Technik und Produktion waren vorher noch nicht weit genugentwickelt. Die Möglichkeit, Bilder massenweise anzufertigen und aufzuheben,entstand sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit Beginn des 21. Jahrhundertsist die Ära der herkömmlichen Pressebildarchive zugleich bereits abgeschlossen,verdrängt von der digitalen Fotografie, obwohl diese für die langfristige Bewahrungweniger geeignet scheint. Die mehr als drei Millionen Fotos des SPIEGEL-Bildarchivs stellen also einKulturdenkmal dar, ein visuelles historisches Dokument des 20. Jahrhunderts.
DerAusstellungsmacher empfindet vor der physischen Masse der dicht gestapeltenBilder zunächst ein Schauern: Wie kann man ein solches Archiv erschließen undden Zeitgenossen seine Bedeutung anschaulichwerden lassen?
DerWink kam unverhofft von der französischen Tageszeitung Le Monde". DerenFotografiekritiker Michel Guérin befragte im Vorjahr den ehemaligenEU-Kommisionspräsidenten Jacques Delors (den Helmut Schmidt übrigens sehrschätzt) zu den wichtigsten Bildern seines politischen Lebens. Warum also nichtden Altbundeskanzler Schmidt fragen, ob wir ihm eine Auswahl aus den etwa 15000 Fotografien vorlegen können, die im Bildarchiv des SPIEGEL sein öffentliches und privatesLeben dokumentieren? Keine andere Kanzlerschaft wurde so umfassend inSchwarzweißfotografie festgehalten. Keine andere lebende deutschePersönlichkeit wurde später derart sinnbildlich für die deutsche Geschichte inihren dramatischen Wechselfällen seit den zwanziger Jahren und der zweiten, gelungenenDemokratie. Helmut Schmidts Werdegang und persönliches Ethos machen ihn heutemehr denn je für viele Menschen zu einem Symbol und einer ethischenRichtschnur. Seine politische Karriere verlief parallel zur Blütezeit desFotojournalismus. Und last not least geht es um einen bedeutenden Sohnder Stadt Hamburg in einem Archiv, das in der Hansestadt entstand und das auchweiterhin - mit dem Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg" -hier angesiedelt bleibt.
Auseinem großen Archiv eine Ausstellung und ein Buch zusammenzustellen bringt faststündlich ein unvergessliches Erlebnis. Das SPIEGEL-Archivist in ockerbraunen Büromappen geordnet. Nimmt man
einevon ihnen heraus, etwa mit der Aufschrift Schmidt-Wehner", so weiß man schonvorab, dass man nun etwa 500 Fotos zu diesem Thema sehen wird. Ist das nicht langweilig?,wird man häufig gefragt. Gewiss sieht man überwiegend die immergleichenKlischees: Schmidt und Wehner auf einem Parteitag, bei einer Fraktionssitzung,mit Willy Brandt, dem dritten Protagonisten des Dreigestirns der SPD, das dieGeschicke der Bundesrepublik über drei Jahrzehnte wesentlich mitbestimmte. Dochplötzlich stößt man auf ein Foto, bei dem man stutzt: Eine scheinbarunwichtige, unbekannte Szene, eine Geste, ein spontaner Augenblick vermögen sosehr zu beeindrucken, dass man minutenlang bei der Betrachtung innehält.
Inunserer Auswahl gaben wir diesen Fotos den Vorzug gegenüber vielen bekannten,immer wieder abgebildeten Szenen. Dazu kommt, dass der SPIEGEL und insbesondere sein wichtigsterFotograf, Jupp Darchinger aus Bonn, einen fotografischen Stil kultivierten, dermehr zu zeigen versucht als das bloße Ereignis und dem es gelingt, Emotionenund Zwischenlagen einzufangen. Es ging uns um ein privates" Album aus öffentlichenBildern Helmut Schmidts, eine Geschichte der Person und Deutschlands in neuerForm.
Beieiner solchen Bildauswahl treten immer überraschende Erkenntnisse zutage. Dieerste Entdeckung bezieht sich auf die fotografische Biografie" desRegierungschefs im Zeitalter der Massenmedien. Aus fotohistorischer Sichtgliedert sich das Leben von Helmut Schmidt in drei Abschnitte. Zunächst nahmennur Familienangehörige, Freunde und Wehrmachtkameraden Bilder des jungenHanseaten auf - wie in jeder
anderenFamilie auch. Mit seiner Wahl zum Abgeordneten des Bundestags im Jahr 1953 wurdeHelmut Schmidt eine öffentliche Person. Nun traten Berufsfotografen inErscheinung, die das Mitglied des Bundestags, den Hamburger Innensenator undden Fraktionsvorsitzenden während der Großen Koalition in Bonn bei allerleiAnlässen ablichteten. Von mehreren Dutzend Fotos im Verlauf der fünfziger Jahreverdichtete sich die Anzahl der Bilder auf über 100 pro Jahr, nachdem HelmutSchmidt Bundesminister der Verteidigung und später der Finanzen geworden war.Eine wahre Bilderflut trat mit der Wahl zum Bundeskanzler ein. VomRegierungschef Helmut Schmidt wurden tagtäglich mehrere Dutzend Aufnahmenverbreitet. Jedes kleinste Detail schien festgehalten, jedes Mienenspiel imGesicht, jede Laune, jede Reise wurde ein Objekt der Fotografie - ein Mensch inlückenloser Beobachtung. Aus seiner achtjährigen Kanzlerschaft bewahrt dasBildarchiv des SPIEGEL mehrals 10 000 Fotos - wann in der Geschichte wurden einzelne Menschen je so oftabgebildet, mag man sich fragen? Noch überraschender: Plötzlich taucht auch dasfrühe Familienalbum auf, mit den Bildern, die Familienangehörige, Freunde und Wehrmachtkameradenvon Helmut Schmidt gemacht hatten, doch plötzlich ist es Pressematerial. MitBeginn der Kanzlerschaft verbreitete die Agentur Sven Simon das früheAmateuralbum, da sich nun die Öffentlichkeit für alle Aspekte der BiografieHelmut Schmidts interessierte. Auch dies gibt es erst seit dem 20. Jahrhundertund dem Siegeszug der Fotografie und der parlamentarischen Demokratie: Dasintime Familienfoto eines Kleinkinds in Hamburg-Barmbek aus dem Jahr 1920 wurdefünf Jahrzehnte später zur öffentlichenFotografie, da der Junge zum Kanzler der Republik gewählt worden war.
JuppDarchinger, Doyen des deutschen Fotojournalismus (er ist in dieser Auswahl mit 37Bildern vertreten), schildert Helmut Schmidt im Umgang mit den Fotografen als unkompliziert, aufrecht und geradeheraus".
SchmidtsKanzlerschaft und der politische Stil dieser Zeit ließen noch eine Nähezwischen Fotograf und Porträtiertem zu, die es ermöglichte, den schnörkellosenund hautnahen" Bildstil zu erarbeiten, mit dem
Darchingerund der SPIEGEL dasBild der Bonner Republik nachhaltig prägten. Die Bilder waren noch nicht vonKommunikationsberatern vorarrangiert. Der Fotograf konnte sich hinstellen, woer wollte (mit Ausnahme des Schmidt-Besuchs bei Mao, wo kein westlicherFotograf mitdurfte). Der Fotojournalist wurde selbst für den Regierungschef einReisebegleiter im eigentlichen Wortsinn. Später schrieb Helmut Schmidt imVorwort zur Retrospektive des Fotografen in Bonn: Mein Freund Darchinger". DieWeiterentwicklung der Mediengesellschaft macht heute eine solche Rolle desfreien Fotografen weitgehend unvorstellbar.
© DeutscheVerlags-Anstalt
- Autoren: STEFAN AUST (HG) , Robert Fleck
- 2005, 207 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 21,7 x 28,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben von Aust, Stefan; Fleck, Robert
- Herausgegeben: Stefan Aust, Robert Fleck
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421058881
- ISBN-13: 9783421058881
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