Herkunft
Roman
'Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die sich in einer Amour Fou...
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Produktinformationen zu „Herkunft “
'Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die sich in einer Amour Fou zerfleischen und über ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und freier Liebe zugrunde gehen. Robert selbst, der zwischen der Geborgenheit im Haus seiner Großeltern und dem enthemmten Leben der 68er aufwächst, immer auf der Suche nach dem eigenen Glück, das so schwer zu finden ist. Oskar Roehlers Roman ist die Geschichte einer Familie und zugleich ein sehr persönliches Zeitdokument von großer poetischer Kraft.
Lese-Probe zu „Herkunft “
Herkunft von Oskar Roehler7.
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Später befreundete ich mich mit Engelbert und machte ihn mir untertan - wie ich mich mit allen befreundete, die nicht dazugehörten, die stahlen, rauchten, sich prügelten, schlecht in der Schule waren oder auffielen durch Grausamkeit, Dummheit oder clownesken Wahnwitz oder die Raubbau an ihrer Gesundheit betrieben und die Gesellschaft unterminierten.
Lag es daran, dass dies ebenso eine Gemeinschaft war, wie die der »Heiligen«, die nur ihresgleichen aufnahm und mich willkommen hieß, mich, den »Heiden« von Stein?
Dann freundete ich mich mit Komorek an, mit ihm watete ich durch das dunkle Brackwasser der Baugruben, wenn dicke Wolken aufzogen und Regen über das Land trieb, sah ihm zu, wie er trank und in den Himmel starrte, wenn die Gewitter niedergingen, und danach sah ich ihn mit der Flasche in der Hand kreiseln über dem roten Matsch, im gleißenden Glanz der Sonne, die unter den Wolken plötzlich hervorbrach und alles aufleuchten ließ. Ich stieg aus dem Wasser und tanzte wie ein Derwisch mit ihm, rieb mich ein mit Liebstöckel, den ich zwischen den Fingern zerpresste, mit Majoran und mit Waldmeister, warf mich danach völlig erschöpft in den Dreck neben ihn, roch die Pisse in seinen Kleidern. Oder ich kroch oder lief auf allen vieren über die Kohlfelder, die dunkel, fast schwarz auf der Ebene lagen, und hechelte dabei wie ein Hund.
Manchmal begleitete ich ihn noch ein Stück, wenn er nachts die Bauwagen der italienischen Gastarbeiter abklapperte, um Bier zu erbetteln oder, unter dem Vorwand, eine Zigarette zu schnorren, mit ihnen hineinging - was immer auch dann dort geschah.
Er ließ mich unbekümmert allein an der nächtlichen Straße, die mit Schotter aufgefüllt war und weiter hinten bereits geteert. Ich sah sein Gesicht hineintauchen in das ölige Licht im Innern der Bauwagen, sah seine kleine, platte, schiefe Boxernase, seine rudimentäre Oberlippe, die fein gespalten und wieder genäht worden war, sah die kleine, weiße Naht darauf und den toten Ausdruck in seinen Augen. So ging ich, zwischen Nachtlicht und Draht, allein umher, fand mich an Baugruben wieder, mein Ohr an den leise sirrenden Elektro-Umzäunungen oder an den Rosenstöcken, die sich mit weißer Glut in die Nacht rankten, meine Nase in ihrem betörenden Duft. Am Anfang suchte man mich, dann nicht mehr - es hieß, ich sei mondsüchtig geworden (eine plausible Erklärung) -, denn ich kam mit schlafwandlerischer Sicherheit jede Nacht wieder zurück in das Haus, das noch immer nach Zement und Feuchtigkeit roch.
In all den langen Tagen und kurzen Nächten meiner nicht vorhandenen Kindheit kreiste etwas in meinem Gehirn unablässig, ein unauflösbares Rätsel: Wo war der Herr der Herrlichkeit? Manchmal schien er meine Frage durch ein Spektakel in der Natur zu beantworten, das - plötzlich - hervorbrach und einen Vorhang aufriss, ein - jäher - Wechsel in den Elementen, ein Donnergrollen oder ein Sonnenstrahl, der hoch und golden durch die Wolken brach - für mich, der emporblickte wie ein Heiliger auf einem Kirchengemälde und erstarrte angesichts Seines Zeichens auf freiem Feld.
Unsere gebeugten, nackten Rücken am Nachmittag im Gegenlicht, wie sie flimmerten, stumm und reglos in der kargen Landschaft. Unsere geschorenen Köpfe hinuntergebeugt, über der brütenden Leere. Wir zerbröselten Torfballen zwischen unseren Fingern oder zerlegtenkleinere Tiere, die wir am Straßenrand fanden und einsammelten. Wir verteidigten diese Kargheit durch Armut bis in die späten Jahrzehnte. Man schenkte uns große Sommer.
Wir reiften im Regen. Wir tauschten Gebärden. Ein Nicken des Kopfes für Aufbruch und Zielrichtung. Schadenfrohes, rohes Gelächter und Spott, wenn etwas schiefging. Worte waren verpönt. Die großen Wahrheiten waren vom Zyklus der Jahreszeiten abhängig, wann gepflanzt, wann geerntet und wann geschlachtet wurde.
Wir aßen das Graubrot in der Dämmerung oft ohne Belag, trieben uns einzeln in den Gärten herum und sahen die anderen, dunklen, kleinen Gestalten unruhig umherhuschen, bis die altmodischen Fuhrwerke der Eltern dreirädrig über die dunkle Schotterpiste knirschten, die hintere Ladefläche beladen mit einem Haufen erdbeschmutzter Möhren oder mit neuem Torf oder Packen von Zementpulver, die noch aufgeschlitzt werden mussten.
Heißhungrig fielen wir über die sandigen Möhren her, ließen ihren Saft unsere ausgedörrten Kehlen hinunterrinnen. Die Erwachsenen grinsten. Sie waren die letzten achtzehn, zwanzig Stunden ohne zu murren auf den Beinen gewesen. Ihre Ausdauer und Geduld wurden immer wieder auf harte Proben gestellt. Oft waren die Einnahmen am Abend enttäuschend gering, und bei den Frauen brach eine Strenge sich Bahn gegenüber den Männern, die schwer erträglich war, denn sie hatten alles gegeben, und es reichte doch vorne und hinten nicht.
Nun war das alles für die wenigen Momente vergessen, in denen sie uns beim Verschlingen unserer Nahrung zusahen. Nun war das zweite Gesetz des Lebens nach der Fortpflanzung, die Aufzucht der Nachkommen, in Kraft getreten und wurde mit dieser Schweigeminute gewürdigt. Wenn der Dieselmotor lief, was meist der Fall war, weil sie die Scheinwerfer zum Abladen ihrer Ware in der Dunkelheit brauchten, dann saßen wir in einer Wolke aus Abgasen, die uns damals wohlriechend und aromatisch vorkam. Niemand hatte etwas dagegen.
Die Baugründe wurden ausgehoben im späten März. Die Landschaft war noch starr vor Kälte.
Schaufeln gruben sich in die harte Erde, manchmal fror es nachts. Dann legte man die Arbeit nieder. Wenn die Bauwagen der italienischen Gastarbeiter in einer Karawane die steile Dorfstraße hochzogen, dann erst begann der Frühling.
Komorek mauerte im März ganz allein. Es stand bis zur Hüfte im Grundwasser. Es war pechschwarz und schlammig, und ein dunkler Himmel braute sich über ihm zusammen. Später, im Mai, erfand er die Leidenschaft, allein und betrunken im strömenden Regen durch die dunklen Fluten zu waten, mit einer Flasche Klarem in der Hand in die hereinbrechende Dunkelheit hineinzuschwanken.
Wochenlang war er nüchtern, arbeitete Tag und Nacht wie ein Besessener, arbeitete für drei, arbeitete für vier Mann, türmte hohe Mauern im Abwasser auf, die uns gegen die Witterung schützen würden. »Eines Tages ...«,pflegte er prophetisch zu sagen und führte diese Sätze nie zu Ende. Plötzlich überkam es ihn, wie aus heiterem Himmel, er konnte nichts machen, und wenn er dann trank, dann kannte er nichts, keine Achtung, keine Gnade, keinen Respekt.
Wenn mein Großvater rief: »Kommen Sie raus, Komorek, es wird dunkel!«, nahm Komorek seine Kelle, schwankte durch die schwarze Flut, die der Regen peitschte, und rief: »Geh nach Hause, Erich, und pass auf, dass deine Frau nicht nass wird.«
Mit solchen Doppeldeutigkeiten schickte er meinen Großvater in die Wüste. Dieser entließ ihn nie, wusste er doch, was er an ihm hatte. Die gleiche Besessenheit für die Arbeit, die er von sich selbst kannte, trieb Komorek voran. Man fand ihn schnarchend unter Apfelbäumen, am Rand staubiger Feldwege, bei Nacht und Regen und in der Glut der Hitze. Was musste er für Kräfte gehabt haben, dass er dies alles aushielt.
Eine wilde Horde kurzgeschorener Jungen, die nackten Oberkörper braungebrannt, sehr früh auf den Beinen, sehr zäh, sehr ausdauernd. Wir rannten wie Antilopen, mit weit ausholenden Schritten durch das hüfthohe Gras, immer die abschüssigen Wiesen hinunter bis zum Wald. Um uns tanzten die Äste der Bäume, noch in der Kälte, im aufsteigenden Tau der Wiesen. Kilometerweit rannten wir, rannten wie Wotans Kinder dem Sonnenaufgang entgegen. »Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder«, schrien wir. Und sobald wir die hohen, alten Bäume am Waldrand erreicht hatten, zerfurchten wir uns erneut die narbigen Beine an der Rinde, indem wir die dicken Stämme umarmten wie Affen und uns Stück für Stück daran hoch hangelten, bis die Äste dünner wurden und der Wipfel zu schwanken begann unter unseren Gewichten. Wir saßen reglos und sahen die Sonne aufsteigen, ihre weiße Aura über dem Schwarz der Tannenwälder, die bei Kirchenbach hinter dem Mischwald begannen -und stießen unser Geheul aus, das Geheul der Indianerkinder mit dem fränkisch-schlesischen Dialekt. Wir trainierten - wofür, wusste keiner. Die voll aufgeladenen Akkus unserer kleinen, zähen Körper wollten immer weiter vorwärts, immer weiter in die Wälder hinein, in ihr Dunkel, in ihre Ungewissheit, immer später zurück in die Siedlung.
Längst war die Dunkelheit angebrochen, und wir waren immer noch draußen, nass gehetzt und völlig verausgabt, spuckten wir Kälte, spuckten die Kältepartikel der schneidenden Luft einfach aus, kamen irgendwann auf der Heimatwiese an, warfen uns auf den Boden, unser Atem auf Hochtouren, die Schwächeren noch irgendwo weit draußen - die Suchmannschaften der Erwachsenen standen schon oben am Hang und riefen und schwenkten ihre Taschenlampen nach uns. Sie riefen unsere altbekannten Namen: Engelbert, Thomas und Robert, die Namen der Anführer, und dann rannten sie und durchkämmten die Wiesen, bis wir lachen mussten, schließlich nicht mehr an uns halten konnten vor Lachen und uns die Rippen hielten, aber da schlugen sie auch schon auf uns ein, schlugen mit ihren Taschenlampen in das Knäuel unserer Leiber und zerrten und schleiften und trieben uns voran in ihre kleinen, fest gegründeten Häuser, die nach Essen rochen und manchmal nach feuchtem Zement und dem kalkigen Geruch der Abflüsse in den Duschen, in den Hobbyräumen im Keller. Es gab unheimliche, graue Spinnen da unten mit langen, wahnsinnig dünnen Beinen mit einem Knick in der Mitte und einem unendlich traurigen, grauen Knoten im Zentrum. Es gab Linsensuppen am Abend und Brote zum Frühstück, die nach schwitzender Mettwurst stanken, eingepackt in Stanniol lagen sie neben den Kaffeefiltern in den verwaisten Küchen.
Dass unsere kleine, perfekt im Nahkampf geschulte Truppe später nie in den Krieg zog, lag wohl nur daran, dass es keinen mehr gab - und dass außerhalb unserer Glasglocke bereits Kräfte wirkten, die es auf unser Glück längst abgesehen hatten, die auf unsere Kindheit ihren Anschlag längst planten.
Später befreundete ich mich mit Engelbert und machte ihn mir untertan - wie ich mich mit allen befreundete, die nicht dazugehörten, die stahlen, rauchten, sich prügelten, schlecht in der Schule waren oder auffielen durch Grausamkeit, Dummheit oder clownesken Wahnwitz oder die Raubbau an ihrer Gesundheit betrieben und die Gesellschaft unterminierten.
Lag es daran, dass dies ebenso eine Gemeinschaft war, wie die der »Heiligen«, die nur ihresgleichen aufnahm und mich willkommen hieß, mich, den »Heiden« von Stein?
Dann freundete ich mich mit Komorek an, mit ihm watete ich durch das dunkle Brackwasser der Baugruben, wenn dicke Wolken aufzogen und Regen über das Land trieb, sah ihm zu, wie er trank und in den Himmel starrte, wenn die Gewitter niedergingen, und danach sah ich ihn mit der Flasche in der Hand kreiseln über dem roten Matsch, im gleißenden Glanz der Sonne, die unter den Wolken plötzlich hervorbrach und alles aufleuchten ließ. Ich stieg aus dem Wasser und tanzte wie ein Derwisch mit ihm, rieb mich ein mit Liebstöckel, den ich zwischen den Fingern zerpresste, mit Majoran und mit Waldmeister, warf mich danach völlig erschöpft in den Dreck neben ihn, roch die Pisse in seinen Kleidern. Oder ich kroch oder lief auf allen vieren über die Kohlfelder, die dunkel, fast schwarz auf der Ebene lagen, und hechelte dabei wie ein Hund.
Manchmal begleitete ich ihn noch ein Stück, wenn er nachts die Bauwagen der italienischen Gastarbeiter abklapperte, um Bier zu erbetteln oder, unter dem Vorwand, eine Zigarette zu schnorren, mit ihnen hineinging - was immer auch dann dort geschah.
Er ließ mich unbekümmert allein an der nächtlichen Straße, die mit Schotter aufgefüllt war und weiter hinten bereits geteert. Ich sah sein Gesicht hineintauchen in das ölige Licht im Innern der Bauwagen, sah seine kleine, platte, schiefe Boxernase, seine rudimentäre Oberlippe, die fein gespalten und wieder genäht worden war, sah die kleine, weiße Naht darauf und den toten Ausdruck in seinen Augen. So ging ich, zwischen Nachtlicht und Draht, allein umher, fand mich an Baugruben wieder, mein Ohr an den leise sirrenden Elektro-Umzäunungen oder an den Rosenstöcken, die sich mit weißer Glut in die Nacht rankten, meine Nase in ihrem betörenden Duft. Am Anfang suchte man mich, dann nicht mehr - es hieß, ich sei mondsüchtig geworden (eine plausible Erklärung) -, denn ich kam mit schlafwandlerischer Sicherheit jede Nacht wieder zurück in das Haus, das noch immer nach Zement und Feuchtigkeit roch.
In all den langen Tagen und kurzen Nächten meiner nicht vorhandenen Kindheit kreiste etwas in meinem Gehirn unablässig, ein unauflösbares Rätsel: Wo war der Herr der Herrlichkeit? Manchmal schien er meine Frage durch ein Spektakel in der Natur zu beantworten, das - plötzlich - hervorbrach und einen Vorhang aufriss, ein - jäher - Wechsel in den Elementen, ein Donnergrollen oder ein Sonnenstrahl, der hoch und golden durch die Wolken brach - für mich, der emporblickte wie ein Heiliger auf einem Kirchengemälde und erstarrte angesichts Seines Zeichens auf freiem Feld.
Unsere gebeugten, nackten Rücken am Nachmittag im Gegenlicht, wie sie flimmerten, stumm und reglos in der kargen Landschaft. Unsere geschorenen Köpfe hinuntergebeugt, über der brütenden Leere. Wir zerbröselten Torfballen zwischen unseren Fingern oder zerlegtenkleinere Tiere, die wir am Straßenrand fanden und einsammelten. Wir verteidigten diese Kargheit durch Armut bis in die späten Jahrzehnte. Man schenkte uns große Sommer.
Wir reiften im Regen. Wir tauschten Gebärden. Ein Nicken des Kopfes für Aufbruch und Zielrichtung. Schadenfrohes, rohes Gelächter und Spott, wenn etwas schiefging. Worte waren verpönt. Die großen Wahrheiten waren vom Zyklus der Jahreszeiten abhängig, wann gepflanzt, wann geerntet und wann geschlachtet wurde.
Wir aßen das Graubrot in der Dämmerung oft ohne Belag, trieben uns einzeln in den Gärten herum und sahen die anderen, dunklen, kleinen Gestalten unruhig umherhuschen, bis die altmodischen Fuhrwerke der Eltern dreirädrig über die dunkle Schotterpiste knirschten, die hintere Ladefläche beladen mit einem Haufen erdbeschmutzter Möhren oder mit neuem Torf oder Packen von Zementpulver, die noch aufgeschlitzt werden mussten.
Heißhungrig fielen wir über die sandigen Möhren her, ließen ihren Saft unsere ausgedörrten Kehlen hinunterrinnen. Die Erwachsenen grinsten. Sie waren die letzten achtzehn, zwanzig Stunden ohne zu murren auf den Beinen gewesen. Ihre Ausdauer und Geduld wurden immer wieder auf harte Proben gestellt. Oft waren die Einnahmen am Abend enttäuschend gering, und bei den Frauen brach eine Strenge sich Bahn gegenüber den Männern, die schwer erträglich war, denn sie hatten alles gegeben, und es reichte doch vorne und hinten nicht.
Nun war das alles für die wenigen Momente vergessen, in denen sie uns beim Verschlingen unserer Nahrung zusahen. Nun war das zweite Gesetz des Lebens nach der Fortpflanzung, die Aufzucht der Nachkommen, in Kraft getreten und wurde mit dieser Schweigeminute gewürdigt. Wenn der Dieselmotor lief, was meist der Fall war, weil sie die Scheinwerfer zum Abladen ihrer Ware in der Dunkelheit brauchten, dann saßen wir in einer Wolke aus Abgasen, die uns damals wohlriechend und aromatisch vorkam. Niemand hatte etwas dagegen.
Die Baugründe wurden ausgehoben im späten März. Die Landschaft war noch starr vor Kälte.
Schaufeln gruben sich in die harte Erde, manchmal fror es nachts. Dann legte man die Arbeit nieder. Wenn die Bauwagen der italienischen Gastarbeiter in einer Karawane die steile Dorfstraße hochzogen, dann erst begann der Frühling.
Komorek mauerte im März ganz allein. Es stand bis zur Hüfte im Grundwasser. Es war pechschwarz und schlammig, und ein dunkler Himmel braute sich über ihm zusammen. Später, im Mai, erfand er die Leidenschaft, allein und betrunken im strömenden Regen durch die dunklen Fluten zu waten, mit einer Flasche Klarem in der Hand in die hereinbrechende Dunkelheit hineinzuschwanken.
Wochenlang war er nüchtern, arbeitete Tag und Nacht wie ein Besessener, arbeitete für drei, arbeitete für vier Mann, türmte hohe Mauern im Abwasser auf, die uns gegen die Witterung schützen würden. »Eines Tages ...«,pflegte er prophetisch zu sagen und führte diese Sätze nie zu Ende. Plötzlich überkam es ihn, wie aus heiterem Himmel, er konnte nichts machen, und wenn er dann trank, dann kannte er nichts, keine Achtung, keine Gnade, keinen Respekt.
Wenn mein Großvater rief: »Kommen Sie raus, Komorek, es wird dunkel!«, nahm Komorek seine Kelle, schwankte durch die schwarze Flut, die der Regen peitschte, und rief: »Geh nach Hause, Erich, und pass auf, dass deine Frau nicht nass wird.«
Mit solchen Doppeldeutigkeiten schickte er meinen Großvater in die Wüste. Dieser entließ ihn nie, wusste er doch, was er an ihm hatte. Die gleiche Besessenheit für die Arbeit, die er von sich selbst kannte, trieb Komorek voran. Man fand ihn schnarchend unter Apfelbäumen, am Rand staubiger Feldwege, bei Nacht und Regen und in der Glut der Hitze. Was musste er für Kräfte gehabt haben, dass er dies alles aushielt.
Eine wilde Horde kurzgeschorener Jungen, die nackten Oberkörper braungebrannt, sehr früh auf den Beinen, sehr zäh, sehr ausdauernd. Wir rannten wie Antilopen, mit weit ausholenden Schritten durch das hüfthohe Gras, immer die abschüssigen Wiesen hinunter bis zum Wald. Um uns tanzten die Äste der Bäume, noch in der Kälte, im aufsteigenden Tau der Wiesen. Kilometerweit rannten wir, rannten wie Wotans Kinder dem Sonnenaufgang entgegen. »Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder«, schrien wir. Und sobald wir die hohen, alten Bäume am Waldrand erreicht hatten, zerfurchten wir uns erneut die narbigen Beine an der Rinde, indem wir die dicken Stämme umarmten wie Affen und uns Stück für Stück daran hoch hangelten, bis die Äste dünner wurden und der Wipfel zu schwanken begann unter unseren Gewichten. Wir saßen reglos und sahen die Sonne aufsteigen, ihre weiße Aura über dem Schwarz der Tannenwälder, die bei Kirchenbach hinter dem Mischwald begannen -und stießen unser Geheul aus, das Geheul der Indianerkinder mit dem fränkisch-schlesischen Dialekt. Wir trainierten - wofür, wusste keiner. Die voll aufgeladenen Akkus unserer kleinen, zähen Körper wollten immer weiter vorwärts, immer weiter in die Wälder hinein, in ihr Dunkel, in ihre Ungewissheit, immer später zurück in die Siedlung.
Längst war die Dunkelheit angebrochen, und wir waren immer noch draußen, nass gehetzt und völlig verausgabt, spuckten wir Kälte, spuckten die Kältepartikel der schneidenden Luft einfach aus, kamen irgendwann auf der Heimatwiese an, warfen uns auf den Boden, unser Atem auf Hochtouren, die Schwächeren noch irgendwo weit draußen - die Suchmannschaften der Erwachsenen standen schon oben am Hang und riefen und schwenkten ihre Taschenlampen nach uns. Sie riefen unsere altbekannten Namen: Engelbert, Thomas und Robert, die Namen der Anführer, und dann rannten sie und durchkämmten die Wiesen, bis wir lachen mussten, schließlich nicht mehr an uns halten konnten vor Lachen und uns die Rippen hielten, aber da schlugen sie auch schon auf uns ein, schlugen mit ihren Taschenlampen in das Knäuel unserer Leiber und zerrten und schleiften und trieben uns voran in ihre kleinen, fest gegründeten Häuser, die nach Essen rochen und manchmal nach feuchtem Zement und dem kalkigen Geruch der Abflüsse in den Duschen, in den Hobbyräumen im Keller. Es gab unheimliche, graue Spinnen da unten mit langen, wahnsinnig dünnen Beinen mit einem Knick in der Mitte und einem unendlich traurigen, grauen Knoten im Zentrum. Es gab Linsensuppen am Abend und Brote zum Frühstück, die nach schwitzender Mettwurst stanken, eingepackt in Stanniol lagen sie neben den Kaffeefiltern in den verwaisten Küchen.
Dass unsere kleine, perfekt im Nahkampf geschulte Truppe später nie in den Krieg zog, lag wohl nur daran, dass es keinen mehr gab - und dass außerhalb unserer Glasglocke bereits Kräfte wirkten, die es auf unser Glück längst abgesehen hatten, die auf unsere Kindheit ihren Anschlag längst planten.
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Autoren-Porträt von Oskar Roehler
Oskar Roehler wurde 1959 als Sohn der Schriftstellerin Gisela Elsner und des Schriftstellers und Verlagslektors Klaus Roehler geboren. Er wuchs in London, Rom und Nürnberg auf. Seit Anfang der 80er Jahre lebt Roehler in Berlin, arbeitete zunächst als freier Journalist und Autor. 1984 erschien bei Luchterhand der Erzählband "Das Abschnappuniversum". Seine Filmkarriere begann Oskar Roehler als Drehbuch-Autor. Er drehte u.a. die Filme "Silvester Countdown", "Gierig", "Latin Lover" und nach "Die Unberührbare" "Suck my Dick".
Bibliographische Angaben
- Autor: Oskar Roehler
- 2011, 592 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550088442
- ISBN-13: 9783550088445
Rezension zu „Herkunft “
"Dieses Buch ist nicht nur gut, es ist stark, es berührt, erschüttert, es klingt mal wie ein Aufschrei, mal wirkt es wie eine Vivisektion, es hat etwas Befreiendes, und es hat eine Sprache, die für all diese gefährlich schwankenden Gemütszustände den Ton und die Bilder findet." Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Peter Körte, 4.9.11
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