Hessler, P: Über Land
China wird mobil. Immer mehr Autos sind auf immer mehr neuen Straßen unterwegs. Welche Auswirkungen das alles auf die Menschheit hat, davon erzählt Peter Hessler ebenso eindrücklich wie brillant. Er weiß, wovon er spricht: Er hat selbst den chinesischen Führerschein gemacht und ist losgefahren.
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Produktinformationen zu „Hessler, P: Über Land “
China wird mobil. Immer mehr Autos sind auf immer mehr neuen Straßen unterwegs. Welche Auswirkungen das alles auf die Menschheit hat, davon erzählt Peter Hessler ebenso eindrücklich wie brillant. Er weiß, wovon er spricht: Er hat selbst den chinesischen Führerschein gemacht und ist losgefahren.
Klappentext zu „Hessler, P: Über Land “
Im Sommer 2001 legt Peter Hessler, langjähriger Peking-Korrespondent des New Yorker, die chinesische Führerscheinprüfung ab - als einer von täglich über 1000 Fahranfängern allein in der Hauptstadt. In den folgenden Jahren wird er unmittelbar Zeuge der enormen Veränderungen, die der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur für das Land und seine Menschen bedeuten. So folgt er mit dem Auto zunächst über Tausende Kilometer dem Verlauf der Großen Mauer westwärts, häufig auf primitiven Landstraßen und weit und breit der einzige Ausländer. So abgelegen, karg und dünn besiedelt die Provinzen im Nordwesten sind, allmählich eröffnen neue Straßen neue Perspektiven. Dann richtet Hessler den Blick auf ein abgelegenes Dorf bei Peking, in das er regelmäßig pendelt. Es wird ihm zu einer zweiten Heimat, und aus nächster Nähe erlebt er mit, was die beginnende touristische Erschließung des Ortes an Problemen und Möglichkeiten für die Bewohner mit sich bringt. Am Beispiel einer Fabrik im südöstlichen Chinaschildert er schließlich nicht nur, wie der Bau einer Autobahn eine ganze Region in kürzester Zeit buchstäblich umkrempelt. Dabei werden all die Hoffnungen, Enttäuschungen und der gnadenlose Konkurrenzkampf sichtbar, die mit dem chinesischen "Wirtschaftswunder" einhergehen. Selten wohl hat man einen so unmittelbaren, atmosphärisch dichten Einblick in das heutige China gewinnen können wie in diesem Buch. Mit einem bewundernswerten Gespür für Gesten und Zwischentöne, für die Komik und Dramatik des Alltags erzählt Hessler von seinen Begegnungen mit höchst unterschiedlichen Menschen, die alle auf die eine oder andere Weise "unterwegs" sind.
Chinesische Führerscheinprüfung, Frage 352:
Wenn ein anderer Fahrer Sie anhält und nach dem Weg fragt, sollten Sie a) ihm nicht helfen b) geduldig und zutreffend antworten c) ihm einen falschen Weg nennen China wird mobil. Immer mehr Autos sind auf immer mehr neuen Straßen unterwegs. Die Verkehrsadern dringen plötzlich in völlig unberührte Gebiete vor, Wirtschaft und Tourismus bahnen sich neue Wege. Welche Auswirkungen das auf die Menschen hat, wie ganz China sich dadurch enorm verändert, davon erzählt Peter Hessler ebenso eindrücklich wie brillant. Er weiß, wovon er spricht: Er hat selbst den chinesischen Führerschein gemacht und ist losgefahren.
Wenn ein anderer Fahrer Sie anhält und nach dem Weg fragt, sollten Sie a) ihm nicht helfen b) geduldig und zutreffend antworten c) ihm einen falschen Weg nennen China wird mobil. Immer mehr Autos sind auf immer mehr neuen Straßen unterwegs. Die Verkehrsadern dringen plötzlich in völlig unberührte Gebiete vor, Wirtschaft und Tourismus bahnen sich neue Wege. Welche Auswirkungen das auf die Menschen hat, wie ganz China sich dadurch enorm verändert, davon erzählt Peter Hessler ebenso eindrücklich wie brillant. Er weiß, wovon er spricht: Er hat selbst den chinesischen Führerschein gemacht und ist losgefahren.
Lese-Probe zu „Hessler, P: Über Land “
Über Land von Peter Hessler I
Es gibt noch leere Straßen in China, besonders in den Steppen
des Westens, wo die Landstraßen, die zum Himalaja führen,
kaum etwas befördern außer Staub und Wind. Leere Straßen
findet man sogar in den Boomtowns an der Küste. Dort führen
sie zu halbbebauten Fabrikbezirken und geplanten Wohnungskomplexen;
sie schlängeln sich zwischen terrassenförmig angelegten
Feldern hindurch, die dazu bestimmt sind, zu den
Vorstädten von morgen zu werden. Sie verbinden Dörfer miteinander,
deren Bewohner vor weniger als einer Generation
ihre Reisen zu Fuß bewältigten. Es war der Gedanke an all diesen
vergänglichen offenen Raum - die neuen Straßen zu alten
Orten, die Landschaften vor dem Wandel -, der mich letztlich
bewog, mir einen chinesischen Führerschein zu besorgen.
Als ich mich im Sommer 2001 an das Pekinger Amt für
Verkehrssicherheit wandte, lebte ich seit fünf Jahren in China.
In dieser Zeit hatte ich mich passiv per Bus und Flugzeug,
Schiff und Bahn befördern lassen; ich döste bei der Fahrt
durch Provinzen und schlief, wenn wir Städte durchquerten.
nun selbst am Steuer zu sitzen rüttelte mich jedoch wach. So
ging es überall:Allein in Peking legten jeden Tag im Schnitt fast
tausend Anwärter die Führerscheinprüfung ab,Vorreiter eines
landesweiten Autobooms. Die meisten stammten aus der wachsenden
Mittelschicht, für die das Auto ein Zeichen von Mobilität,
Wohlstand und Modernität war. Für mich bedeutete es
Abenteuer. Die Fragen der schriftlichen Führerscheinprüfung
deuteten auf eine Welt hin, in der nichts selbstverständlich war:
... mehr
223. Wenn Sie an eine überflutete Straße kommen, sollten
Sie
a) beschleunigen, damit der Motor nicht absäuft.
b) anhalten,prüfen,ob dasWasser nicht zu tief ist,und
langsam hindurchfahren.
c) einen Fußgänger suchen und ihn bitten, Ihnen
vorauszugehen.
282. Wenn Sie an einen Bahnübergang kommen, sollten
Sie
a) beschleunigen und ihn überqueren.
b) nur dann beschleunigen, wenn Sie sehen, dass ein
Zug sich nähert.
c) bremsen und sich vergewissern, ob es ungefährlich
ist, bevor Sie ihn überqueren.
Chinesische Führerscheinbewerber mussten sich einer ärztlichen
Untersuchung unterziehen, die schriftliche Prüfung ablegen,
an einem technischen Kurs teilnehmen und dann eine
zweitägige Fahrprüfung absolvieren. Es gab daneben jedoch
die abgespeckteVersion für Leute,die bereits eineausländische
Zulassung besaßen. Ich legte die Ausländerprüfung an einem
grauen, schwülen Vormittag ab, der Himmel hing tief über der
Stadt wie ein Schleier aus feuchter Seide. Der Prüfer war in
den Vierzigern, und er trug weiße baumwollene Autofahrerhandschuhe,
die Finger waren gelb von Zigaretten der Marke
»Roter Pagodenberg«. Kaum saß ich im Auto, steckte er sich
eine an. Es war ein Volkswagen Santana, der beliebteste Personenwagen
des Landes. Als ich das Lenkrad anfasste, waren
meine Hände schlüpfrig von Schweiß.
»LassenSie denWagen an«,sagte der Prüfer,und ich drehte
den Schlüssel um. »Fahren Sie los.«
Ein ganzer Straßenzug war ausdrücklich für Fahrprüfungen
abgesperrt. Es war, als warte ein ganzes Viertel darauf, dass
das Leben beginnt: Kein anderes Auto war zu sehen, keine
Fahrräder, keine Menschen; nicht ein einziger Laden oder
provisorischer Stand säumte den Gehsteig. Keine Dreiräder,
hochbeladen mit Waren,keine Flachbettkarren mit tuckernden
Zweitaktmotoren,keine Taxis,die auf der Jagd nach Fahrgästen
wie Fische umherflitzten. niemand bog ab, ohne zu blinken,
niemand trat, ohne sich umzuschauen, vom Bürgersteig auf die
Straße. noch nie hatte ich eine so friedliche Straße in Peking
gesehen, und in den Jahren danach wünschte ich manchmal,
ich hätte Zeit gehabt, es zu genießen. Aber ich hatte gerade
fünfzig Meter zurückgelegt, als der Prüfer sich wieder meldete.
»Fahren Sie an die Seite«, sagte er. »Sie können den Motor
ausmachen.«
Der Prüfer füllte mit schwungvoller Schrift Formulare aus.
Seine Zigarette war gerade mal zu einem Viertel abgebrannt.
Eines der letzten Dinge, die er mir sagte, war: »Sie sind ein sehr
guter Fahrer.«
Der Führerschein wurde unter meinem chinesischen namen
Ho Wei eingetragen. Er war gültig für sechs Jahre, und
zum Schutz vor Fälschern war er mit einem Hologramm versehen,
das einen Mann zeigte, der auf einem alten Pferdewagen
steht. Die Gestalt trug wallende Gewänder und deutete mit
einem erhobenen Arm in die Ferne. Im Verlauf jenes Jahres
brach ich zu einer Fahrt quer durch China auf.
***
Als ich mit meiner Reiseplanung begann, empfahl mir ein Pekinger
Fahrer Das Kartenbuch des chinesischen Autofahrers. Das
Buch war erschienen bei einer Firma namens Sinomaps,die das
Land in 158 Diagramme aufgeteilt hatte. Es enthielt sogar eine
Straßenkarte von Taiwan,die aus politischen Gründen in jedem
Atlas des Festlandes enthalten sein musste, auch wenn niemand,
der Sinomaps benutzte, jemals nach Taipei fahren wird.
noch unwahrscheinlicher war,dass ein chinesischer Autofahrer
auf die Spratly-Inseln geraten wird,mitten im Südchinesischen
Meer, ein Territorium, das sich zur Zeit fünf Länder streitig
machen. Die Spratlys haben keine zivilen Bewohner, aber die
Chinesen sind von ihrem Anspruch überzeugt, und deshalb
enthielt das Kartenbuch des Autofahrers eigens eine Seite mit der
Inselkette. Das war die einzige Karte ohne Straßen.
Das Studium des Buches weckte in mir den Wunsch, nach
Westen zu fahren. Die Karten des Ostens und des Südens
machten einen betriebsamen Eindruck - zahllose Städte und
ein endloses Gewirr von Straßen. Seit dem Beginn von »Reform
und Öffnung«, der von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Periode
marktwirtschaftlicher Veränderungen, hatten die Küstenregionen
sich am stärksten entwickelt. Das ganze Land bewegt
sich in diese Richtung: Zur Zeit meiner Reise hatten bereits
an die hundert Millionen Menschen die Bauernhöfe verlassen,
überwiegend in Richtung Südosten, und der gleichmäßige
Gang des Landlebens wich stetig der Hast der Fabrikstädte.
Im norden und Westen gab es dagegen noch ausgedehnte Gebiete
mit landwirtschaftlicher nutzung, und die Karten dieser
Regionen vermittelten ein Gefühl von Weite, das mich reizte.
Es gab weniger Straßen und Städte. Manchmal war die halbe
Seite mit Punkten besprenkelt, dem Zeichen für Wüste. Und
die Karten im Westen umfassten mehr Raum - im nördlichen
Tibet stand eine einzige Seite für ein Fünftel der Landmasse
Chinas. Im Buch schien sie die gleiche Größe zu haben wie
Taiwan. Auf keiner der Seiten war der Maßstab vermerkt. Hin
und wieder gaben winzige Zahlen die Entfernung zwischen
Städten in Kilometern an, aber ansonsten war man auf seine
Vermutungen angewiesen.
Außerdem waren die meisten Straßen nicht gekennzeichnet.
Schnellstraßen erschienen als dicke blaurote Arterien,
während die nationalstraßen rote Venen waren, die zwischen
den größeren Städten verliefen. Provinzstraßen trugen ein
schwächeres Rot, und Kreis- und Ortsstraßen waren noch kleiner
- winzige Kapillaren, die sich durch abgelegene Gebiete
zogen. Die Idee, diesen kleinen roten Straßen zu folgen, gefiel
mir, aber keine einzige hatte einen namen. Die Seite für die
Region Peking zeigte sieben Schnellstraßen, zehn Autobahnen
und über hundert kleinere Straßen, aber nur die Autobahnen
waren nummeriert. Ich fragte den Pekinger Fahrer nach den
Kapillaren.
»Solchen Straßen gibt man keine namen«, sagte er.
»Woher weiß man dann, wo man ist?«
»Manchmal gibt es Schilder, auf denen der name der nächsten
Stadt steht«, sagte er. »Wo es kein Schild gibt, können Sie
anhalten und jemanden fragen, wie Sie dorthin kommen, wo
Sie hinwollen.«
Die Führerscheinprüfung streifte auch dieses Problem:
352. Wenn ein anderer Fahrer Sie anhält und nach dem
Weg fragt, sollten Sie
a) ihm nicht helfen.
b) geduldig und zutreffend antworten.
c) ihm einen falschen Weg nennen.
Tausende von namenlosen Straßen durchzogen die Sinomaps,
und es war unmöglich, eine klare Route in den Westen zu
finden. nicht so verwirrend war dagegen ein anders Symbol:
. Diese Markierung tauchte an der nordostküste
auf, bei der Stadt Shanhaiguan, und verlief von dort westwärts
durch die Provinz Hebei. Sie setzte sich fort in die Provinzen
Shanxi und Shaanxi und dann in die Innere Mongolei. Sogar
in den Wüsten von ningxia und Gansu, wo die Sandpunkte
so dicht standen wie Sterne, durchbrachen die feinen Linien
von die Galaxie. Das war ein Teil einer Sinomaps-
Karte, der leicht zu verstehen war - schon als Junge hätte ich
erkannt, dass es sich um die Große Mauer handelt. In meiner
ganzen Kindheit dachte ich, wenn ich eine Karte von China
betrachtete: Stell dir vor, du würdest einer Mauer folgen, die
sich durch ein ganzes Land zieht!
Irgendwann hatten die Chinesen sogar erwogen, die Große
Mauer in eine Straße umzuwandeln. In den zwanziger Jahren
richteten chinesische Intellektuelle ihren Blick auf die Vereinigten
Staaten, wo das Automobil bereits die Landschaft
veränderte. Chinesische Stadtplaner, von denen einige in den
Staaten studiert hatten, forderten die Städte auf, ihre alten
Stadtmauern niederzureißen und das Material für den Bau
von Ringstraßen zu verwenden, die für den Autoverkehr geeignet
waren. Bis 1931 hatte sich über zwei Dutzend Städte für
diesen Weg entschieden,darunter die im Süden gelegene Stadt
Kanton, die über 800 Jahre alte Bauwerke abriss. Unweigerlich
richteten die Modernisierer ihre Aufmerksamkeit auf die Große
Mauer selbst. Die Shanghaier Zeitung Shenbao brachte 1923
einen Artikel von Lei Sheng unter dem Titel »nutzung von Abfallmaterial
für den Bau einer Straße auf der Großen Mauer«.
Der Verfasser unterstützte einen Vorschlag der Regierung, das
Bauwerk zu erneuern, und sprach von einer »sehr guten Gele-
genheit«:»Die Große Mauer verläuft von Shanhaiguan nachYumenguan;
sie ist eine durchgehende, gerade Linie, die sich über
Tausende von li erstreckt. Würde man sie in eine Straße umwandeln,
entstünde eine Verbindung zwischen Peking, Shanxi,
Shaanxi und Gansu, die den Handel erleichtern würde ...« Die
Diskussion über die Idee zog sich hin. 1931 sprach sich das
einflussreiche Students' Magazine dafür aus und bemerkte, dass
bei den vielen Steinen in der Mauer »kein großes Kapital nötig
sein wird, und im Ergebnis schließen wir eine große Lücke der
Verkehrsinfrastruktur, die von Osten nach Westen, vom Ozean
ins Innere verläuft ...«
Dieser Plan wurde nicht befolgt, sicherlich, weil die Regionen
der Großen Mauer so gebirgig und abgelegen sind.
Aber siebzig Jahre später fand ich als Fahrer Gefallen an der
Generalroute. Von Osten nach Westen, vom Ozean ins Innere
- eine solche Autoreise hatte ich in China schon immer
unternehmen wollen. Die Zinnenmuster in meinem Kartenbuch
symbolisierten die Mauer; an vielen Stellen sah ich
Straßen, die parallel zu ihr verliefen oder sie kreuzten, und
meistens waren es Straßen vom Kapillartyp,die zumTeil etliche
Kilometer an den Ruinen entlangführten. Die Große Mauer
konnte mich durch das kleinstädtische China geleiten; ich
konnte sie über die ganze Länge verfolgen bis an den Rand der
tibetischen Hochebene. nachdem ich den Gedanken einmal
gefasst hatte, wurde ich ihn nicht mehr los, obwohl Freunde
mich davor warnten,lange Strecken allein zu fahren.Aber auch
das war in der Prüfung schon behandelt worden:
347. Wenn ein anderer Fahrer mit guten Absichten Sie vor
etwas warnt, sollten Sie
a) aufgeschlossen sein und genau zuhören.
b) nicht zuhören.
c) zuhören, aber den Rat nicht beachten.
***
In Peking mietete ich mir einen Wagen und nahm Kurs auf
Shanhaiguan, eine Stadt an der Küste, wo die Große Mauer
auf die Bohai-See trifft.Von dort aus fuhr ich westwärts durch
die Provinz Hebei. Es war Herbst, und die meisten Feldfrüchte
waren schon geerntet; nur der Mais stand noch hoch auf
den Feldern. Alles andere lag auf der Straße ausgebreitet -
gesprenkelte Bahnen aus Erdnüssen, hier und da kleine Berge
aus Sonnenblumenkernen, leuchtend rote Chilis, fächerartig
verteilt. Die Bauern breiteten die Früchte sorgsam am Rand des
Asphalts aus, weil er die beste Fläche zum Trocknen und Sortieren
bot. Das ungedroschene Getreide schütteten sie mitten
auf die Straße, damit Autos darüberfuhren. Das war verboten -
nichts verstößt so offen sowohl gegen die Verkehrssicherheit
als auch gegen die Lebensmittelhygiene. Im ländlichen China
wird es dennoch weithin geduldet, denn das Dreschen ist am
einfachsten, wenn ein anderer die Arbeit übernimmt. Anfangs
fiel es mir jedoch schwer, über nahrung hinwegzufahren. An
meinem ersten Reisetag brachte ich den Wagen vor jedem
Haufen mit kreischenden Bremsen zum Stehen, kurbelte das
Fenster hinunter und fragte: »Darf ich da drüberfahren?« Die
Bauern riefen ungeduldig: »Los, los, los!« Und so fuhr ich
dann,wobei Hirse,Sorghum und Weizen unter meinen Rädern
knisterten.Am zweiten Tag fragte ich nicht mehr,am dritten Tag
lernte ich, beim Anblick von Getreide zu beschleunigen.
Wenn ich auf einen Haufen zufuhr, trat ich aufs Gas - krach!
knirsch! -, und im Rückspiegel sah ich dann, wie die Leute sich
mit Rechen und Besen auf die Straße stürzten. Das war mein
Anteil an der herbstlichen Arbeit - eine Durchfahr-Ernte.
Die Berge von Hebei sind steil, das Gestein liegt offen zutage,
und ich fuhr durch Dörfer mit felsigen namen: Ochsenherzberg,
Zweigipfeldorf, Berggeisttempel. Die Große Mauer
beschattete diese Kleinstädte mit ihren roten Ziegeldächern.
Die Befestigungen folgten gewöhnlich der Kammlinie, hoch
über den Feldern, und ich bekam sie auf der kurvenreichen
Fahrt durch die Berge immer wieder flüchtig zu sehen. Die
Ming-Dynastie hatte diese Bauten errichtet, überwiegend im
16. Jahrhundert, und sie hatte gute Arbeit geleistet, denn das
Steinfundament und die grauen Ziegelmauern schmiegten sich
noch immer fest an den Bergkamm. Manchmal tauchte die
Mauer in ein Tal hinab, und an diesen tiefen Stellen war das
Bauwerk so sauber abgeerntet worden wie die Felder. Die
Ziegelverblendung war völlig verschwunden; übriggeblieben
waren nur noch das Fundament und die Mauerfüllung aus
gestampfter Erde,durchdieWitterungpockennarbig geworden
und zerbröselnd. Diese nackte Mauer durchquerte die Talsenke
und kletterte wieder die Berge hinauf, bis schließlich von einer
bestimmten Höhe ab die Ziegelverblendung wieder auftauchte.
Auf beiden Seiten des Tales verlief die Grenze der Zerstörung
in gleicher Höhe, so als markiere sie den Höchststand einer
großen Sturzflut, die durch Hebei gebraust war. Diese Flut war
aber von Menschen gemacht,und der Wasserpegel war ein Maß
der Motivation. Er zeigte genau an, wie hoch die Menschen für
kostenlose Ziegel zu klettern bereit waren.
In dem Dorf Yingfang machte ich halt, um einen dieser
kahlen Abschnitte zu besichtigen, und auf dem Weg dorthin
gesellte sich ein Bauer namens Wang Guo'an zu mir. »Als ich
jung war, war sie in besserem Zustand«, sagte er. »Viel wurde
während der Kulturrevolution abgerissen.«
Er führte mich hinter sein Haus, wo alte Ziegel säuberlich
zu über einen Meter hohen Stapeln aufgeschichtet waren. »Die
sind von der Großen Mauer«, sagte er. »Man sieht es an dem
Mörtel - solch ein Mörtel wurde früher benutzt. Sie stammen
von einem großen Turm im Dorf.«
Als ich ihn fragte, ob die Dorfbewohner noch immer die
Befestigungen demontieren, schüttelte er den Kopf. »Das lässt
die hiesige Verwaltung nicht mehr zu«, sagte er. »Diese Ziegel
wurden vor vierzig Jahren beschafft und für den Bau eines
Hauses verwendet, das vor kurzem abgerissen wurde.Wir werden
jetzt etwas anderes daraus bauen.«
In diesen dichtbevölkerten Landschaften konnte alles zu irgendetwas
nutze sein. Hebei ist ungefähr so groß wie der Bundesstaat
Washington, aber die Bevölkerungszahl ist mehr als
elfmal so hoch - insgesamt 68 Millionen. In die Berge wurden
Ackerterrassen geschnitten, auf den Straßen werden Früchte
getrocknet, vorbeifahrende Autos dienen als Drescher. Ist eine
Mauer in der nähe, wird sie genutzt, bisweilen zweimal.
Körperlich gesunde Menschen führen nicht selten ein
Doppelleben; nachdem sie den Acker bestellt haben, gehen
sie in die großen Städte. Dort arbeiten sie im Hochbau oder im
Straßenbau oder am Fließband in einer Fabrik. Die höchste
Zahl von Jobs,die ich auf einer einzigen Visitenkarte aufgelistet
sah, war 27. Das war in der Provinz Shanxi, gleich hinter der
Grenze von Hebei, und ich lernte den Mann auf einer Beerdigung
kennen.
In diesem Teil Chinas haben selbst Beerdigungen etwas Geschäftiges
an sich, und überall im norden musste ich aus Rücksicht
auf Leichenprozessionen anhalten. Sie fanden auf der
Straße statt, so öffentlich wie das Dreschen, und gewöhnlich
wurde ich zum anschließenden Leichenschmaus eingeladen.
Es war möglich, quer durch Hebei und Shanxi von einer Beerdigung
zur nächsten zu fahren, und es gab sogar Leute, die
so lebten - eine endlose Autoreise, auf der jeder Halt gleichbedeutend
war mit der ultimativen Endstation eines anderen. In
der Stadt Xinrong lernte ich Wei Fu und seine Frau kennen, die
sich darauf spezialisiert hatten,bei Gedenkfeiern Stücke aus der
traditionellen Shanxi-Oper darzubieten. Sie fuhren einen alten
Pritschenwagen der Marke Beijing, dessen Ladefläche sie für
Aufführungen hergerichtet hatten. In Xinrong parkten sie auf
der Hauptstraße, zogen die Handbremse an, nahmen die Plane
ab, bauten ein Sonnendach auf und installierten zwei riesige
Peavey-Lautsprecher. In einer knappen halben Stunde war die
Bühne fertig, und auf der Straße versammelten sich Hunderte
von Zuschauern. Die Beerdigung war ein Ereignis von sieben
Tagen, und der besondere Aufwand erklärte sich damit, dass
dem Toten das größte Geschäft in Xinrong gehört hatte, das
Glücksquell-Kaufhaus. Die Familie hatte den Sarg des Mannes
direkt am Eingang aufstellen lassen, und selbst im Tod machte
er noch ein gutes Geschäft, weil die Menge von der Straße in
das Kaufhaus strömte, sich am Sarg vorbeidrängte und Snacks
kaufte, die sie verzehrte, während sie der Oper lauschte.
Am nächsten Tag stieß ich zu einer weiteren Beerdigung,
unmittelbar nach der Grablegung. Es war auf dem Lande, auf
einer weiten Ebene, deren Wahrzeichen ein hoher Meldeturm
der Großen Mauer war. Es gab keine größeren Städte in der
nähe - in China, wo das Gesetz für die meisten Bürger die Einäscherung
vorschreibt, sind Beerdigungen nur in abgelegenen
ländlichen Regionen erlaubt. Unter dem Turm hatten sich
zwanzig Männer und Frauen versammelt, gekleidet in weißes
Sackleinen, das in der Taille durch ein rotes Seil zusammengehalten
wurde. In der Ferne verkündete ein riesiges Schild
eine staatliche Propagandaparole: »Wer den Ackerboden
schützt, der schützt unsere Lebensgrundlagen«.
Ich wurde von dem einzigen Anwesenden begrüßt, der
nicht das weiße Trauergewand trug. Er war 69 Jahre alt und
rundlich, und er trug einen blauen Anzug und eine Mütze.
Sein rundes Mondgesicht glänzte vor Schweiß. Er zeigte das
breiteste Lächeln, das ich seit der Beerdigung vom Vortag gesehen
hatte, als ich mit Wei Fu, dem Leiter der Operntruppe,
geplaudert hatte. Bei einer chinesischen Beerdigung gibt es
immer mindestens einen, der fröhlich ist.
»Kommen Sie her, kommen Sie her!«, sagte der rundliche
Mann und zog mich am Arm. »Wir sind fast fertig!«
Er überreichte mir eine laminierte Visitenkarte. Die Vorderseite
zeigte zwei einander umfassende Hände von Geschäftsleuten
und dazu die Worte:
Zhang Baolong
Fengshui-Meister
Dienste für die gesamte Länge des Drachens,
von Anfang bis Ende
Fengshui-Meister befassten sich von jeher damit,dasVerhältnis
zwischen Bauten und Landschaft zu bewerten, um Harmonie
zwischen dem natürlichen und dem Menschengemachten
herzustellen. Die Auffassungen dieser Schule hatten einst
großen Einfluss auf militärische und politische Dinge gehabt.
Die Ming-Dynastie hatte es zum Beispiel vermieden, einen
dreißig Kilometer langen Bergrücken nordwestlich von Peking
wegen der nähe zu den kaiserlichen Gräbern mit der Großen
Mauer zu bebauen. Strategisch eignete er sich hervorragend für
Verteidigungsanlagen, aber Fengshui-Meister hielten ihn für
eine longmai, eine »Drachenader«. Ein die Ader verletzendes
Bauwerk konnte den Ming Unglück bringen, und daher ließ
man den Bergkamm in Ruhe. Der Kaiser machte sich die Mühe,
weiter nördlich Mauern zu errichten, wo das Gelände nicht so
leicht zu verteidigen war und stärkere Befestigungen verlangte.
Als die Kommunisten 1949 an die Macht kamen, griffen sie
viele kulturelle Traditionen als abergläubisch an, darunter die
Religion, die Wahrsagerei und die Fengshui-Analyse. Auch
nachdem die Reformen von Deng Xiaoping zu größerer Toleranz
geführt hatten, kamen manche Gebräuche nicht mehr auf
die Beine; der Taoismus zum Beispiel findet im heutigen China
wenig Anhänger. Der Glaube an Fengshui hat sich jedoch als
unverwüstlich erwiesen, hauptsächlich wegen des Zusammenhangs
mit Geschäften. Gutes Fengshui kann Glück bedeuten,
und für eine fachkundige Analyse ist man auch bereit, etwas
springen zu lassen. Zhang Baolong war einer der neuen Meister
- mit der Marktwirtschaft konnte er ebenso geschickt umgehen
wie mit der Geographie. Seine Visitenkarte führte 27 verschiedene
Dienste an, von der »Auswahl des Ehegatten« bis zur
»Wahl der Grabstätte« - dies stand für die »gesamte Länge des
Drachens«. Zu seinem Angebot gehörte ferner das Einsetzen
von Holzbalken für Häuser, die Bestimmung des Standorts für
ein Bergwerk und die Behandlung »ungewöhnlicher Krankheiten
«. Er baute Särge. (»Das Holz müssen Sie selbst liefern.«)
Er half bei der Beschaffung von Hochzeitslimousinen. Bei der
Dienstleistung nr. 21 auf seiner Karte ging es darum, Gebeine
umzubetten, eine nicht ungewöhnliche Aufgabe in einem Land,
das einen Bauboom erlebt.
»Diesen Platz habe ich ausgewählt!«, sagte der Mann stolz
und deutete auf den Fleck mit der frisch ausgehobenen Erde.
Vor dem Grab machten die Trauernden der Reihe nach ihren
Kotau: Sie knieten nieder, verbrannten ein Bündel Totengeld
und stießen, während sie mit dem Kopf auf den Boden schlugen,
Klagelaute aus. An meiner Gegenwart schien niemand
Anstoß zu nehmen. Im norden Chinas hatte ich die Erfahrung
gemacht, dass die Teilnehmer an Bestattungen sich durchweg
einladend verhalten, wohl auch, weil sie selten Ausländer sehen.
Dennoch dämpfte ich meine Stimme, um zu fragen: »Wer
wird denn begraben?«
Zhang Baolong schien meine Frage jedoch zu überhören;
er sprach noch immer über Fengshui. »Es ist ostwestlich ausgerichtet
«, fuhr er fort, auf das Grab deutend. »Mit dem Kopfende
im Westen und dem Fußende im Osten. Und der Baum,
den ich gepflanzt habe, ist eine Pappel. Für Männer pflanzen
wir Pappeln, für Frauen Weiden, damit die Seele weiß, wo das
Grab ist. Dieser spezielle Platz eignet sich aus vielen Gründen.
Die Lage des Meldeturms dort ist zum Beispiel sehr wichtig.
Dieser Platz ist gut, weil er hochgelegen ist, und der Bach
dort, der nach Osten fließt, führt Wasser. Und oberhalb steht
der Meldeturm, der das Grab beschützt. Wer hier begraben
liegt, wird viele begüterte nachfahren haben, die es im zivilen,
militärischen und wissenschaftlichen Bereich weit bringen
werden.«
Die Männer waren fertig mit ihrem Kotau, jetzt waren die
Frauen an der Reihe: Eine nach der anderen senkte ihren Kopf
zu Boden. Die Frauen jammerten lauter, und ihre Wehklagen
hallten über das ganze Tal.
»Mein Vater und mein Großvater waren beide Fengshui-
Meister«, fuhr Zhang fort. »Das ist Tradition in meiner Familie.
Und alle haben ein langes Leben. Mein Vater wurde fünfund-
neunzig, und meine Mutter war achtundneunzig, als sie starb.
Meine Großmutter wurde neunundneunzig!«
Die Totenklage wurde lauter. Ich fragte mich, ob es nicht
vielleicht eine bessere Gelegenheit gäbe, über Langlebigkeit
zu sprechen, aber Zhang redete unbeirrt weiter. »Ich habe drei
Söhne und drei Töchter«,sagte er.»Meine Söhne sind ebenfalls
Fengshui-Meister! Und eine meiner Töchter« - er strahlte, vielleicht
beim Gedanken an die Sicherheit in dieser Welt und der
nächsten - »ist Krankenschwester!«
***
Auf der Fahrt durch Hebei und Shanxi hatte ich ideales Wetter
- morgens war es frisch, und die Sonne warf ein klares Licht
auf die Terrassenfelder. Meistens wurde ich früh wach, aber ich
hatte keinen festen Plan. Ich versuchte, mich in Sichtweite der
Großen Mauer zu halten, und wann immer mich etwas interessierte,
machte ich halt. Ich fuhr einfach los und klärte die weitere
Route unterwegs; an manchen Tagen legte ich nur gut 300
Kilometer zurück. Auf dem Lande kommt man nur langsam
voran, weil immer wieder etwas dazwischenkommt - die Bauern
breiten das Getreide zum Dreschen auf der Straße aus, eine
Schafherde kreuzt die Fahrbahn, oder ein Leichenzug hält einen
auf.Auch die Straßen an sich waren völlig unvorhersehbar.
Ein schmaler roter Strich auf meiner Sinomaps-Karte konnte
sich als eine nagelneue Asphaltstraße entpuppen, aber genauso
gut konnte es sich um einen Feldweg oder gar um ein trockenes
Bachbett handeln. An vielen Stellen waren Ausbesserungsarbeiten
im Gange. Seit 1998 hatte die chinesische Regierung
viel in die ländlichen Straßen investiert, unter anderem als
Reaktion auf die asiatische Finanzkrise, und dieses Projekt war
noch im Gange, als ich meine Reise antrat.
Im modernen China war der Straßenbau des Öfteren das
Mittel der Wahl, um der Armut oder einer Krise zu begegnen.
Das erste große Programm zum Bau von Autostraßen begann
1920, als der ganze norden infolge einer Dürre von einer
schrecklichen Hungersnot heimgesucht wurde. Es war schwierig,
nahrung zu den Hungernden zu bringen, weil das noch aus
kaiserlicher Zeit stammende Straßennetz für Pferdegespanne
ausgelegt war. Das amerikanische Rote Kreuz unterstützte den
Bau moderner, für Lastwagen und Automobile geeigneter Straßen,
und im Oktober 1920 begannen die Bauarbeiten in der
Provinz Shandong. Zur Arbeit wurden die Bauern aus der Umgebung
herangezogen, von denen viele dem Verhungern nahe
gewesen waren; auf den neuen Straßen konnten die Lastwagen
mit nahrungsmitteln zu ihnen gelangen. Der amerikanische
Ingenieur Oliver J. Todd, der das Shandong-Projekt leitete,
schätzte, dass auf diese Weise eine halbe Million Menschen direkt
oder indirekt mit nahrung und Brennstoff versorgt wurde.
Das Straßenbauprogramm des Roten Kreuzes erstreckte
sich schließlich auf vier nördliche Provinzen, und es war so erfolgreich,
dass die chinesische Regierung Todd in ihre Dienste
berief. Er blieb achtzehn Jahre und leitete den Fernstraßenbau
im ganzen Land. Bei einem einzigen Projekt im Jahr 1928 standen
ihm 200000 Arbeiter zur Verfügung, mehr Leute, als damals
am Straßennetz der Vereinigten Staaten beschäftigt waren.
Die Zahl der Personenwagen in China blieb gering - 1922
gab es in Peking rund 1500 -, aber das Interesse war lebhaft. In
chinesischen Städten fanden Automobilausstellungen statt; die
Shanghaier Zeitung Shenbao
brachte wöchentlich eine »Automobil-
Beilage«. Im Jahr 1935 besaß China 80000 Kilometer
guter, nicht asphaltierter Straßen, und es war nur eine Frage
der Zeit, bis das Land einen Autoboom erleben würde.
Dieser Boom wurde dann allerdings um über ein halbes
Jahrhundert verschoben. Die japanische Invasion lähmte
den jungen Automarkt, und nachdem Mao an die Macht gekommen
war, machte das kommunistische Wirtschaftssystem
es den Menschen jahrzehntelang unmöglich, sich ein Auto
zu kaufen. Das ländliche Straßennetz stagnierte, und erst in
den Reformjahren konnte die Regierung diese Infrastruktur
in größerem Stil ausbauen. Den Anstoß gab, so wie einst die
Hungersnöte, die asiatische Finanzkrise, und wenn dabei auch
die Stützung der Konjunktur im Vordergrund stand, so sah
die Regierung doch zugleich eine Gelegenheit, den lange aufgeschobenen
Autoboom endlich in Schwung zu bringen. Die
Geschichte wiederholte sich. Dies war Chinas zweite Welle von
Autopionieren, und sie fingen praktisch von vorn an. Im Jahr
2001, als ich meinen Führerschein machte, hatte das Land über
1,2 Milliarden Einwohner, aber weniger als zehn Millionen
Personenwagen. Auf 128 Menschen kam ein Fahrzeug - das
entsprach dem Stand der Vereinigten Staaten im Jahr 1911.
Für meine Reise mietete ich bei einer Pekinger Firma namens
»Hauptstadt-Autos« einen in China gebauten Jeep Cherokee.
Es war eine junge Branche - noch fünf Jahre zuvor wäre
kaum jemand auf die Idee gekommen, sich für einen Wochenendausflug
ein Auto zu mieten. Inzwischen hatte sich das Geschäft
jedoch entwickelt, und meine örtliche niederlassung von
Hauptstadt-Autos verfügte über eine Flotte von rund fünfzig
Fahrzeugen, überwiegend Volkswagen Santanas und Jettas, die
in China gebaut wurden. Es waren kleine Limousinen, die auf
demselben Basismodell beruhten wie der VW Fox, der früher
in den USA verkauft wurde. Bei Hauptstadt-Autos mietete ich
für Wochenendausflüge oft einen Jetta, und dabei lief ein kompliziertes
Ritual ab. Erst füllte ich einen Berg von Papieren aus
und zahlte meine 25 Dollar pro Tag. Dann öffnete der Chefmechaniker
den Kofferraum, um zu beweisen, dass ein Ersatzreifen
und ein Wagenheber an Bord waren. Schließlich wurde
der Jetta von außen besichtigt, und eventuelle Dellen und
Kratzer wurden in einer Umrissskizze des Wagens festgehalten.
Das nahm oft eine ganze Weile in Anspruch - im Pekinger Verkehr
geht es unsanft zu, und es oblag mir, jeden Kratzer an der
Tür und jede Delle in der Stoßstange einzuzeichnen. nachdem
der bereits vorhandene Schaden dokumentiert war, schaltete
der Mechaniker die Zündung ein und zeigte mir die Tankuhr.
Mal war der Tank zur Hälfte, mal nur zu einem Viertel gefüllt.
Gelegentlich schaute er genau hin und verkündete: »Drei Achtel.
« Meine Pflicht war es, den Wagen mit genau derselben
Tankfüllung zurückzugeben. Von Woche zu Woche stimmte es
nie genau, und eines Tages beschloss ich, etwas für die junge
Branche zu tun.
»Wissen Sie«, sagte ich, »Sie sollten alle Wagen nur mit vollemTankvermietenundvomKundenverlangen,
dasser ihnvoll
zurückgibt. So machen das die Autovermietungen in Amerika.
Es ist viel einfacher.«
»Das würde hier nie funktionieren«, sagte Herr Wang, der
gewöhnlich den Papierkram für mich erledigte. Er war der
freundlichste der drei Männer, die im Kundenzentrum von
Hauptstadt-Autos saßen und um die Wette qualmten. Hinter
ihrem Rauchschleier war an der Wand ein Plakat zu erkennen,
das die Kundeneinschätzung der Firma verriet:
Bewertung der Kundenzufriedenheit:90%
Leistungsbewertung: 97%
Bewertung der gebührenden Ausdrucksweise:98%
Bewertung der Diensteinstellung:99%
»Das funktioniert vielleicht in Amerika, aber nicht hier«, fuhr
Herr Wang fort. »In China würden die Leute das Auto leergefahren
zurückgeben.«
»Dann verlangen Sie einen Zuschlag fürs Auftanken«, erklärte
ich. »Machen Sie das zur Regel. Wer sie nicht befolgt,
zahlt einen Zuschlag. Dann werden die Leute es kapieren.«
»Chinesen würden das niemals tun!«
»Bestimmt würden sie es tun«, sagte ich.
»Sie verstehen die Chinesen nicht«, meinte Herr Wang
lachend, und die anderen nickten zustimmend. Als Ausländer
hatte ich das oft zu hören bekommen, und damit war die
Diskussion beendet. Die Chinesen hatten den Kompass, das
Papier, die Druckerpresse, das Schießpulver, den Seismographen,
die Armbrust und den Regenschirm erfunden; im
15. Jahrhundert waren sie bis nach Afrika gesegelt; sie hatten
die Große Mauer errichtet; in den letzten zehn Jahren hatten
sie ihre Wirtschaft in einem Tempo ausgebaut, das man in
den entwickelten Ländern noch nicht erlebt hatte. Sie waren
in der Lage, einen Mietwagen mit genau drei Achteln einer
Tankfüllung zurückzugeben,aber denTank vollzumachen überstieg
offenbar ihre kulturellen Möglichkeiten.Wir haben noch
öfter darüber gesprochen, aber irgendwann ließ ich das Thema
fallen. Mit einem so freundlichen Menschen wie Herrn Wang
konnte man nicht streiten.
Besonders gutgelaunt wirkte er immer, wenn ich einen
frisch beschädigten Wagen zurückgab. In den Staaten hatte ich
nie einen Unfall gehabt,aber Peking war etwas anderes.Als ich
zum ersten Mal in der Hauptstadt war und herumlief, fiel mir
das grobe körperliche Verhalten der Fußgänger auf - dauernd
wurde ich angerempelt. In einer Stadt mit dreizehn Millionen
Einwohnern lernt man, mit solchen Kontakten zu rechnen,
und als ich meinen Führerschein hatte, erkannte ich, dass es
mit dem Autofahren nicht anders ist. Die ersten Male, als ich
einen Jetta mit Beulen zurückbrachte, fühlte ich mich schrecklich;
nach dem vierten oder fünften Mal hatte ich mich daran
gewöhnt. Ich fuhr andere Autos an, andere Autos fuhren mich
an.Wenn es eine Beule gab,regelten wir das auf der Straße, so
wie es alle in China machen.
Einmal fuhr mir jemand in der nähe des Lamatempels in
der Pekinger Innenstadt in meinen Mietwagen. Ich stieg aus,
um den Schaden zu besichtigen; der andere Fahrer sagte, statt
sich vorzustellen, sofort: »Hundert Yuan.« Das entsprach ungefähr
zwölf Dollar und war allgemein der Ausgangspunkt für
eine mittlere Pekinger Beule. Als ich Herrn Wang dieses An-
gebot telefonisch übermittelte, war seine umgehende Antwort:
»Verlangen Sie zweihundert.« Ich verhandelte ungefähr fünf
Minuten, bis der andere Fahrer sich schließlich bereit erklärte,
150 zu zahlen. Herr Wang war zufrieden; er wusste, dass man
nie genau das bekommt, was man verlangt hat. Und jeder Unfall
hatte etwas Positives - Beulen waren ein gutes Geschäft. Diese
Geschäfte werden ohne Papierkram abgewickelt, und ich hatte
den Verdacht, dass die Männer am Schalter bei Hauptstadt-
Autos das Geld zuweilen in die eigene Tasche steckten.
Ein andermal war ich nördlich von Peking auf dem Lande
unterwegs, als ich einen Hund überfuhr. Das Tier flitzte hinter
einem Haus hervor und stürzte auf meinen Jetta zu; ich wich
aus, aber es war zu spät. So etwas passierte häufig, weil die
Hunde genau wie Menschen in China an Autos noch nicht
gewöhnt waren. Als ich den Wagen zurückgab, schien Herr
Wang befriedigt zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kunststoffabdeckung
des rechten Blinklichts kaputt war. Er fragte mich,
was ich erwischt hatte.
»Einen Hund«, sagte ich.
»Gou mei wenti?«, sagte er. »Der Hund hat wohl nichts abbekommen,
oder?«
»Doch, er hat was abbekommen«, antwortete ich. »Er ist tot.«
Das Lächeln von Herrn Wang verstärkte sich. »Haben Sie
ihn gegessen?«
»So ein Hund war es nicht«, sagte ich. »Es war einer von
diesen winzigen Hündchen.«
»Manchmal erwischt ein Fahrer einen Hund«, erklärte Herr
Wang. »Dann wirft er ihn in den Kofferraum, fährt nach Hause
und brät ihn.« Ich konnte nicht erkennen, ob er einen Witz
machte. Er besaß selbst einen Hund, aber das heißt in China
nicht unbedingt, dass man sich in seiner Ernährung entsprechende
Einschränkungen auferlegt. Für die Blinklichtabdeckung
berechnete er mir zwölf Dollar - genauso viel wie
für eine Beule mittlerer Größe.
Ich wurde nie gefragt, wo ich mit dem Jeep hinfuhr. Der
Mietvertrag enthielt ein ausdrückliches Verbot, die Region
Peking zu verlassen, aber ich beschloss, mich darüber hinwegzusetzen
- wie weit ich gefahren war, würden sie erst bei der
Rückgabe anhand des Kilometerzählers merken. Wenn man
in China lebt, kommt man nicht umhin, Vorschriften zu ignorieren,
und es gehört zu den Grundwahrheiten, dass Verzeihen
leichter fällt als Erlauben. Der Jeep war das größte Fahrzeug,
ein Cherokee 7250, und sie machten mir einen Sonderpreis
von dreißig Dollar pro Tag.Er war weiß,mit roten Verzierungen
an den Seiten, und die Türen zierten die englischen Worte
»City Special«. Der name war treffend, denn in rauem Gelände
taugte das Ding nichts, weil es nur Hinterradantrieb hatte.
Ich war mir sicher, dass ich irgendwann auf meiner Reise in
Schlamm, Sand oder Schnee steckenbleiben würde, aber es
war sinnlos, sich jetzt darüber Sorgen zu machen, denn etwas
Besseres hatte Hauptstadt-Autos nicht zu bieten.Auf jeden Fall
konnte ich, wenn ich im Westen in Schwierigkeiten geraten
sollte, jederzeit Herrn Zhang, den Fengshui-Meister, anrufen.
Auf seiner Visitenkarte bot er als Dienstleistung nr. 22 »Autos
und Lastwagen abschleppen« an, aufgeführt zwischen »Gebeine
abholen« und »Hörner und Trommeln spielen«.
***
nachWesten zu war die Straßestetig angestiegen,und jetzt hatte
ich im norden der Provinz Shanxi eine Höhe von über 1200
Metern erreicht.Aus der dürren staubigen Landschaft erhoben
sich niedrige braune Kuppen, durchzogen von wasserlosen
Bachbetten, die sich in ihre Flanken eingegraben hatten. Es
war, als sei den Bergen jeglicher Glanz genommen worden, als
sei die Farbe von den Hängen gespült worden und habe sich in
den Feldern gesammelt, wo die Bauern dabei waren, Süßhafer
zu ernten. nur diese Täler zeigten lebhafte Farben: das tiefe
Grün der Feldfrüchte, den dunklen Schimmer der Bewässerungskanäle
und das leuchtende Blau der Baumwolljacken, die
von älteren Chinesen auf dem Lande noch immer häufig getragen
wurden. Die Landschaft war jedoch von einer schlichten
Schönheit, und zum ersten Mal empfand ich sie als offen - eine
Vorahnung der großen Steppen Zentralasiens.
Im Talgrund erhoben sich allenthalben die Überreste von
Meldetürmen. Sie bestanden aus gestampfter Erde, in derselben
staubigbraunen Farbe wie die Hügel, und sie waren über
sechs Meter hoch. Manche Dörfer waren gänzlich von alten
Verteidigungsanlagen umringt. nach norden zu waren es nur
rund dreißig Kilometer bis zur Inneren Mongolei, und die Provinzgrenze
war auf meiner Karte durch ein vertrautes Symbol markiert:
Beim letzten Dorf vor der Grenze hielt ich an. Der Ort hieß
ninglu Bu - in dieser Region tragen viele Ortsnamen den Zusatz
bu, der »Festung« bedeutet, weil sich dort ehemals Garnisonen
der Ming-Dynastie befanden. In ninglu erhob sich mitten im
Ort eine alte Festung, und das Dorf war umgeben von Erd-
wällen. Diese Befestigungen überragten völlig die schlichten
Häuser der heute gerade mal 120 Bewohner.
Wenn ich in Dörfern mit alten Ruinen haltmachte, fragte
ich oft, ob jemand deren Geschichte kenne. In ninglu ging eine
Gruppe älterer Männer auf dem Dorfplatz sofort darauf ein.
»Sprechen Sie mit dem Alten Chen«, sagte einer, und ein anderer
schlurfte davon, um ihn zu holen. Fünf Minuten später
kreuzte Chen Zhen auf. Er war 53 Jahre alt, hatte ein sonnengegerbtes
Gesicht und kurzgeschnittene graue Haare. Er trug eine
dunkle Polizistenhose, ein grünes Hemd mit den Goldknöpfen
der Volksbefreiungsarmee und eine blaue Uniformjacke mit
Epauletten auf den Schultern und Ärmelstreifen. Auf dem
Lande tragen Männer oft überzählige Armee-und Polizeiuniformen,
weil die billigen Kleidungsstücke praktisch sind.
Meistens passen die Teile nicht zusammen, und sie sind zu
groß - dem Alten Chen hingen die Ärmel bis zu den Fingerspitzen.
Es schien, als habe er die Kluft geerbt, so wie ninglu
seine Erdwälle geerbt hatte - das Ganze, von den schlabbrigen
Jacken bis zu den zerbröckelnden Befestigungen, hätte zu den
Hinterlassenschaften einer geschlagenen Armee gehören können,
die alles preisgegeben hatte und nach Süden geflohen war.
Er stand stocksteif da, während ich mich vorstellte. Ich
erklärte, ich sei aus Peking gekommen und interessiere mich
für die Große Mauer, und fragte ihn dann, ob er etwas über die
Geschichte des Dorfes wisse. Der Alte Chen hörte aufmerksam
zu und räusperte sich. »Kommen Sie mit«, sagte er, »ich habe
Informationen.«
Er führte mich zu einer Gruppe von Häusern mit Lehmwänden
und ließ mich in das größte davon eintreten. Der Raum
wurde fast gänzlich von einem kang
ausgefüllt, dem in nordchina
gebräuchlichen Ofenbett,das imWinter von unten durch
die heiße Abluft einer Feuerstelle beheizt wird. Aber noch
hatten wir Herbst, und der Alte Chen sparte sein Brennholz auf.
Im Raum war es kalt.Chen schenkte mir eine Schale Tee ein,an
der ich mir die Hände wärmte. Dann trat er an einen Schrank
und holte aus einer Schublade einen Band aus dünnem Reispapier
hervor, den er mir stolz überreichte. Auf dem Vorderdeckel
prangte ein handgeschriebener Titel:
Die Annalen von ninglu Bu
Untersuchung erstellt am 22. Januar 1992
Auf Seite 1 stand in der sorgfältigen Handschrift des Alten
Chen: »Der Stadtwall wurde im 22. Jahr des Kaisers Jiajing
(1543) errichtet und im ersten Jahr des Kaisers Wanli (1573) mit
gebrannten Ziegeln umhüllt.« Ich durchblätterte das Buch -
Dutzende von Seiten, Hunderte von Daten. Es gab Karten: Eine
Seite mit der Überschrift »Große Mauer« zeigte kreuz und quer
verlaufende breite blaue Striche und Kreise.
»In dieser Gegend gibt es dreiunddreißig Meldetürme«, sagte
der Alte Chen und deutete auf die Kreise. »Die sind von den
Ming. Die Ming-Mauer verläuft entlang der Grenze zur Inneren
Mongolei. Es gibt in dieser Gegend aber noch andere Mauern
von anderen Dynastien.«
Er zog eine andere Schublade auf, entnahm ihr eine graue
Tonscherbe und reichte sie mir. In meiner Handfläche fühlte
sich der gehärtete Ton kühl an. »Was glauben Sie, aus welcher
Dynastie sie ist?«, fragte er.
Als ich ihm gestand, dass ich keine Ahnung hätte, wirkte
er enttäuscht. »Falls Sie noch einmal wiederkommen, könnten
Sie einen Archäologen mitbringen«, sagte er. »Ich weiß, wo man
eine Menge von diesenTöpferwaren findet,aber ich weiß nicht,
aus welcher Dynastie sie sind.« Schatzsucher, erklärte er, hätten
in der Gegend unbeschädigte Töpferwaren und bronzene
Artefakte gefunden. »Die guten wurden alle verkauft«, sagte er.
»niemand unterbindet das.«
Forschen war sein Hobby - er war Bauer und hatte früher
als Parteisekretär gedient, auf dem höchsten Posten der Kommunistischen
Partei im Dorf. Jetzt war er Rentner, aber er bestellte
immer noch 0,8 ha Land, und zwar mit Kartoffeln.
Er besaß fünf Schafe. Sein Jahreseinkommen betrug rund
200 Dollar, und er war nur sechs Jahre zur Schule gegangen,
aber in Geschichte hatte er sich gebildet, so gut er konnte. Seit
dem Ruhestand hatte er oft das 24 Kilometer entfernte Bezirksarchiv
von Zuoyun aufgesucht. Dort stöberte er Informationen
über die örtlichen Befestigungen auf, und auf Fahrten durch
den Bezirk versuchte er, vorgefundene Ruinen den historischen
Beschreibungen zuzuordnen. Er hatte auch die betagten Einwohner
von ninglu befragt, von denen einige sich noch an den
Krieg gegen die Japaner erinnerten, als man Ziegel aus der
Garnisonsmauer der Ming-Zeit entnommen und zum Hausbau
verwendet hatte. Ich fragte ihn, warum er diese Mühe auf sich
genommen hatte. »Weil es sonst niemand machte«, sagte er.
März 2011
BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin
© 2009 Peter Hessler
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Country Driving.A Journey by Car from Farm to Factory
bei Harper Collins, new York
Für die deutsche Ausgabe
© 2009 BV Berlin Verlag GmbH,Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Fotografie des Autors
Druck und Bindung: Clays Ltd, St Ives Plc
Printed in Great Britain
ISBn 978-3-8333-0174-0
www.berlinverlage.de
223. Wenn Sie an eine überflutete Straße kommen, sollten
Sie
a) beschleunigen, damit der Motor nicht absäuft.
b) anhalten,prüfen,ob dasWasser nicht zu tief ist,und
langsam hindurchfahren.
c) einen Fußgänger suchen und ihn bitten, Ihnen
vorauszugehen.
282. Wenn Sie an einen Bahnübergang kommen, sollten
Sie
a) beschleunigen und ihn überqueren.
b) nur dann beschleunigen, wenn Sie sehen, dass ein
Zug sich nähert.
c) bremsen und sich vergewissern, ob es ungefährlich
ist, bevor Sie ihn überqueren.
Chinesische Führerscheinbewerber mussten sich einer ärztlichen
Untersuchung unterziehen, die schriftliche Prüfung ablegen,
an einem technischen Kurs teilnehmen und dann eine
zweitägige Fahrprüfung absolvieren. Es gab daneben jedoch
die abgespeckteVersion für Leute,die bereits eineausländische
Zulassung besaßen. Ich legte die Ausländerprüfung an einem
grauen, schwülen Vormittag ab, der Himmel hing tief über der
Stadt wie ein Schleier aus feuchter Seide. Der Prüfer war in
den Vierzigern, und er trug weiße baumwollene Autofahrerhandschuhe,
die Finger waren gelb von Zigaretten der Marke
»Roter Pagodenberg«. Kaum saß ich im Auto, steckte er sich
eine an. Es war ein Volkswagen Santana, der beliebteste Personenwagen
des Landes. Als ich das Lenkrad anfasste, waren
meine Hände schlüpfrig von Schweiß.
»LassenSie denWagen an«,sagte der Prüfer,und ich drehte
den Schlüssel um. »Fahren Sie los.«
Ein ganzer Straßenzug war ausdrücklich für Fahrprüfungen
abgesperrt. Es war, als warte ein ganzes Viertel darauf, dass
das Leben beginnt: Kein anderes Auto war zu sehen, keine
Fahrräder, keine Menschen; nicht ein einziger Laden oder
provisorischer Stand säumte den Gehsteig. Keine Dreiräder,
hochbeladen mit Waren,keine Flachbettkarren mit tuckernden
Zweitaktmotoren,keine Taxis,die auf der Jagd nach Fahrgästen
wie Fische umherflitzten. niemand bog ab, ohne zu blinken,
niemand trat, ohne sich umzuschauen, vom Bürgersteig auf die
Straße. noch nie hatte ich eine so friedliche Straße in Peking
gesehen, und in den Jahren danach wünschte ich manchmal,
ich hätte Zeit gehabt, es zu genießen. Aber ich hatte gerade
fünfzig Meter zurückgelegt, als der Prüfer sich wieder meldete.
»Fahren Sie an die Seite«, sagte er. »Sie können den Motor
ausmachen.«
Der Prüfer füllte mit schwungvoller Schrift Formulare aus.
Seine Zigarette war gerade mal zu einem Viertel abgebrannt.
Eines der letzten Dinge, die er mir sagte, war: »Sie sind ein sehr
guter Fahrer.«
Der Führerschein wurde unter meinem chinesischen namen
Ho Wei eingetragen. Er war gültig für sechs Jahre, und
zum Schutz vor Fälschern war er mit einem Hologramm versehen,
das einen Mann zeigte, der auf einem alten Pferdewagen
steht. Die Gestalt trug wallende Gewänder und deutete mit
einem erhobenen Arm in die Ferne. Im Verlauf jenes Jahres
brach ich zu einer Fahrt quer durch China auf.
***
Als ich mit meiner Reiseplanung begann, empfahl mir ein Pekinger
Fahrer Das Kartenbuch des chinesischen Autofahrers. Das
Buch war erschienen bei einer Firma namens Sinomaps,die das
Land in 158 Diagramme aufgeteilt hatte. Es enthielt sogar eine
Straßenkarte von Taiwan,die aus politischen Gründen in jedem
Atlas des Festlandes enthalten sein musste, auch wenn niemand,
der Sinomaps benutzte, jemals nach Taipei fahren wird.
noch unwahrscheinlicher war,dass ein chinesischer Autofahrer
auf die Spratly-Inseln geraten wird,mitten im Südchinesischen
Meer, ein Territorium, das sich zur Zeit fünf Länder streitig
machen. Die Spratlys haben keine zivilen Bewohner, aber die
Chinesen sind von ihrem Anspruch überzeugt, und deshalb
enthielt das Kartenbuch des Autofahrers eigens eine Seite mit der
Inselkette. Das war die einzige Karte ohne Straßen.
Das Studium des Buches weckte in mir den Wunsch, nach
Westen zu fahren. Die Karten des Ostens und des Südens
machten einen betriebsamen Eindruck - zahllose Städte und
ein endloses Gewirr von Straßen. Seit dem Beginn von »Reform
und Öffnung«, der von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Periode
marktwirtschaftlicher Veränderungen, hatten die Küstenregionen
sich am stärksten entwickelt. Das ganze Land bewegt
sich in diese Richtung: Zur Zeit meiner Reise hatten bereits
an die hundert Millionen Menschen die Bauernhöfe verlassen,
überwiegend in Richtung Südosten, und der gleichmäßige
Gang des Landlebens wich stetig der Hast der Fabrikstädte.
Im norden und Westen gab es dagegen noch ausgedehnte Gebiete
mit landwirtschaftlicher nutzung, und die Karten dieser
Regionen vermittelten ein Gefühl von Weite, das mich reizte.
Es gab weniger Straßen und Städte. Manchmal war die halbe
Seite mit Punkten besprenkelt, dem Zeichen für Wüste. Und
die Karten im Westen umfassten mehr Raum - im nördlichen
Tibet stand eine einzige Seite für ein Fünftel der Landmasse
Chinas. Im Buch schien sie die gleiche Größe zu haben wie
Taiwan. Auf keiner der Seiten war der Maßstab vermerkt. Hin
und wieder gaben winzige Zahlen die Entfernung zwischen
Städten in Kilometern an, aber ansonsten war man auf seine
Vermutungen angewiesen.
Außerdem waren die meisten Straßen nicht gekennzeichnet.
Schnellstraßen erschienen als dicke blaurote Arterien,
während die nationalstraßen rote Venen waren, die zwischen
den größeren Städten verliefen. Provinzstraßen trugen ein
schwächeres Rot, und Kreis- und Ortsstraßen waren noch kleiner
- winzige Kapillaren, die sich durch abgelegene Gebiete
zogen. Die Idee, diesen kleinen roten Straßen zu folgen, gefiel
mir, aber keine einzige hatte einen namen. Die Seite für die
Region Peking zeigte sieben Schnellstraßen, zehn Autobahnen
und über hundert kleinere Straßen, aber nur die Autobahnen
waren nummeriert. Ich fragte den Pekinger Fahrer nach den
Kapillaren.
»Solchen Straßen gibt man keine namen«, sagte er.
»Woher weiß man dann, wo man ist?«
»Manchmal gibt es Schilder, auf denen der name der nächsten
Stadt steht«, sagte er. »Wo es kein Schild gibt, können Sie
anhalten und jemanden fragen, wie Sie dorthin kommen, wo
Sie hinwollen.«
Die Führerscheinprüfung streifte auch dieses Problem:
352. Wenn ein anderer Fahrer Sie anhält und nach dem
Weg fragt, sollten Sie
a) ihm nicht helfen.
b) geduldig und zutreffend antworten.
c) ihm einen falschen Weg nennen.
Tausende von namenlosen Straßen durchzogen die Sinomaps,
und es war unmöglich, eine klare Route in den Westen zu
finden. nicht so verwirrend war dagegen ein anders Symbol:
. Diese Markierung tauchte an der nordostküste
auf, bei der Stadt Shanhaiguan, und verlief von dort westwärts
durch die Provinz Hebei. Sie setzte sich fort in die Provinzen
Shanxi und Shaanxi und dann in die Innere Mongolei. Sogar
in den Wüsten von ningxia und Gansu, wo die Sandpunkte
so dicht standen wie Sterne, durchbrachen die feinen Linien
von die Galaxie. Das war ein Teil einer Sinomaps-
Karte, der leicht zu verstehen war - schon als Junge hätte ich
erkannt, dass es sich um die Große Mauer handelt. In meiner
ganzen Kindheit dachte ich, wenn ich eine Karte von China
betrachtete: Stell dir vor, du würdest einer Mauer folgen, die
sich durch ein ganzes Land zieht!
Irgendwann hatten die Chinesen sogar erwogen, die Große
Mauer in eine Straße umzuwandeln. In den zwanziger Jahren
richteten chinesische Intellektuelle ihren Blick auf die Vereinigten
Staaten, wo das Automobil bereits die Landschaft
veränderte. Chinesische Stadtplaner, von denen einige in den
Staaten studiert hatten, forderten die Städte auf, ihre alten
Stadtmauern niederzureißen und das Material für den Bau
von Ringstraßen zu verwenden, die für den Autoverkehr geeignet
waren. Bis 1931 hatte sich über zwei Dutzend Städte für
diesen Weg entschieden,darunter die im Süden gelegene Stadt
Kanton, die über 800 Jahre alte Bauwerke abriss. Unweigerlich
richteten die Modernisierer ihre Aufmerksamkeit auf die Große
Mauer selbst. Die Shanghaier Zeitung Shenbao brachte 1923
einen Artikel von Lei Sheng unter dem Titel »nutzung von Abfallmaterial
für den Bau einer Straße auf der Großen Mauer«.
Der Verfasser unterstützte einen Vorschlag der Regierung, das
Bauwerk zu erneuern, und sprach von einer »sehr guten Gele-
genheit«:»Die Große Mauer verläuft von Shanhaiguan nachYumenguan;
sie ist eine durchgehende, gerade Linie, die sich über
Tausende von li erstreckt. Würde man sie in eine Straße umwandeln,
entstünde eine Verbindung zwischen Peking, Shanxi,
Shaanxi und Gansu, die den Handel erleichtern würde ...« Die
Diskussion über die Idee zog sich hin. 1931 sprach sich das
einflussreiche Students' Magazine dafür aus und bemerkte, dass
bei den vielen Steinen in der Mauer »kein großes Kapital nötig
sein wird, und im Ergebnis schließen wir eine große Lücke der
Verkehrsinfrastruktur, die von Osten nach Westen, vom Ozean
ins Innere verläuft ...«
Dieser Plan wurde nicht befolgt, sicherlich, weil die Regionen
der Großen Mauer so gebirgig und abgelegen sind.
Aber siebzig Jahre später fand ich als Fahrer Gefallen an der
Generalroute. Von Osten nach Westen, vom Ozean ins Innere
- eine solche Autoreise hatte ich in China schon immer
unternehmen wollen. Die Zinnenmuster in meinem Kartenbuch
symbolisierten die Mauer; an vielen Stellen sah ich
Straßen, die parallel zu ihr verliefen oder sie kreuzten, und
meistens waren es Straßen vom Kapillartyp,die zumTeil etliche
Kilometer an den Ruinen entlangführten. Die Große Mauer
konnte mich durch das kleinstädtische China geleiten; ich
konnte sie über die ganze Länge verfolgen bis an den Rand der
tibetischen Hochebene. nachdem ich den Gedanken einmal
gefasst hatte, wurde ich ihn nicht mehr los, obwohl Freunde
mich davor warnten,lange Strecken allein zu fahren.Aber auch
das war in der Prüfung schon behandelt worden:
347. Wenn ein anderer Fahrer mit guten Absichten Sie vor
etwas warnt, sollten Sie
a) aufgeschlossen sein und genau zuhören.
b) nicht zuhören.
c) zuhören, aber den Rat nicht beachten.
***
In Peking mietete ich mir einen Wagen und nahm Kurs auf
Shanhaiguan, eine Stadt an der Küste, wo die Große Mauer
auf die Bohai-See trifft.Von dort aus fuhr ich westwärts durch
die Provinz Hebei. Es war Herbst, und die meisten Feldfrüchte
waren schon geerntet; nur der Mais stand noch hoch auf
den Feldern. Alles andere lag auf der Straße ausgebreitet -
gesprenkelte Bahnen aus Erdnüssen, hier und da kleine Berge
aus Sonnenblumenkernen, leuchtend rote Chilis, fächerartig
verteilt. Die Bauern breiteten die Früchte sorgsam am Rand des
Asphalts aus, weil er die beste Fläche zum Trocknen und Sortieren
bot. Das ungedroschene Getreide schütteten sie mitten
auf die Straße, damit Autos darüberfuhren. Das war verboten -
nichts verstößt so offen sowohl gegen die Verkehrssicherheit
als auch gegen die Lebensmittelhygiene. Im ländlichen China
wird es dennoch weithin geduldet, denn das Dreschen ist am
einfachsten, wenn ein anderer die Arbeit übernimmt. Anfangs
fiel es mir jedoch schwer, über nahrung hinwegzufahren. An
meinem ersten Reisetag brachte ich den Wagen vor jedem
Haufen mit kreischenden Bremsen zum Stehen, kurbelte das
Fenster hinunter und fragte: »Darf ich da drüberfahren?« Die
Bauern riefen ungeduldig: »Los, los, los!« Und so fuhr ich
dann,wobei Hirse,Sorghum und Weizen unter meinen Rädern
knisterten.Am zweiten Tag fragte ich nicht mehr,am dritten Tag
lernte ich, beim Anblick von Getreide zu beschleunigen.
Wenn ich auf einen Haufen zufuhr, trat ich aufs Gas - krach!
knirsch! -, und im Rückspiegel sah ich dann, wie die Leute sich
mit Rechen und Besen auf die Straße stürzten. Das war mein
Anteil an der herbstlichen Arbeit - eine Durchfahr-Ernte.
Die Berge von Hebei sind steil, das Gestein liegt offen zutage,
und ich fuhr durch Dörfer mit felsigen namen: Ochsenherzberg,
Zweigipfeldorf, Berggeisttempel. Die Große Mauer
beschattete diese Kleinstädte mit ihren roten Ziegeldächern.
Die Befestigungen folgten gewöhnlich der Kammlinie, hoch
über den Feldern, und ich bekam sie auf der kurvenreichen
Fahrt durch die Berge immer wieder flüchtig zu sehen. Die
Ming-Dynastie hatte diese Bauten errichtet, überwiegend im
16. Jahrhundert, und sie hatte gute Arbeit geleistet, denn das
Steinfundament und die grauen Ziegelmauern schmiegten sich
noch immer fest an den Bergkamm. Manchmal tauchte die
Mauer in ein Tal hinab, und an diesen tiefen Stellen war das
Bauwerk so sauber abgeerntet worden wie die Felder. Die
Ziegelverblendung war völlig verschwunden; übriggeblieben
waren nur noch das Fundament und die Mauerfüllung aus
gestampfter Erde,durchdieWitterungpockennarbig geworden
und zerbröselnd. Diese nackte Mauer durchquerte die Talsenke
und kletterte wieder die Berge hinauf, bis schließlich von einer
bestimmten Höhe ab die Ziegelverblendung wieder auftauchte.
Auf beiden Seiten des Tales verlief die Grenze der Zerstörung
in gleicher Höhe, so als markiere sie den Höchststand einer
großen Sturzflut, die durch Hebei gebraust war. Diese Flut war
aber von Menschen gemacht,und der Wasserpegel war ein Maß
der Motivation. Er zeigte genau an, wie hoch die Menschen für
kostenlose Ziegel zu klettern bereit waren.
In dem Dorf Yingfang machte ich halt, um einen dieser
kahlen Abschnitte zu besichtigen, und auf dem Weg dorthin
gesellte sich ein Bauer namens Wang Guo'an zu mir. »Als ich
jung war, war sie in besserem Zustand«, sagte er. »Viel wurde
während der Kulturrevolution abgerissen.«
Er führte mich hinter sein Haus, wo alte Ziegel säuberlich
zu über einen Meter hohen Stapeln aufgeschichtet waren. »Die
sind von der Großen Mauer«, sagte er. »Man sieht es an dem
Mörtel - solch ein Mörtel wurde früher benutzt. Sie stammen
von einem großen Turm im Dorf.«
Als ich ihn fragte, ob die Dorfbewohner noch immer die
Befestigungen demontieren, schüttelte er den Kopf. »Das lässt
die hiesige Verwaltung nicht mehr zu«, sagte er. »Diese Ziegel
wurden vor vierzig Jahren beschafft und für den Bau eines
Hauses verwendet, das vor kurzem abgerissen wurde.Wir werden
jetzt etwas anderes daraus bauen.«
In diesen dichtbevölkerten Landschaften konnte alles zu irgendetwas
nutze sein. Hebei ist ungefähr so groß wie der Bundesstaat
Washington, aber die Bevölkerungszahl ist mehr als
elfmal so hoch - insgesamt 68 Millionen. In die Berge wurden
Ackerterrassen geschnitten, auf den Straßen werden Früchte
getrocknet, vorbeifahrende Autos dienen als Drescher. Ist eine
Mauer in der nähe, wird sie genutzt, bisweilen zweimal.
Körperlich gesunde Menschen führen nicht selten ein
Doppelleben; nachdem sie den Acker bestellt haben, gehen
sie in die großen Städte. Dort arbeiten sie im Hochbau oder im
Straßenbau oder am Fließband in einer Fabrik. Die höchste
Zahl von Jobs,die ich auf einer einzigen Visitenkarte aufgelistet
sah, war 27. Das war in der Provinz Shanxi, gleich hinter der
Grenze von Hebei, und ich lernte den Mann auf einer Beerdigung
kennen.
In diesem Teil Chinas haben selbst Beerdigungen etwas Geschäftiges
an sich, und überall im norden musste ich aus Rücksicht
auf Leichenprozessionen anhalten. Sie fanden auf der
Straße statt, so öffentlich wie das Dreschen, und gewöhnlich
wurde ich zum anschließenden Leichenschmaus eingeladen.
Es war möglich, quer durch Hebei und Shanxi von einer Beerdigung
zur nächsten zu fahren, und es gab sogar Leute, die
so lebten - eine endlose Autoreise, auf der jeder Halt gleichbedeutend
war mit der ultimativen Endstation eines anderen. In
der Stadt Xinrong lernte ich Wei Fu und seine Frau kennen, die
sich darauf spezialisiert hatten,bei Gedenkfeiern Stücke aus der
traditionellen Shanxi-Oper darzubieten. Sie fuhren einen alten
Pritschenwagen der Marke Beijing, dessen Ladefläche sie für
Aufführungen hergerichtet hatten. In Xinrong parkten sie auf
der Hauptstraße, zogen die Handbremse an, nahmen die Plane
ab, bauten ein Sonnendach auf und installierten zwei riesige
Peavey-Lautsprecher. In einer knappen halben Stunde war die
Bühne fertig, und auf der Straße versammelten sich Hunderte
von Zuschauern. Die Beerdigung war ein Ereignis von sieben
Tagen, und der besondere Aufwand erklärte sich damit, dass
dem Toten das größte Geschäft in Xinrong gehört hatte, das
Glücksquell-Kaufhaus. Die Familie hatte den Sarg des Mannes
direkt am Eingang aufstellen lassen, und selbst im Tod machte
er noch ein gutes Geschäft, weil die Menge von der Straße in
das Kaufhaus strömte, sich am Sarg vorbeidrängte und Snacks
kaufte, die sie verzehrte, während sie der Oper lauschte.
Am nächsten Tag stieß ich zu einer weiteren Beerdigung,
unmittelbar nach der Grablegung. Es war auf dem Lande, auf
einer weiten Ebene, deren Wahrzeichen ein hoher Meldeturm
der Großen Mauer war. Es gab keine größeren Städte in der
nähe - in China, wo das Gesetz für die meisten Bürger die Einäscherung
vorschreibt, sind Beerdigungen nur in abgelegenen
ländlichen Regionen erlaubt. Unter dem Turm hatten sich
zwanzig Männer und Frauen versammelt, gekleidet in weißes
Sackleinen, das in der Taille durch ein rotes Seil zusammengehalten
wurde. In der Ferne verkündete ein riesiges Schild
eine staatliche Propagandaparole: »Wer den Ackerboden
schützt, der schützt unsere Lebensgrundlagen«.
Ich wurde von dem einzigen Anwesenden begrüßt, der
nicht das weiße Trauergewand trug. Er war 69 Jahre alt und
rundlich, und er trug einen blauen Anzug und eine Mütze.
Sein rundes Mondgesicht glänzte vor Schweiß. Er zeigte das
breiteste Lächeln, das ich seit der Beerdigung vom Vortag gesehen
hatte, als ich mit Wei Fu, dem Leiter der Operntruppe,
geplaudert hatte. Bei einer chinesischen Beerdigung gibt es
immer mindestens einen, der fröhlich ist.
»Kommen Sie her, kommen Sie her!«, sagte der rundliche
Mann und zog mich am Arm. »Wir sind fast fertig!«
Er überreichte mir eine laminierte Visitenkarte. Die Vorderseite
zeigte zwei einander umfassende Hände von Geschäftsleuten
und dazu die Worte:
Zhang Baolong
Fengshui-Meister
Dienste für die gesamte Länge des Drachens,
von Anfang bis Ende
Fengshui-Meister befassten sich von jeher damit,dasVerhältnis
zwischen Bauten und Landschaft zu bewerten, um Harmonie
zwischen dem natürlichen und dem Menschengemachten
herzustellen. Die Auffassungen dieser Schule hatten einst
großen Einfluss auf militärische und politische Dinge gehabt.
Die Ming-Dynastie hatte es zum Beispiel vermieden, einen
dreißig Kilometer langen Bergrücken nordwestlich von Peking
wegen der nähe zu den kaiserlichen Gräbern mit der Großen
Mauer zu bebauen. Strategisch eignete er sich hervorragend für
Verteidigungsanlagen, aber Fengshui-Meister hielten ihn für
eine longmai, eine »Drachenader«. Ein die Ader verletzendes
Bauwerk konnte den Ming Unglück bringen, und daher ließ
man den Bergkamm in Ruhe. Der Kaiser machte sich die Mühe,
weiter nördlich Mauern zu errichten, wo das Gelände nicht so
leicht zu verteidigen war und stärkere Befestigungen verlangte.
Als die Kommunisten 1949 an die Macht kamen, griffen sie
viele kulturelle Traditionen als abergläubisch an, darunter die
Religion, die Wahrsagerei und die Fengshui-Analyse. Auch
nachdem die Reformen von Deng Xiaoping zu größerer Toleranz
geführt hatten, kamen manche Gebräuche nicht mehr auf
die Beine; der Taoismus zum Beispiel findet im heutigen China
wenig Anhänger. Der Glaube an Fengshui hat sich jedoch als
unverwüstlich erwiesen, hauptsächlich wegen des Zusammenhangs
mit Geschäften. Gutes Fengshui kann Glück bedeuten,
und für eine fachkundige Analyse ist man auch bereit, etwas
springen zu lassen. Zhang Baolong war einer der neuen Meister
- mit der Marktwirtschaft konnte er ebenso geschickt umgehen
wie mit der Geographie. Seine Visitenkarte führte 27 verschiedene
Dienste an, von der »Auswahl des Ehegatten« bis zur
»Wahl der Grabstätte« - dies stand für die »gesamte Länge des
Drachens«. Zu seinem Angebot gehörte ferner das Einsetzen
von Holzbalken für Häuser, die Bestimmung des Standorts für
ein Bergwerk und die Behandlung »ungewöhnlicher Krankheiten
«. Er baute Särge. (»Das Holz müssen Sie selbst liefern.«)
Er half bei der Beschaffung von Hochzeitslimousinen. Bei der
Dienstleistung nr. 21 auf seiner Karte ging es darum, Gebeine
umzubetten, eine nicht ungewöhnliche Aufgabe in einem Land,
das einen Bauboom erlebt.
»Diesen Platz habe ich ausgewählt!«, sagte der Mann stolz
und deutete auf den Fleck mit der frisch ausgehobenen Erde.
Vor dem Grab machten die Trauernden der Reihe nach ihren
Kotau: Sie knieten nieder, verbrannten ein Bündel Totengeld
und stießen, während sie mit dem Kopf auf den Boden schlugen,
Klagelaute aus. An meiner Gegenwart schien niemand
Anstoß zu nehmen. Im norden Chinas hatte ich die Erfahrung
gemacht, dass die Teilnehmer an Bestattungen sich durchweg
einladend verhalten, wohl auch, weil sie selten Ausländer sehen.
Dennoch dämpfte ich meine Stimme, um zu fragen: »Wer
wird denn begraben?«
Zhang Baolong schien meine Frage jedoch zu überhören;
er sprach noch immer über Fengshui. »Es ist ostwestlich ausgerichtet
«, fuhr er fort, auf das Grab deutend. »Mit dem Kopfende
im Westen und dem Fußende im Osten. Und der Baum,
den ich gepflanzt habe, ist eine Pappel. Für Männer pflanzen
wir Pappeln, für Frauen Weiden, damit die Seele weiß, wo das
Grab ist. Dieser spezielle Platz eignet sich aus vielen Gründen.
Die Lage des Meldeturms dort ist zum Beispiel sehr wichtig.
Dieser Platz ist gut, weil er hochgelegen ist, und der Bach
dort, der nach Osten fließt, führt Wasser. Und oberhalb steht
der Meldeturm, der das Grab beschützt. Wer hier begraben
liegt, wird viele begüterte nachfahren haben, die es im zivilen,
militärischen und wissenschaftlichen Bereich weit bringen
werden.«
Die Männer waren fertig mit ihrem Kotau, jetzt waren die
Frauen an der Reihe: Eine nach der anderen senkte ihren Kopf
zu Boden. Die Frauen jammerten lauter, und ihre Wehklagen
hallten über das ganze Tal.
»Mein Vater und mein Großvater waren beide Fengshui-
Meister«, fuhr Zhang fort. »Das ist Tradition in meiner Familie.
Und alle haben ein langes Leben. Mein Vater wurde fünfund-
neunzig, und meine Mutter war achtundneunzig, als sie starb.
Meine Großmutter wurde neunundneunzig!«
Die Totenklage wurde lauter. Ich fragte mich, ob es nicht
vielleicht eine bessere Gelegenheit gäbe, über Langlebigkeit
zu sprechen, aber Zhang redete unbeirrt weiter. »Ich habe drei
Söhne und drei Töchter«,sagte er.»Meine Söhne sind ebenfalls
Fengshui-Meister! Und eine meiner Töchter« - er strahlte, vielleicht
beim Gedanken an die Sicherheit in dieser Welt und der
nächsten - »ist Krankenschwester!«
***
Auf der Fahrt durch Hebei und Shanxi hatte ich ideales Wetter
- morgens war es frisch, und die Sonne warf ein klares Licht
auf die Terrassenfelder. Meistens wurde ich früh wach, aber ich
hatte keinen festen Plan. Ich versuchte, mich in Sichtweite der
Großen Mauer zu halten, und wann immer mich etwas interessierte,
machte ich halt. Ich fuhr einfach los und klärte die weitere
Route unterwegs; an manchen Tagen legte ich nur gut 300
Kilometer zurück. Auf dem Lande kommt man nur langsam
voran, weil immer wieder etwas dazwischenkommt - die Bauern
breiten das Getreide zum Dreschen auf der Straße aus, eine
Schafherde kreuzt die Fahrbahn, oder ein Leichenzug hält einen
auf.Auch die Straßen an sich waren völlig unvorhersehbar.
Ein schmaler roter Strich auf meiner Sinomaps-Karte konnte
sich als eine nagelneue Asphaltstraße entpuppen, aber genauso
gut konnte es sich um einen Feldweg oder gar um ein trockenes
Bachbett handeln. An vielen Stellen waren Ausbesserungsarbeiten
im Gange. Seit 1998 hatte die chinesische Regierung
viel in die ländlichen Straßen investiert, unter anderem als
Reaktion auf die asiatische Finanzkrise, und dieses Projekt war
noch im Gange, als ich meine Reise antrat.
Im modernen China war der Straßenbau des Öfteren das
Mittel der Wahl, um der Armut oder einer Krise zu begegnen.
Das erste große Programm zum Bau von Autostraßen begann
1920, als der ganze norden infolge einer Dürre von einer
schrecklichen Hungersnot heimgesucht wurde. Es war schwierig,
nahrung zu den Hungernden zu bringen, weil das noch aus
kaiserlicher Zeit stammende Straßennetz für Pferdegespanne
ausgelegt war. Das amerikanische Rote Kreuz unterstützte den
Bau moderner, für Lastwagen und Automobile geeigneter Straßen,
und im Oktober 1920 begannen die Bauarbeiten in der
Provinz Shandong. Zur Arbeit wurden die Bauern aus der Umgebung
herangezogen, von denen viele dem Verhungern nahe
gewesen waren; auf den neuen Straßen konnten die Lastwagen
mit nahrungsmitteln zu ihnen gelangen. Der amerikanische
Ingenieur Oliver J. Todd, der das Shandong-Projekt leitete,
schätzte, dass auf diese Weise eine halbe Million Menschen direkt
oder indirekt mit nahrung und Brennstoff versorgt wurde.
Das Straßenbauprogramm des Roten Kreuzes erstreckte
sich schließlich auf vier nördliche Provinzen, und es war so erfolgreich,
dass die chinesische Regierung Todd in ihre Dienste
berief. Er blieb achtzehn Jahre und leitete den Fernstraßenbau
im ganzen Land. Bei einem einzigen Projekt im Jahr 1928 standen
ihm 200000 Arbeiter zur Verfügung, mehr Leute, als damals
am Straßennetz der Vereinigten Staaten beschäftigt waren.
Die Zahl der Personenwagen in China blieb gering - 1922
gab es in Peking rund 1500 -, aber das Interesse war lebhaft. In
chinesischen Städten fanden Automobilausstellungen statt; die
Shanghaier Zeitung Shenbao
brachte wöchentlich eine »Automobil-
Beilage«. Im Jahr 1935 besaß China 80000 Kilometer
guter, nicht asphaltierter Straßen, und es war nur eine Frage
der Zeit, bis das Land einen Autoboom erleben würde.
Dieser Boom wurde dann allerdings um über ein halbes
Jahrhundert verschoben. Die japanische Invasion lähmte
den jungen Automarkt, und nachdem Mao an die Macht gekommen
war, machte das kommunistische Wirtschaftssystem
es den Menschen jahrzehntelang unmöglich, sich ein Auto
zu kaufen. Das ländliche Straßennetz stagnierte, und erst in
den Reformjahren konnte die Regierung diese Infrastruktur
in größerem Stil ausbauen. Den Anstoß gab, so wie einst die
Hungersnöte, die asiatische Finanzkrise, und wenn dabei auch
die Stützung der Konjunktur im Vordergrund stand, so sah
die Regierung doch zugleich eine Gelegenheit, den lange aufgeschobenen
Autoboom endlich in Schwung zu bringen. Die
Geschichte wiederholte sich. Dies war Chinas zweite Welle von
Autopionieren, und sie fingen praktisch von vorn an. Im Jahr
2001, als ich meinen Führerschein machte, hatte das Land über
1,2 Milliarden Einwohner, aber weniger als zehn Millionen
Personenwagen. Auf 128 Menschen kam ein Fahrzeug - das
entsprach dem Stand der Vereinigten Staaten im Jahr 1911.
Für meine Reise mietete ich bei einer Pekinger Firma namens
»Hauptstadt-Autos« einen in China gebauten Jeep Cherokee.
Es war eine junge Branche - noch fünf Jahre zuvor wäre
kaum jemand auf die Idee gekommen, sich für einen Wochenendausflug
ein Auto zu mieten. Inzwischen hatte sich das Geschäft
jedoch entwickelt, und meine örtliche niederlassung von
Hauptstadt-Autos verfügte über eine Flotte von rund fünfzig
Fahrzeugen, überwiegend Volkswagen Santanas und Jettas, die
in China gebaut wurden. Es waren kleine Limousinen, die auf
demselben Basismodell beruhten wie der VW Fox, der früher
in den USA verkauft wurde. Bei Hauptstadt-Autos mietete ich
für Wochenendausflüge oft einen Jetta, und dabei lief ein kompliziertes
Ritual ab. Erst füllte ich einen Berg von Papieren aus
und zahlte meine 25 Dollar pro Tag. Dann öffnete der Chefmechaniker
den Kofferraum, um zu beweisen, dass ein Ersatzreifen
und ein Wagenheber an Bord waren. Schließlich wurde
der Jetta von außen besichtigt, und eventuelle Dellen und
Kratzer wurden in einer Umrissskizze des Wagens festgehalten.
Das nahm oft eine ganze Weile in Anspruch - im Pekinger Verkehr
geht es unsanft zu, und es oblag mir, jeden Kratzer an der
Tür und jede Delle in der Stoßstange einzuzeichnen. nachdem
der bereits vorhandene Schaden dokumentiert war, schaltete
der Mechaniker die Zündung ein und zeigte mir die Tankuhr.
Mal war der Tank zur Hälfte, mal nur zu einem Viertel gefüllt.
Gelegentlich schaute er genau hin und verkündete: »Drei Achtel.
« Meine Pflicht war es, den Wagen mit genau derselben
Tankfüllung zurückzugeben. Von Woche zu Woche stimmte es
nie genau, und eines Tages beschloss ich, etwas für die junge
Branche zu tun.
»Wissen Sie«, sagte ich, »Sie sollten alle Wagen nur mit vollemTankvermietenundvomKundenverlangen,
dasser ihnvoll
zurückgibt. So machen das die Autovermietungen in Amerika.
Es ist viel einfacher.«
»Das würde hier nie funktionieren«, sagte Herr Wang, der
gewöhnlich den Papierkram für mich erledigte. Er war der
freundlichste der drei Männer, die im Kundenzentrum von
Hauptstadt-Autos saßen und um die Wette qualmten. Hinter
ihrem Rauchschleier war an der Wand ein Plakat zu erkennen,
das die Kundeneinschätzung der Firma verriet:
Bewertung der Kundenzufriedenheit:90%
Leistungsbewertung: 97%
Bewertung der gebührenden Ausdrucksweise:98%
Bewertung der Diensteinstellung:99%
»Das funktioniert vielleicht in Amerika, aber nicht hier«, fuhr
Herr Wang fort. »In China würden die Leute das Auto leergefahren
zurückgeben.«
»Dann verlangen Sie einen Zuschlag fürs Auftanken«, erklärte
ich. »Machen Sie das zur Regel. Wer sie nicht befolgt,
zahlt einen Zuschlag. Dann werden die Leute es kapieren.«
»Chinesen würden das niemals tun!«
»Bestimmt würden sie es tun«, sagte ich.
»Sie verstehen die Chinesen nicht«, meinte Herr Wang
lachend, und die anderen nickten zustimmend. Als Ausländer
hatte ich das oft zu hören bekommen, und damit war die
Diskussion beendet. Die Chinesen hatten den Kompass, das
Papier, die Druckerpresse, das Schießpulver, den Seismographen,
die Armbrust und den Regenschirm erfunden; im
15. Jahrhundert waren sie bis nach Afrika gesegelt; sie hatten
die Große Mauer errichtet; in den letzten zehn Jahren hatten
sie ihre Wirtschaft in einem Tempo ausgebaut, das man in
den entwickelten Ländern noch nicht erlebt hatte. Sie waren
in der Lage, einen Mietwagen mit genau drei Achteln einer
Tankfüllung zurückzugeben,aber denTank vollzumachen überstieg
offenbar ihre kulturellen Möglichkeiten.Wir haben noch
öfter darüber gesprochen, aber irgendwann ließ ich das Thema
fallen. Mit einem so freundlichen Menschen wie Herrn Wang
konnte man nicht streiten.
Besonders gutgelaunt wirkte er immer, wenn ich einen
frisch beschädigten Wagen zurückgab. In den Staaten hatte ich
nie einen Unfall gehabt,aber Peking war etwas anderes.Als ich
zum ersten Mal in der Hauptstadt war und herumlief, fiel mir
das grobe körperliche Verhalten der Fußgänger auf - dauernd
wurde ich angerempelt. In einer Stadt mit dreizehn Millionen
Einwohnern lernt man, mit solchen Kontakten zu rechnen,
und als ich meinen Führerschein hatte, erkannte ich, dass es
mit dem Autofahren nicht anders ist. Die ersten Male, als ich
einen Jetta mit Beulen zurückbrachte, fühlte ich mich schrecklich;
nach dem vierten oder fünften Mal hatte ich mich daran
gewöhnt. Ich fuhr andere Autos an, andere Autos fuhren mich
an.Wenn es eine Beule gab,regelten wir das auf der Straße, so
wie es alle in China machen.
Einmal fuhr mir jemand in der nähe des Lamatempels in
der Pekinger Innenstadt in meinen Mietwagen. Ich stieg aus,
um den Schaden zu besichtigen; der andere Fahrer sagte, statt
sich vorzustellen, sofort: »Hundert Yuan.« Das entsprach ungefähr
zwölf Dollar und war allgemein der Ausgangspunkt für
eine mittlere Pekinger Beule. Als ich Herrn Wang dieses An-
gebot telefonisch übermittelte, war seine umgehende Antwort:
»Verlangen Sie zweihundert.« Ich verhandelte ungefähr fünf
Minuten, bis der andere Fahrer sich schließlich bereit erklärte,
150 zu zahlen. Herr Wang war zufrieden; er wusste, dass man
nie genau das bekommt, was man verlangt hat. Und jeder Unfall
hatte etwas Positives - Beulen waren ein gutes Geschäft. Diese
Geschäfte werden ohne Papierkram abgewickelt, und ich hatte
den Verdacht, dass die Männer am Schalter bei Hauptstadt-
Autos das Geld zuweilen in die eigene Tasche steckten.
Ein andermal war ich nördlich von Peking auf dem Lande
unterwegs, als ich einen Hund überfuhr. Das Tier flitzte hinter
einem Haus hervor und stürzte auf meinen Jetta zu; ich wich
aus, aber es war zu spät. So etwas passierte häufig, weil die
Hunde genau wie Menschen in China an Autos noch nicht
gewöhnt waren. Als ich den Wagen zurückgab, schien Herr
Wang befriedigt zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kunststoffabdeckung
des rechten Blinklichts kaputt war. Er fragte mich,
was ich erwischt hatte.
»Einen Hund«, sagte ich.
»Gou mei wenti?«, sagte er. »Der Hund hat wohl nichts abbekommen,
oder?«
»Doch, er hat was abbekommen«, antwortete ich. »Er ist tot.«
Das Lächeln von Herrn Wang verstärkte sich. »Haben Sie
ihn gegessen?«
»So ein Hund war es nicht«, sagte ich. »Es war einer von
diesen winzigen Hündchen.«
»Manchmal erwischt ein Fahrer einen Hund«, erklärte Herr
Wang. »Dann wirft er ihn in den Kofferraum, fährt nach Hause
und brät ihn.« Ich konnte nicht erkennen, ob er einen Witz
machte. Er besaß selbst einen Hund, aber das heißt in China
nicht unbedingt, dass man sich in seiner Ernährung entsprechende
Einschränkungen auferlegt. Für die Blinklichtabdeckung
berechnete er mir zwölf Dollar - genauso viel wie
für eine Beule mittlerer Größe.
Ich wurde nie gefragt, wo ich mit dem Jeep hinfuhr. Der
Mietvertrag enthielt ein ausdrückliches Verbot, die Region
Peking zu verlassen, aber ich beschloss, mich darüber hinwegzusetzen
- wie weit ich gefahren war, würden sie erst bei der
Rückgabe anhand des Kilometerzählers merken. Wenn man
in China lebt, kommt man nicht umhin, Vorschriften zu ignorieren,
und es gehört zu den Grundwahrheiten, dass Verzeihen
leichter fällt als Erlauben. Der Jeep war das größte Fahrzeug,
ein Cherokee 7250, und sie machten mir einen Sonderpreis
von dreißig Dollar pro Tag.Er war weiß,mit roten Verzierungen
an den Seiten, und die Türen zierten die englischen Worte
»City Special«. Der name war treffend, denn in rauem Gelände
taugte das Ding nichts, weil es nur Hinterradantrieb hatte.
Ich war mir sicher, dass ich irgendwann auf meiner Reise in
Schlamm, Sand oder Schnee steckenbleiben würde, aber es
war sinnlos, sich jetzt darüber Sorgen zu machen, denn etwas
Besseres hatte Hauptstadt-Autos nicht zu bieten.Auf jeden Fall
konnte ich, wenn ich im Westen in Schwierigkeiten geraten
sollte, jederzeit Herrn Zhang, den Fengshui-Meister, anrufen.
Auf seiner Visitenkarte bot er als Dienstleistung nr. 22 »Autos
und Lastwagen abschleppen« an, aufgeführt zwischen »Gebeine
abholen« und »Hörner und Trommeln spielen«.
***
nachWesten zu war die Straßestetig angestiegen,und jetzt hatte
ich im norden der Provinz Shanxi eine Höhe von über 1200
Metern erreicht.Aus der dürren staubigen Landschaft erhoben
sich niedrige braune Kuppen, durchzogen von wasserlosen
Bachbetten, die sich in ihre Flanken eingegraben hatten. Es
war, als sei den Bergen jeglicher Glanz genommen worden, als
sei die Farbe von den Hängen gespült worden und habe sich in
den Feldern gesammelt, wo die Bauern dabei waren, Süßhafer
zu ernten. nur diese Täler zeigten lebhafte Farben: das tiefe
Grün der Feldfrüchte, den dunklen Schimmer der Bewässerungskanäle
und das leuchtende Blau der Baumwolljacken, die
von älteren Chinesen auf dem Lande noch immer häufig getragen
wurden. Die Landschaft war jedoch von einer schlichten
Schönheit, und zum ersten Mal empfand ich sie als offen - eine
Vorahnung der großen Steppen Zentralasiens.
Im Talgrund erhoben sich allenthalben die Überreste von
Meldetürmen. Sie bestanden aus gestampfter Erde, in derselben
staubigbraunen Farbe wie die Hügel, und sie waren über
sechs Meter hoch. Manche Dörfer waren gänzlich von alten
Verteidigungsanlagen umringt. nach norden zu waren es nur
rund dreißig Kilometer bis zur Inneren Mongolei, und die Provinzgrenze
war auf meiner Karte durch ein vertrautes Symbol markiert:
Beim letzten Dorf vor der Grenze hielt ich an. Der Ort hieß
ninglu Bu - in dieser Region tragen viele Ortsnamen den Zusatz
bu, der »Festung« bedeutet, weil sich dort ehemals Garnisonen
der Ming-Dynastie befanden. In ninglu erhob sich mitten im
Ort eine alte Festung, und das Dorf war umgeben von Erd-
wällen. Diese Befestigungen überragten völlig die schlichten
Häuser der heute gerade mal 120 Bewohner.
Wenn ich in Dörfern mit alten Ruinen haltmachte, fragte
ich oft, ob jemand deren Geschichte kenne. In ninglu ging eine
Gruppe älterer Männer auf dem Dorfplatz sofort darauf ein.
»Sprechen Sie mit dem Alten Chen«, sagte einer, und ein anderer
schlurfte davon, um ihn zu holen. Fünf Minuten später
kreuzte Chen Zhen auf. Er war 53 Jahre alt, hatte ein sonnengegerbtes
Gesicht und kurzgeschnittene graue Haare. Er trug eine
dunkle Polizistenhose, ein grünes Hemd mit den Goldknöpfen
der Volksbefreiungsarmee und eine blaue Uniformjacke mit
Epauletten auf den Schultern und Ärmelstreifen. Auf dem
Lande tragen Männer oft überzählige Armee-und Polizeiuniformen,
weil die billigen Kleidungsstücke praktisch sind.
Meistens passen die Teile nicht zusammen, und sie sind zu
groß - dem Alten Chen hingen die Ärmel bis zu den Fingerspitzen.
Es schien, als habe er die Kluft geerbt, so wie ninglu
seine Erdwälle geerbt hatte - das Ganze, von den schlabbrigen
Jacken bis zu den zerbröckelnden Befestigungen, hätte zu den
Hinterlassenschaften einer geschlagenen Armee gehören können,
die alles preisgegeben hatte und nach Süden geflohen war.
Er stand stocksteif da, während ich mich vorstellte. Ich
erklärte, ich sei aus Peking gekommen und interessiere mich
für die Große Mauer, und fragte ihn dann, ob er etwas über die
Geschichte des Dorfes wisse. Der Alte Chen hörte aufmerksam
zu und räusperte sich. »Kommen Sie mit«, sagte er, »ich habe
Informationen.«
Er führte mich zu einer Gruppe von Häusern mit Lehmwänden
und ließ mich in das größte davon eintreten. Der Raum
wurde fast gänzlich von einem kang
ausgefüllt, dem in nordchina
gebräuchlichen Ofenbett,das imWinter von unten durch
die heiße Abluft einer Feuerstelle beheizt wird. Aber noch
hatten wir Herbst, und der Alte Chen sparte sein Brennholz auf.
Im Raum war es kalt.Chen schenkte mir eine Schale Tee ein,an
der ich mir die Hände wärmte. Dann trat er an einen Schrank
und holte aus einer Schublade einen Band aus dünnem Reispapier
hervor, den er mir stolz überreichte. Auf dem Vorderdeckel
prangte ein handgeschriebener Titel:
Die Annalen von ninglu Bu
Untersuchung erstellt am 22. Januar 1992
Auf Seite 1 stand in der sorgfältigen Handschrift des Alten
Chen: »Der Stadtwall wurde im 22. Jahr des Kaisers Jiajing
(1543) errichtet und im ersten Jahr des Kaisers Wanli (1573) mit
gebrannten Ziegeln umhüllt.« Ich durchblätterte das Buch -
Dutzende von Seiten, Hunderte von Daten. Es gab Karten: Eine
Seite mit der Überschrift »Große Mauer« zeigte kreuz und quer
verlaufende breite blaue Striche und Kreise.
»In dieser Gegend gibt es dreiunddreißig Meldetürme«, sagte
der Alte Chen und deutete auf die Kreise. »Die sind von den
Ming. Die Ming-Mauer verläuft entlang der Grenze zur Inneren
Mongolei. Es gibt in dieser Gegend aber noch andere Mauern
von anderen Dynastien.«
Er zog eine andere Schublade auf, entnahm ihr eine graue
Tonscherbe und reichte sie mir. In meiner Handfläche fühlte
sich der gehärtete Ton kühl an. »Was glauben Sie, aus welcher
Dynastie sie ist?«, fragte er.
Als ich ihm gestand, dass ich keine Ahnung hätte, wirkte
er enttäuscht. »Falls Sie noch einmal wiederkommen, könnten
Sie einen Archäologen mitbringen«, sagte er. »Ich weiß, wo man
eine Menge von diesenTöpferwaren findet,aber ich weiß nicht,
aus welcher Dynastie sie sind.« Schatzsucher, erklärte er, hätten
in der Gegend unbeschädigte Töpferwaren und bronzene
Artefakte gefunden. »Die guten wurden alle verkauft«, sagte er.
»niemand unterbindet das.«
Forschen war sein Hobby - er war Bauer und hatte früher
als Parteisekretär gedient, auf dem höchsten Posten der Kommunistischen
Partei im Dorf. Jetzt war er Rentner, aber er bestellte
immer noch 0,8 ha Land, und zwar mit Kartoffeln.
Er besaß fünf Schafe. Sein Jahreseinkommen betrug rund
200 Dollar, und er war nur sechs Jahre zur Schule gegangen,
aber in Geschichte hatte er sich gebildet, so gut er konnte. Seit
dem Ruhestand hatte er oft das 24 Kilometer entfernte Bezirksarchiv
von Zuoyun aufgesucht. Dort stöberte er Informationen
über die örtlichen Befestigungen auf, und auf Fahrten durch
den Bezirk versuchte er, vorgefundene Ruinen den historischen
Beschreibungen zuzuordnen. Er hatte auch die betagten Einwohner
von ninglu befragt, von denen einige sich noch an den
Krieg gegen die Japaner erinnerten, als man Ziegel aus der
Garnisonsmauer der Ming-Zeit entnommen und zum Hausbau
verwendet hatte. Ich fragte ihn, warum er diese Mühe auf sich
genommen hatte. »Weil es sonst niemand machte«, sagte er.
März 2011
BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin
© 2009 Peter Hessler
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Country Driving.A Journey by Car from Farm to Factory
bei Harper Collins, new York
Für die deutsche Ausgabe
© 2009 BV Berlin Verlag GmbH,Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Fotografie des Autors
Druck und Bindung: Clays Ltd, St Ives Plc
Printed in Great Britain
ISBn 978-3-8333-0174-0
www.berlinverlage.de
... weniger
Autoren-Porträt von Peter Hessler
Peter Hessler, geb. 1969 in Pittsburgh, USA, unterrichtete Englisch in China und lernte selbst den Mandarin-Dialekt. Aus den Erfahrungen in dieser Zeit entstand sein erstes, preisgekröntes Buch. Anschließend war Hessler von 1999-2007 der erste Peking-Korrespondent der Zeitschrift The New Yorker und veröffentlichte zudem Reiseberichte in verschiedenen Zeitungen, u. a. in der New York Times und der Washington Post.Friedrich Griese, geboren 1940, lebt in Michelstadt im Odenwald . Vor allem mit Sachbüchern aus dem Polnischen, Französischen und Italienischen hat er sich einen Namen gemacht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Hessler
- 2011, 555 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Griese, Friedrich
- Übersetzer: Friedrich Griese
- Verlag: Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN-10: 3833307145
- ISBN-13: 9783833307140
Rezension zu „Hessler, P: Über Land “
"Kurzweilig und sehr witzig. Peter Hesslers Buch besticht durch Sachkenntnis und Humor."Neue Zürcher Zeitung"Eine amüsante Reisebeschreibung über China, wie es wirklich aussieht."Süddeutsche Zeitung
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