Hildegards Lied
Hildegards Lied von Petra Welzel
LESEPROBE
Die alte Frau war vor ihre Hütte am Waldrand getreten undlauschte in die Nacht. Irgendetwas lag in der Luft. Und plötzlich wusste sie,was sie vom Lager hatte hochfahren lassen: Es war die Stille, das Fehlen dervertrauten Nachtgeräusche. Da raschelte nichts im Unterholz, kein Nachtvogelschrie, die Wipfel der Bäume standen regungslos, hoben sich starr wie einScherenschnitt gegen den Nachthimmel ab. Es war, als hielte die Schöpfunggespannt den Atem an.
Die Alte legte den Kopf in den Nacken, wandte ihr runzliges Gesichtden Sternen zu. Sie bemerkte es sofort: Mars war in das Haus der Venusgetreten. Sie verstand es, die Zeichen zu lesen. Etwas ganz Außergewöhnlichesstand bevor. Als sich plötzlich eine Schleiereule lautlos aus dem Geäst eineruralten Eiche abstieß und ihren Gesichtskreis von rechts nach links passierte,wusste sie, dass man sie noch heute Nacht brauchen würde.
Entschlossen trat sie zurück in ihre Hütte und atmete den betörendenDuft, den die zahllosen, kopfüber an der Decke baumelnden Kräutersträußeverströmten. Sie entzündete ein Wachslicht und wandte sich den rohenRegalbrettern zu, die die Wand gegenüber Herd und Lager vom Boden bis zumniedrigen Strohdach bedeckten. Dicht an dicht reihten sich dort Krüge, Töpfe,Tiegel und Körbe merkwürdigsten Inhalts. Umsichtig wählte sie dies und jenesaus und verstaute es in einem wollenen Tragsack. Dann schürte sie das Feuer imHerd, erhitzte Wasser in einem Kessel und warf, als es sprudelnd kochte,einige metallische Instrumente hinein. Sorgfältig breitete sie ein reines Leinentuchüber den Tisch, fischte mit einem Holzlöffel die abgekochten Instrumentewieder aus dem Topf und wickelte sie in das Tuch.
Die Alte hielt jedes Mal die genaue Reihenfolge dieser Prozedurein, fast, als ob sie ein magisches Ritual ausübe. Sie wusste nicht genau, wiees wirkte, sie wusste nur, dass es half. Von ihr entbundene Frauen hatten eineweit höhere Überlebenschance, als bei vielen anderen, teils selbst ernanntenHeilern, teils ausgebildeten Ärzten. Die Alte konnte weder lesen nochschreiben, aber vielleicht hielt sie gerade deshalb Wissen in Ehren, das ihr vonGenerationen heilkundiger Frauen mündlich überliefert worden war.
Außerdem, da Satan, der listige Versucher, als von Staub undSchmutz besudelte Schlange zu Eva gekrochen war, um das Böse in die Welt zubringen, erschien es der Alten nur selbstverständlich, dass bei ihrerTätigkeit derlei Anhaftungen peinlich vermieden werden mussten. Sie war davonüberzeugt, dass es die ungesunde Luft stickiger Zimmer, das faule Stroh derLager, der Schmutz an Leibern und Gerät war, was das teuflische Fieber insWochenbett kriechen ließ und es für so viele Frauen und ihre Neugeborenen zurTotenbahre machte. Das Böse war in der Welt, gehörte dazu. Aber man konnte sichdagegen wappnen, wenn man die Zeichen zu deuten wusste. Darauf verstand sie sich.
So gerüstet trat sie erneut in die Nacht, stand einfach da,sammelte sich. Doch die Spannung wollte nicht von ihr abfallen. Der volle,unverschleierte Mond schien sie bedeutungsvoll, wie das magische Auge dergroßen Allmutter, anzuschauen. Sie fühlte sich dem Göttlichen nah, ganzhingegeben, ganz Werkzeug. Da klang unterhalb, vom Dorf her kommend, eiligerHufschlag auf.
Sie rührte sich nicht. Doch noch bevor der Reiter den finsterenHohlweg verlassen hatte, wusste sie, wer da zu ihr heraufkam. Ein so schnellesPferd hatte in der Gegend nur einer:
Hiltebert von Bermersheim, Edelfreier und Herr über die paarhundert Seelen des gleichnamigen Dorfes. Dass er selbst kam und nicht einen derHörigen geschickt hatte, erstaunte sie nicht. Längst war ihr klar, dass indieser Nacht Besonderes eintreten würde.
Der Reiter kam über die Lichtung zügig auf sie zu. An einem Seilführte er eine ungesattelte Eselin mit sich. Seine Kleidung unterschied sichdeutlich von den schlicht gewirkten Kitteln der Bauern. Sie war schmucklos,aber für die Verhältnisse kostbar. Die Füße steckten in ledernen Stiefeln undauch das Wams, das die breite Brust überspannte, war aus allerfeinstem, weichemHirschleder gefertigt. Als einzige Waffe steckte ein langes Jagdmesser mitkunstvoll geschnitztem Horngriff im Gürtel.
Hiltebert hatte die vierzig bereits überschritten. Noch niewar das der Alten so ins Auge gefallen wie heute. Vielleicht lag es an seinenvon Nervosität zeugenden fahrigen Bewegungen, mit denen er sein Pferd zur Hüttehin lenkte, vielleicht auch an dem Schweiß, der sein ganzes Gesicht bedeckte.Die Anstrengung eines schnellen Ritts hatte seine sonst so stolzen Zügeverzerrt. Tief gruben sich die Falten in sein Antlitz.
Erst dicht vor der Alten zügelte er sein Pferd. Mitgerunzelten Brauen sah Hiltebert auf das Kräuterweib hinab.
»Du wusstest bereits, dass ich kommen würde, Rike?«, richteteer, mehr feststellend als fragend das Wort an sie.
Die Alte hatte das leise Grauen in seinen Augen wohl bemerktund wich dem Blick aus, indem sie sich demütig verneigte. Sie wusste, dass siein dem Ruf stand, über allerlei übernatürliche Gaben zu verfügen. Manch einermunkelte sogar, dass sie mit dem Fürsten der Finsternis und seinen DämonenUmgang pflege. Ein gefährlicher Ruf. Ihresgleichen war bereits aus weit geringeremAnlass der Garaus gemacht worden. Aber noch brauchten die Menschen der Gegendsie, wenn Priester und Gebet nicht helfen konnten. Das Kommen des edlen Herrenzeugte davon. Doch das Eis, auf dem sie sich bewegte, war dünn. (...)
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2005
- Autor: Petra Welzel
- 2005, 443 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810523488
- ISBN-13: 9783810523488
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