Hinterhältig
Hinterhältig von Roderick Anscombe
LESEPROBE
Mir graute vor dem Traum. Ich lag wach neben meiner Frau, und jedes Mal, wenn ich merkte, dass ich einnickte, riss ich mich wieder aus dem Schlaf. Es war nicht einmal ein richtiger Traum, eher eine Erinnerung, die sich meiner bemächtigte, immer wieder dieselbe Szene.
Der Traum beginnt langsam, mit einem vagen Unbehagen. Abby und ich sind mit Adrian im Auto unterwegs. Allmählich, wie ein immer schrilleres Pfeifen, verstärkt sich das Gefühl der Beklemmung. Sobald ich begreife, was gleich geschehen wird, nimmt die Angst schnell überhand, sehr schnell sogar. Wir fahren auf die Ampel zu. Das Gefühl wird unerträglich nicht einfach Angst, sondern Todesangst vor etwas, das ich nicht verhindern kann.
Manchmal schreie ich an diesem Punkt auf und werde davon wach, doch in dieser Nacht nicht.
Es ist fast schon erleichternd, wenn die reale Gefahr schließlich auftaucht eine Schrecksekunde kurz vor dem Moment des Aufpralls, als der Pick-up bei Rot über die Kreuzung fährt.
Der Traum hält sich nicht auf mit benommener Verwirrung, Schmerz, durch Blut behinderte Sicht, Helfern, die auf den demolierten Wagen zugelaufen kommen und panisch versuchen, uns zu befreien. Er kommt direkt zur Sache. Abby auf dem Beifahrersitz dreht sich zu mir um. Mein Gehirn arbeitet effizient und professionell, registriert die Blässe ihrer Haut und den Schweißschimmer auf ihrer Stirn als Anzeichen des drohenden Schocks aufgrund innerer Blutungen. Aber sie ist eingeklemmt durch das zerbeulte Metall, das soeben noch die Beifahrertür war. Sie fragt nach Adrian. Ich kann meinen Kopf nicht drehen, um nach ihm zu schauen. Mit furchtbarer Traumhellsicht weiß ich bereits von dem Horror auf dem Rücksitz, wo unser zweijähriger Sohn in seinem Kindersitz angeschnallt ist.
Ich stehe draußen neben dem Auto. Ich muss Adrians Verletzungen vor Abby verbergen. Sie streckt die Arme aus, um mir den Jungen abzunehmen, aber ich tue so, als würde ich ihn knuddeln und wiegen, um ihn zu beruhigen, als wäre er noch am Leben. Ich zeige ihr, wie meine Finger den blonden Haarwirbel an seinem Hinterkopf nachzeichnen.
Ich saß kerzengerade im Bett. Abby schüttelte mich an den Schultern. Sagte mir, ich solle aufwachen.
»Was ist passiert?«, fragte ich, benommen vor Entsetzen. »Du hast geträumt«, meinte Abby. »Und geschrien.« »Tut mir leid.«
Als ich mir mit der Hand übers Gesicht fuhr, spürte ich, dass es tränennass war. Adrian war vor einem Jahr ums Leben gekommen, aber es kam mir vor, als wäre es erst gestern passiert.
Abby streichelte mir den Rücken, und das Grauen ließ ein wenig nach.
»Versuch zu schlafen«, sagte sie.
Wir legten uns wieder hin, die Arme umeinander geschlungen, aber es half nicht, und nach einigen Minuten
ließen wir uns auseinanderrollen. Ihr Kummer und meiner ergaben zusammen so etwas wie eine kreischende Rückkopplung, wie wenn man ein Mikro zu nahe an die Lautsprecher rückt. Manche Paare täuschen Orgasmen vor. Wir täuschten Schlaf vor. Wir lagen dicht beieinander und versuchten, mit der Regelmäßigkeit tief Schlafender zu atmen, während unsere Gehirne sich mit den Erinnerungen an Adrian herumschlugen, um schließlich bei der zermürbenden Gewissheit zu landen, dass er nicht mehr da war.
Als an jenem Morgen der Anruf kam, war ich schon seit einigen Stunden auf.
Ich mag es nicht, wenn man mich zu Hause anruft. Einer der Vorzüge meines Berufs als forensischer Psychiater besteht darin, dass meine Patienten sicher weggesperrt sind und keinen Schaden anrichten können. Nicht dass man mich nicht stören dürfte. Ich arbeite viel. Manchmal, wenn ich nach Hause komme, hat Abby es längst aufgegeben, auf mich zu warten, und liegt bereits mit einem Buch im Bett. Ich stürze mich in meine Arbeit, angezogen von den Extremen der menschlichen Erfahrung, die ich am Sanders Institute untersuche. Aber die rohen Gefühle lasse ich dort. Vielleicht, weil es mir gelingt, die beiden Welten zu trennen, stelle ich nur selten einen Zusammenhang her zwischen den Gewaltverbrechen meiner Patienten und dem Unfall, bei dem mein Sohn ums Leben gekommen ist.
Ich kann die Konfrontation mit der Barbarei nur ertragen, weil ich sie dort zurückzulassen vermag. Ich kann fast alles aushalten herzzerreißenden Kummer, manische Raserei, Berichte über Greueltaten, die mich an der Menschheit zweifeln lassen , aber am Ende des Tages möchte ich die Gewissheit haben, dass all dies jenseits der schweren Stahltüren, die krachend hinter mir ins Schloss fallen, sicher verwahrt ist. Mir wird mulmig, wenn es durch die Telefonleitung in mein Zuhause sickert.
Ich hatte den Leuten im Institut mitgeteilt, dass ich Papierkram zu erledigen hätte und erst spät zur Arbeit erscheinen würde. Ich stand gerade in der Küche an der Spüle, füllte den Wasserbehälter der Kaffeemaschine auf und sah durchs Fenster zu, wie sich die Wellen an den Felsen brachen, die unser Grundstück vom Atlantik trennen. Nur jemand aus dem Sanders würde mich morgens um sieben anrufen, und so ließ ich das Telefon eine Weile klingeln, während ich mit mir rang, ob ich es nicht einfach ignorieren sollte. Dann hörte ich über mir das Klappern der Duschtür und das Klatschen nackter Füße auf dem
Boden.
»Ich geh schon dran!«, rief ich.
Aber kaum hatte ich den Hörer in der Hand, sagte mir ein Klicken, dass Abby ebenfalls abgenommen hatte. Die Person am anderen Ende sprach bereits. Abby sagte nichts. Nicht gewohnt, Larry Shapiro am heimischen Apparat zu haben, erkannte ich seine Stimme nicht gleich. »Sie haben doch eine betriebliche Altersversorgung, stimmt's, Paul?«, fragte er.
»Natürlich«, erwiderte ich.
Es kam mir ein bisschen merkwürdig vor, dass sich mein Chef um diese Uhrzeit nach meiner Pension erkundigte. Ich war einundvierzig und ging davon aus, dass mein
Rentnerdasein noch in ziemlich weiter Ferne lag. In all den Jahren, die ich schon für ihn arbeitete, hatte er sich noch nie um mein Wohlergehen besorgt gezeigt. Mir ging durch den Kopf, ob er mir wohl mitteilen wollte, dass er beabsichtige, mir zu kündigen.
»Bei wem haben Sie sie abgeschlossen?«, wollte er wissen.
Ein leises Klicken, als Abby auflegte, dann das Rumpeln der Glasschiebetür, als sie wieder unter die Dusche stieg. »Bei Cavanaugh, glaube ich.«
»Genau!«, rief Larry aus.
Larry ist Leiter der psychiatrischen Abteilung am New England Methodist Hospital und Professor an der medizinischen Fakultät von Harvard. Normalerweise führt er keine geschäftlichen Telefonate vor Arbeitsbeginn. Das ist nicht sein Stil. Früh aufstehen, ohne Mittagessen bis in den späten Abend durcharbeiten solcher Ehrgeiz riecht zu sehr nach einem Materialismus, der Larrys Sechzigerjahre-Überzeugungen widerstrebt. Der Pferdeschwanz ist zwar mittlerweile ab, das pechschwarze Haar weist graue Strähnen auf, und die braune Cordjacke mit den ledernen Ellbogenflicken hat er schon vor langer Zeit der Heilsarmee gespendet. Er hat sich sogar abgewöhnt, alle Leute zu duzen. Seine leutselige, unkonventionelle Art könnte einen zu der Annahme verleiten, er sei einfach irgendwie an die Spitze der medizinischen Fakultät gespült worden und hätte sich die Position nicht durch eine Mischung aus geschickt gewählten Forschungsthemen, Ellbogeneinsatz und schlichtweg guter, harter Arbeit erobert.
© Verlag DroemerKnaur
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
- Autor: Roderick Anscombe
- 2008, 411 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426638290
- ISBN-13: 9783426638293
- Erscheinungsdatum: 28.02.2008
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