Hit-Single
Nach "Judiths Universum" auf Spiegel online ist dies Judith Lieres erster Roman.
Hit-Single vonJudith Liere
LESEPROBE
Wenn Rio Reiser Recht hat, muss ichjetzt nur noch knapp neun Wochen warten, bis alles wieder gut ist. Dann sind diezweitausend Stunden Trinken, Rauchen, Fluchen und Beten vorbei, bye-bye, Junimond. Aber wie ich das noch neun Wochenüberleben soll, ist mir ein Rätsel. Rio Reiser ist ja selber nicht wirklich altgeworden. Todesursache: innere Blutungen. Wein ich so weitermache, ereilt michdas sicher auch noch. Und im Abendblatt steht dann: «Hamburg. Die26-jährige Studentin Cornelia Brandt wurde gestern Morgen tot in ihrerWohngemeinschaft im Schanzenviertel aufgefunden. Siestarb an starken inneren Blutungen, verursacht durch ein gebrochenes Herz.»
Das würde Tim dann lesen, und dannwürde es ihm Leid tun. Aber dann wäre es zu spät. Und wir hätten beide nichtsmehr davon. Hm. Sterben ist also auch keine Lösung.
Die letzte Woche war schlimm. Dieersten Tage bin ich ziellos durch die Stadt gelaufen, alles erschien vollkommensinnlos ohne Tim. Jede Straße, jede Ecke ist verbunden mit einer gemeinsamenEpisode und führt mir schmerzlich vor Augen, dass er nicht mehr da ist. UndHamburg scheint mit mir zu weinen, Nieselregen ununterbrochen, vier Tage am Stück,und das im Juni. Alles versinkt in einer grauen Tristesse, die Menschen laufenmit gesenkten Köpfen umher, eine einzige große Trauergemeinde. Alleine laufeich über den Dom, Hamburgs Vergnügungspark, an Ständen mit Zuckerwatte undLebkuchenherzen und an Achterbahnen vorbei. An der Geisterbahn hängt einSchild: «Junger Mann zum Mitreisen gesucht». Ja, das Problem kenne ich auch, diesesSchild könnte ich mir an mein Herz hängen.
Schlimm ist es auch unten an derElbe, an der Strandperle. Wie oft saß ich mit Tim hier vor diesemkleinen Kiosk, die Füße im Sand vergraben, den Blick auf die großen Containerschiffeaus fernen, fremden Häfen, die immer ein bisschen Sehnsucht nach der weitenWelt wecken.
Irgendwann bin ich leer geweint undhabe alle Orte abgelaufen. Einen Tag lang sitze ich wie betäubt zu Hause undstarre vor mich hin, dann nehme ich mir Lauras Ermahnung zu Herzen und packemeine Kartons aus. Ich fahre sogar zu 1 KEA und kaufe mir ein Bett namensHAGALI. Ich finde, das klingt irgendwie fröhlich, nach Halligalliund besseren Zeiten. Mein - unser - altes Bett hat Tim.
Besser geht es mir durch Auspackenund Bettkaufen allerdings nicht. Ständig kommen Erinnerungsluftballons in mirhoch und bleiben mir im Hals stecken. Sogar der blöde IKEA-Hot-Dogschmeckt irgendwie nach Tim und gemeinsamem Teelichter- und Tagesdeckenkaufen.
Das neue Zimmer hilft auch nichtweiter. Meine Mitbewohner sind mir alle ein bisschen unheimlich. Laura läuftimmer noch mit ihrem strafenden «Selbst dran schuld, Fremdgeherin!»-Blick anmir vorbei, jedenfalls kommt es mir so vor. Außerdem ist sie sowieso die meisteZeit mit dem Ulf beschäftigt, der wohnt zwar nicht hier, ist aber trotzdemrund um die Uhr da. Ich dachte ja immer, dass Tim und ich ein schlimmesKlischeepärchen gewesen wären, aber Laura und der Ulf sind noch schlimmer alsmeine Eltern. Sie machen eigentlich nichts anderes, als den ganzen Tag zusammenTee zu trinken, fernzusehen oder zu kochen. Dabei tragen sie Freizeitkleidung,sprich: Jogginghosen. Diese Blöße hätte ich mir vor Tim nie gegeben. Er hatmich ein einziges Mal in Jogginghosen gesehen, und das war, als ich mir beimeinem ersten und letzten Versuch zu rollerbladen den Knöchel gebrochen hatteund keine andere Hose über den Gips passte.
Laura und der Ulf finden dasallerdings bequem. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch nochgleichzeitig das Bad benutzen, sie sitzt auf dem Klo und pinkelt, während er sichdie Zähne mit Zahnseide reinigt. Huah. Beim Gedanken daran bekomme ich eineGänsehaut. Ein bisschen Privatsphäre muss man doch auch als Paar voreinanderwahren, sonst verliert man ganz schnell den Respekt und redet sich irgendwannmit «Mutti» und «Vatti» an.
Vom Rest meiner WG habe ich bishernicht viel mitbekommen. Pekka, der in dem großenZimmer vorne wohnt, ist noch ein paar Tage in Finnland bei seiner Mutter. Und Claas,den Jurastudenten kurz vor dem Examen, kriege ich so gut wie nie zu Gesicht.Laura meint, er müsse zurzeit viel lernen, aber die süßlichen Rauchschwaden,die unter seiner Tür hindurch in den Flur ziehen, lassen eher auf eine etwas,hm, entspanntere Beschäftigung schließen.
Vielleicht sollte ich es aucheinfach mit Drogen versuchen. Mich wegknallen, um nicht mehr dauernd an Tim denkenzu müssen. Leider haben meine bisherigen Experimente nie den erwünschtenEffekt gehabt. Von meiner ersten Ecstasy-Pille mitsechzehn bekam ich entsetzliches Herzrasen; sicher doppelt so viele Beats per minute wie die Musik, die damals in dem Club lief. VomKiffen werde ich einfach nur müde und kriege Hunger. Koks kann ja kein Menschbezahlen. Und an LSD und anderes psychedelische Zeug habe ich mich gar nichterst rangewagt - zu abschreckend war das, was mir meine Freunde von ihrenTrips berichtet hatten. Wände, die sich auf einen zubewegen- tss, und das mit meiner Klaustrophobie, danke nein.
Da bleibe ich doch lieber bei meinembewährten Seelentröster: Rotwein und heißer Kakao. Immer ein Schluck abwechselnd.Hat den Vorteil, dass es kurzzeitig betäubt, und den fiesen Nachteil, dass ichspätestens nach vier Gläsern Wein furchtbar melancholisch und sentimentalwerde. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich in so einem Zustand das ersteMal zum Handy greifen werde, um Tim anzuflehen, er möge doch, bitte, bitte,zurückkommen. Bis jetzt konnte ich mir mein letztes bisschen Würde zum Glücknoch wahren - vorsichtshalber schalte ich das Handy immer aus, bevor ich die Flascheentkorke. Das funktioniert todsicher, denn betrunken kann ich mich an keineneinzigen Pincode erinnern.
Stattdessen habe ich sehr lange undsehr kummervolle E-Mails an Hannah geschrieben, die sich im Großen und Ganzendarum drehten, dass mein Leben ohne Sinn und Gehalt sei, ich mich nie wiederverlieben könne und mich überhaupt die ganze Welt um mich herum anekle. Vier Stückdavon habe ich gestern Nacht verfasst. Das war mir heute Morgen ziemlichunangenehm.
Hannah schreibt zurück: «Cobra-Baby, nur ganz kurz, sitze gerade in einem Internetcafeund hab nur zehn Minuten Onlinezeit. Tim ist ein Idiot, wenn er dich wegen soeiner Lappalie verlässt. Du solltest ihm keine Träne nachweinen. Komm docheinfach nach! Australien ist sooooo toll, das bringtdich bestimmt auf andere Gedanken. Muss jetzt los, Jean-Luc (total niedlicherFranzose, den ich gestern im Hostel kennen gelernthabe) wartet, er will mir zeigen, wie man auf dem Longboardsurft. ;-)! 1000 Küsse, Hannah. PS: Kopf hoch!»
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© RowohltVerlag
- Autor: Judith Liere
- 2006, 208 Seiten, Maße: 11,4 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499241919
- ISBN-13: 9783499241918
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