Höhenrausch
Fast 40 Jahre lang hat Jürgen Leinemann in Washington, Bonn und Berlin beobachtet, wie die Politiker von Generation zu Generation schicksalsärmer, farbloser und austauschbarer wurden. Je weniger sie vom Leben und durch die Geschichte geprägt sind, desto anfälliger erweisen sie sich für die Privilegien und die hektische Selbstgenügsamkeit des politischen Betriebes. Das Fernsehen verstärkt diese Tendenz, weil es eine Ersatzwirklichkeit bereitstellt, in der die Polit-Profis ihr Ego aufblähen und ihre faktische Ohnmacht verdrängen können. Realitätsverlust aber ist ein Sucht-Symptom, und Leinemann, der in der Sucht die spezifische Krankheit unseres Zeitalters erkennt, macht deutlich, dass für den Großteil unserer Volksvertreter der Beruf zur Droge geworden ist. Ob Macht, Erfolg, Arbeit, Alkohol, öffentlicher Applaus - an Auslösern für Höhenrausch besteht kein Mangel. Ist diese fatale Anfälligkeit dem Zeitgeist geschuldet, oder ist sie ein Risiko, das jeder eingeht, der Politik als Beruf betreibt?
Jürgen Leinemann hat die prägenden politischen Figuren erlebt, er hat an ihnen und mit ihnen gelitten und lässt sie in seinen Schilderungen lebendig werden - ein
Höhenrausch von Jürgen Leinemann
LESEPROBE
Todeskuss
Der Mann im Publikum fühlte sich sichtlich fehl am Platz. Gierigblickte er auf die Bühne, während er wortlos zwischen den Sportlern undChorsängerinnen des sächsischen Städtchens Grimma wartete, vielleicht einbisschen formeller gewandet in seinem dunklen Nadelstreifenanzug, aber nicht wenigeraufgeregt. Denn da oben auf dem provisorischen Podest am Ufer der Mulde standendie Großen des Landes - der Bundeskanzler und der Ministerpräsident. Auf diezielten die Kameras, vor denen waren die Mikrofone aufgebaut, zu ihnen blicktendie Leute auf. Nichts wünschte der Mann in der Menge in diesem Augenblick mehr,als mit den Wichtigen zusammen gesehen zu werden, seinen Namen erinnertesowieso noch jeder: Kurt Biedenkopf. In Wahrheit zählte er sich natürlich nochimmer dazu. Sechzehn Monate war es jetzt her, dass der kleine Professor seinAmt in der Dresdener Staatskanzlei an Georg Milbradt abgegeben hatte. Offiziellhoch gepriesen, war er im April 2002 als Ministerpräsident zurückgetreten,tatsächlich aber hatten ihn seine Parteifreunde nach kleinkrämerischen Affären undgroßmannssüchtigem Gehabe in Schande davongejagt. Denn der CDU-Chef Biedenkopfund seine Frau Ingrid hatten etwas zu feudal und selbstherrlich regiert. EinMinister spottete: »Biedenkopfs öffentliche Auftritte besitzen eine fastreligiöse Dimension.« Jetzt liefen die Kabelträger und Fotografenachtlos an ihm vorbei. Es war der 13. August 2003, vor fast genau einem Jahrhatte das Hochwasser hier eine Hängebrücke schwer beschädigt und die Stadtüberflutet. Damals versprach ein entschlossener Gerhard Schröder, dem imWahlkampf selbst das Wasser bis zum Hals stand, unbürokratische rasche Hilfe. Jetztkassierte er den Dank ein. Und während der Bundeskanzler zufrieden die Mengeder vielen tausend Grimmaer Bürger überblickte, entdeckte er schließlich denvor verkannter Bedeutung vibrierenden Mann neben der Bühne. »Ach«, rief erleutselig, »da ist ja der Altministerpräsident.« Und ohne auf Milbradt zuachten, zog er dessen Vorgänger hoch aufs Podium und juchzte ins Mikrofon:»Herr Professor Biedenkopf. Oder soll ich sagen: König Kurt?« Die Mengeklatschte, Kurt Biedenkopf strahlte und überbrachte Grüße von Richard vonWeizsäcker. War das nun rührend? Zynisch? Peinlich? Gar entwürdigend? Mitgemischten Gefühlen verfolgte ich, wie der 73-Jährige dem genüsslich dieZuneigung der Menge einsammelnden Schröder nachlief. Gelegentliches Winken und Zurufe,die ihm galten, beflügelten den Promi im Ruhestand wie Aufputschpillen: Ja,auch Kurt Biedenkopf war immer noch populär. »Wie leben Sie denn so ohnePolitik?«, fragte ich ihn, als der Kanzler ihm an der Theke eines Lokals einBier bestellt hatte. Das war aber die falsche Frage. »Ich lebe doch nicht ohnePolitik«, fuhr er mich an. Was glaubte ich denn, was er mache im Flutkuratoriumund in der Deutschen Nationalstiftung, an Hochschulen, Akademien und beimBücherschreiben? Nein, dieser Mann, der sich zeitlebens so viel darauf zugutegehalten hatte, dass er in der Wirtschaft erfolgreich gewesen war, an derUniversität Karriere gemacht und als »Staranwalt« - so seine Frau - reüssierthatte, konnte von der Politik nicht lassen. Wieder einer. Seit vierzigJahren beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sieverändert, wie sie sich einmauern in Posen von Kompetenz und Zuversicht,während die öffentliche Verachtung wächst. Alle haben sie irgendwann einmal dieWelt verändern wollen, ein bisschen wenigstens, aber die meisten geraten dochalsbald in die Versuchung, ihre Wahlämter als Plattform zur Selbstbestätigung zubenutzen, sich und anderen mit ihren Privilegien Bedeutung vorzuspielen. Vielemerken gar nicht, wie sie von einem Sog erfasst werden, der ihnen immer mehräußeren Betrieb zumutet und immer mehr innere Freiheit nimmt. Meist wollen siees nicht wahrhaben. Eine Weile glaubte ich mich in meinerBeobachterposition auf der sicheren Seite - bis ich merkte, dass ich alsJournalist keineswegs nur Zuschauer war, der auf der Tribüne des Geschehens saßund cool protokollierte, sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in derpolitischen Klasse. Ich musste erst selbst eine lebensbedrohliche Kriseüberstehen, um zu begreifen, in welches Elend manche geraten, wenn sie Politikzum Beruf machen. Hans Magnus Enzensberger hat es drastisch zugespitzt: »DerEintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuß des Todes.« Mitden meisten politischen Karrieristen teilte ich einen unersättlichen Hungernach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah auch ich mich bald nicht nurauf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor der immerunangenehmer werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheiternund quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere. Ausbescheidenen Verhältnissen stammend war ich schnell weit gekommen. Miteinunddreißig Jahren arbeitete ich als dpa-Korrespondent in Washington, D.C.,1971 wurde ich Büroleiter des Spiegel in der amerikanischen Hauptstadt. Dawar damals zwar noch nicht viel zu leiten, aber zu viel für mich: Ich begann zuahnen, dass ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ichgelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiertund fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte dasinnere Gegengewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zukompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zuersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewusstlosigkeit, um meinen Aufstieg zurechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben. Das gelang mir aber erstspäter. Nun erlebte ich in Grimma ohne Überraschung die kläglicheöffentliche Macht-Ranschmeiße des Kurt Biedenkopf, der sich zwar immer alshochintelligenter Mann, aber selten als talentierter Politiker erwiesen hatte.Nie war ich dem selbstgefälligen CDU-Herren, den ich seit Anfang derAchtzigerjahre kannte, besonders nahe gekommen. Sein ruhmloser Abgang ausDresden, wo er um Ikea-Rabatte gefeilscht und sich monatelang mit»Putzfrauen«-, »Miet«- und »Yachturlaubs«-Affären herumgeschlagen hatte,erschien mir umso trostloser, als er sich kurz zuvor noch öffentlich über den verhasstenHelmut Kohl belustigt hatte, weil der - als Kanzler abgewählt und alsCDU-Ehrenvorsitzender abgesetzt - sich wie ein »Altbauer« aufführe, der nichtaufs Altenteil wolle. Mit deutlicher Herablassung hatte Kurt Biedenkopfbegründet, woher »die irrationale Unfähigkeit zum Loslassen« komme, mit der derAltkanzler seine furiose Selbstdemontage durch illegale Parteispenden in Szenegesetzt habe: Kohl habe nun einmal seit seinem 15. Geburtstag ein Lebengeführt, das auf nichts anderes als auf die Eroberung von formalenMachtpositionen ausgerichtet gewesen sei. Und nun könne er eben nicht mehrexistieren ohne Macht. Das sei wie eine Sucht. Dass Politik im»Machtrausch« enden kann, dass der Verlust einer politischen Position zu»Entzugserscheinungen« führt - das sind geläufige Redensarten inPolitikerkreisen. Schon Max Weber hatte 1919 in seiner berühmten Rede über»Politik als Beruf« davor gewarnt, dass das Machtstreben des Politikers»Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung« werden könnte. Heute hantierendie Akteure selbst locker mit Sucht-Begriffen, um die Gefahren der beruflichenVerformung zu beschreiben. Und Gerd Langguth, einst CDU-Vorstandsmitglied,Bundestagsabgeordneter und RCDS-Vorsitzender, jetzt Professor für PolitischeWissenschaft in Bonn, spricht gar von »Politoholics«, um diePersönlichkeitsveränderungen zu charakterisieren, die die »Droge Macht«auslöst. Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Politiker benutzen die Begriffeaus der Junkie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufigkeit, um ihre eigene Befindlichkeitzu beschreiben. Sie tun so, als seien die Sucht-Vergleiche bloße Metaphern,harmlose Umschreibungen für eine etwas peinliche Besessenheit. Sucht light,sozusagen. Doch wer von Drogen redet und von Sucht, der redet zugleich vonRealitätsverlust. Wenn also gerade jene Menschen Gefahr laufen, von Berufswegen ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln, denen wir durch Wahlden Auftrag erteilt haben, unser eigenes Leben, unsere persönliche Alltagsrealitätzu ordnen, zu schützen oder sogar zu verändern, dann brauchen wir uns über denbeklagenswerten Zustand der Welt nicht zu wundern. Die »Droge Politik«, hatBundespräsident Johannes Rau gewarnt, verursache eine »Sehstörung«, die er alsHauptgefahr im Leben von Berufspolitikern betrachte. Politiker neigten dazu,sagte Rau, sich so sehr an ihrer eigenen Bedeutung zu berauschen, in dem Gefühlzu schwelgen, die Welt verändern zu können, dass sie bald nicht mehrwahrnähmen, dass für andere Menschen Politik keineswegs das ganze Leben ist.Normale Bürger lesen Bücher, treiben Sport, kümmern sich um ihre Familie, habenHobbys. Der Politiker hat von morgens bis abends nur die Politik, um die sich allesdreht - sein Denken, sein Tagesablauf, seine Phantasien, alles. Rau: »Wenn derPolitiker das zu übersehen beginnt, dann politisiert er die Welt. Und weil dieRealität anders ist, verschätzt er sich in der Welt.« Auchder SPD-Politiker Rau war gegen solche Irrtümer keineswegs gefeit. Ziemlicherschrocken und empört saß er im Frühjahr 2000 - während ihm im atmosphärischenGefolge der Kohlschen Parteispenden-Affäre nachträglich angebliche Privatflügeund gesponserte Geburtstagsfeiern aus seiner Düsseldorfer Regierungszeitvorgeworfen wurden - als neu gewählter Bundespräsident im Berliner SchlossBellevue, auf dessen Dach die goldene Präsidentenfahne mit dem schwarzen Adlerflatterte. »Die Leute sagen, wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpendrinnen«, flüsterte er fassungslos Freunden zu, die ihn besuchten. Dassdie Anklagen unhaltbar waren, erwies sich schnell. Raus Wahrnehmungsstörung betrafauch eher sein neues Amt - er hatte offenbar geglaubt, als Staatsoberhaupt ausder Klasse der normalen Berufspolitiker ausgeschieden zu sein. Sonst hätte deralte politische Fahrensmann eigentlich nicht überrascht sein können, dass inder Vorstellung der meisten Deutschen die parteipolitischen Profis generell alskorrupt, oder wenigstens als latent korruptionsanfällig gelten. Und schiennicht eine unendliche Folge von Skandalen und Affären in den vergangenenJahrzehnten - eine Strauß-Lambsdorff-Barschel-Engholm-Späth-Krause-Streibl-Leisler-Kiep-Kohl-Koch-Klimmt-Biedenkopf-Möllemann-Döring-Kettevon mehr oder minder hochgespielten Anrüchigkeiten und unzweifelhaft kriminellenAkten - diesen Eindruck zu bestätigen? Politik als Beruf, hat Erhard Epplergeschrieben, gehöre nicht nur zum Gefährlichsten und Abgründigsten, woraufMenschen sich einlassen können, sondern auch zum Faszinierendsten,Spannendsten, ja Schönsten. Fast zögernd fügte der gestrenge Protestant ineiner Art verkappter Bilanz seines öffentlichen Wirkens als Abgeordneter,Minister und freier Volkstribun der Friedensbewegung hinzu: »Vielleicht istPolitik an der Grenze dessen angesiedelt, was Menschen leisten können, ohne, umes biblisch zu sagen, Schaden zu nehmen an ihrer Seele.« Das wissen die meistenziemlich genau, auch wenn sie über den selbstzerstörerischen Trend in ihrem Berufnicht reden. Sie ahnen zumindest, dass es ernst ist. Ich weiß es seit dem 9.August 1974, 12 Uhr mittags. Damals gab der 37. amerikanische Präsident,Richard Milhouse Nixon, in Washington, D.C. sein Amt an den VizepräsidentenGerald Ford ab. Die Watergate-Affäre, eine aus dem Weißen Haus gesteuerteVerschwörung zur Vertuschung krimineller Wahlkampfaktivitäten, hatte denRepublikaner eingeholt. Nixon war der erste Präsident, den Verstöße gegenseinen Amtseid zum Rücktritt zwangen. Zum letzten Mal spielte die Marine Band»Hail to the Chief«. In der Tür des Helikopters, der ihn aus dem Weißen Hausabholte, drehte sich Nixon noch einmal um und spreizte die Finger zum nungrotesk wirkenden Siegeszeichen »Victory«. Er hatte keine Schuld auf sich genommenund niemanden um Verzeihung gebeten. Er tat sich Leid. Einpaar hundert Meter entfernt hockte ich derweil am Schreibtisch desSpiegel-Büros im National Press Building und versuchte vergeblich, Nixonstrostlosen Augenblick als meinen Triumph zu genießen. Aus irgendeinem Grund warauch ich ganz allein. Sozusagen zur Belohnung für meine ausführliche undvorherschauende Berichterstattung in den Monaten zuvor sollte ich den Abgangdes US-Präsidenten in einem Namensbericht beschreiben - in jenen Jahren imHamburger Nachrichtenmagazin noch eine ziemlich ungewöhnliche Auszeichnung.Doch ich starrte auf den Fernseher, sah den krampfhaft um Haltung bemühtengedemütigten Mann und fühlte nichts. Keine Erregung, keine Erleichterung, keinMitgefühl, keinen Hass, nichts. Es war eine historische Stunde, aber dieKommentare der Fernsehkorrespondenten erreichten mich so wenig wie dieBedeutung der Bilder. Ich hörte wie durch Watte, sah wie durch Milchglas. Mein Bewusstseinschien ausgeschaltet. Heute weiß ich, dass dieser taube Augenblick einexistenzieller Tiefpunkt war, dass er eine Wende in meinem Leben einleitete,nicht nur in meinem beruflichen, aber da vor allem. Im Mai 1968 hatte ich inWashington angefangen. Da schwelten in Reichweite des Weißen Hauses noch dieTrümmer der schwarzen Ghettos, die nach dem Mord an dem farbigen BürgerrechtlerMartin Luther King explodiert waren. Monatelang passierte ich dieSicherheitskontrollen zum Amtssitz des Präsidenten, 1600, Pennsylvania Avenue,NW, mit einer Art frommem Schauder. Ich war der junge Mann aus Germany, einkaum wahrgenommener Außenseiter im legendären White House Press Corps. DenAusweis - man trug ihn an einer Kette um den Hals - empfand ich als eine ArtOrden. Auch wenn mich das Attentat auf John F. Kennedy und der schmutzige underfolglose Krieg in Vietnam erschreckt und irritiert hatten - im Grunde warenmeine positiven Vorurteile über die Vortrefflichkeit der amerikanischenDemokratie noch unerschüttert. Dann eskalierte der Vietnamkrieg, PräsidentLyndon B. Johnson, der deftige Texaner, der John F. Kennedy nachgefolgt war undden Krieg intensiviert hatte, gab auf, die Demokraten verloren die Wahl 1968. Jetztrichtete sich der Zorn der Demonstranten gegen den Republikaner Nixon, der sichfast über Nacht aus einem geschäftsmäßig kühlen Taktiker der Weltpolitik ineinen rücksichtslosen Spieler mit Menschenleben verwandelt zu haben schien.Statt, wie versprochen, den Krieg in Südostasien zu beenden, weitete er ihn aus.Dennoch wurde Nixon 1972 wiedergewählt - und das, obwohl zuvor fünf Männer, vonder Presse »die Klempner« genannt, bei einem Einbruch insWahlkampfhauptquartier der Demokraten im Watergate-Bürokomplex erwischt wordenwaren, denen eindeutig Kontakte ins Weiße Haus nachgewiesen werden konnten. Michversetzte diese Nachricht schlagartig in ein unerklärliches und unangemessenesJagdfieber. Ich war inzwischen zum Spiegel gewechselt, wo ich größerenSpielraum für Meinungsäußerungen hatte, aber mehr als eine kurzeNachrichtengeschichte über die obskure Räuberpistole hatte ich zunächst nichtzu bieten. Trotzdem sagte mir mein Instinkt, dass Nixons Leute, wenn nicht garer selbst, hinter dem klandestinen Unternehmen stecken mussten. Ichtraute dem ungeliebten Nixon, für den ich auf eine mich selbst irritierendeWeise zugleich Abscheu und Mitgefühl empfand, inzwischen allerhandVerrücktheiten zu. Irgendwie meinte ich etwas zu ahnen von den Ängsten und derunterdrückten Wut, die ihn antrieben, immer aufs Neue beweisen zu müssen, dasser, der einfache Kleinbürger aus Yorba Linda in Kalifornien - dem der Ruf einesschlüpfrigen, überehrgeizigen Opportunisten anhing - der rechtmäßig gewählteund auch befähigte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Ich warsicher, dass er scheitern würde - an sich selbst. Das blieben natürlichVermutungen. Mit seinem Einzug ins Weiße Haus war Richard Nixon sozusagen dermenschlichen Nachprüfbarkeit entrückt und zu einer abstrakten Herrschaftsfigur geworden- blutleer, aufgedonnert, schemenhaft, mehr das Image eines Präsidenten alseine kenntliche Person. Solche Enthumanisierungsprozesse, im heutigenMedienzeitalter überall üblich, gehörten schon Anfang der Siebzigerjahre zumAlltag in der politischen Weltmetropole am Potomac, dem Neuen Rom. DasThema »Watergate« entwickelte einen Sog, dem sich kaum einer zu entziehenvermochte. Ich am allerwenigsten. Meine Jagd nach Details, die Akribie meinerKenntnisse über Personen, Zeitpunkte und Formulierungen sowie die aggressiveIntensität meiner Argumentation kriegten wahnhafte Züge. Was nach außen wieprofessionelle Leidenschaft wirkte - und sich für die Berichterstattung ohneZweifel auch höchst positiv auszahlte -, empfand ich selbst immer mehr alsBesessenheit. Ich begann Richard Nixon zu hassen. Er hatte mir nicht nurendgültig meinen amerikanischen Traum von einer funktionierenden und integrenDemokratie zerstört. Er trug auch persönlich alle Merkmale deskleinbürgerlichen Aufsteigers, der sich in Positionen hochgedient hatte, denener nicht gewachsen war - so wie ich selbst. Immer zwanghafter projizierte ichmeine eigenen ungeliebten Eigenschaften auf Tricky Dick, um sie an ihm zubekämpfen.
© Blessing Verlag
Zahlreiche Veröffentlichungen, ausgezeichnet mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis.
- Autor: Jürgen Leinemann
- 2004, 490 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896671561
- ISBN-13: 9783896671561
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