Horror Vacui
Tina Uebel erzählt von...
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Tina Uebel erzählt von Strapazen, Euphorie und Eiseskälte. Und von dem verzweifelten Versuch, im äußersten Nichts der inneren Leere zu entkommen.
Auch das gibt es: einen Reiseveranstalter, der zahlungskräftigen Kunden eine professionell organisierte Grenzerfahrung verspricht - den ultimativen Südpol-Trip. Mit zwei Führern machen sich vier hochmotivierte, perfekt ausgerüstete Abenteurer auf den lebensgefährlichen Weg durch Eis, Schnee und Sturm. Die US-Amerikanerin Susan arbeitet verbissen an der Perfektionierung ihrer selbst, der Holländer Ralph will die Leere füllen, die der schnelle Reichtum in sein Leben gerissen hat, und Michael, erfolgreicher Geschäftsmann aus New York, findet die großen Herausforderungen nur noch im Extremsport. Zu ihnen stößt ein unerfahrener Enddreißiger, der aus seinem normaldeutschen Dasein ausbrechen und sich endlich wieder spüren will. Sie starten als Team, doch je weiter sie kommen, desto einsamer werden sie. Als Schneeblindheit und ein Blizzard das Vorankommen aufhalten, werden sie von ihren Geschichten eingeholt - und die Situation droht zu eskalieren.
Mit einer klaren und mächtigen Sprache vereist Tina Uebel dem Leser das Herz. Ihr raffiniert aus mehreren Perspektiven erzählter Roman zeigt, dass selbst am fernsten Punkt der Erde die Mechanismen und Werte der westlichen Zivilisation fortwirken - und dass die fürchterlichste Leere nicht draußen, sondern innen herrscht.
Horror Vacui von Tina Uebel
LESEPROBE
Hier istgar nichts. Dies ist ein grauenvoller Ort.
Im Heimstirbt Mutter. So was Ähnliches. Es sieht nicht sehr nach einer Mutter aus,schon gar nicht nach meiner Mutter. Eine Kreatur,Science-fiction, Hollywood, Dreamworks, Alpdreamworks. Gollum meets Alien. Endoskelett aus Knochenund Knorpel, mit hauchdünnem alten Fensterleder überspannt. Gekrümmt. EineAndenmumie aus einem Inkagrab. Ich summe die Titelmelodie von Indiana Jones. HalloMutter, sage ich. Mutter spuckt mich an. Könnte nett gemeint sein, wer weiß dasschon. Ich ziehe meinen imaginären Indiana Jones-Hut tiefer in die Stirn undsetze mich an ihr Bett. Ich zeige keine Angst. Indy hat nur vor SchlangenAngst, sonst nicht, aber vor Schlangen, das macht ihn so sympathisch. UnsereSchwächen machen uns authentisch. Darum sind Indy und Bruce Williserfolgreicher als, na, zum Beispiel Van Damme. Auch bei Frauen. Frauen ist daswichtig. Es ist natürlich unangemessen, am Sterbebett der Mutter an IndianaJones zu denken. Oder gar an Van Damme. Aber unsere Gespräche sind seitlängerem schon unfruchtbar. Eigentlich seit meiner Pubertät, kleiner Scherz.Unsere Dialoge ähneln sich seit Wochen. Ich: Mutter, ich bin hier. Mutter:Gnaaa. Ich: Wie geht es dir, Mutter? Mutter: Gnaaa. Ich: Ich liebe dich,Mutter. Mutter: Gnaaa. Denke, wäre meine Mutter doch Goethe. Ein kurzesletztes Aufbäumen, ein knackiges letztes Mehr Licht., und fertig ist dieLaube. Oder ein Mein Sohn, du gabst mir Kraft, durch dich werde ich weiterleben, aber das ist vielleicht zuvielverlangt. Ich setze mich an den Bettrand und zögere, sie anzufassen. Ich weißnicht, wo. Ich habe Angst, was kaputtzumachen. Ich kenne mich mit so was nichtaus. Es ist mein erstes Sterben, es ist meine einzige Mutter. Mir fehlt derVergleich. Beim ersten Kuß kann man sich noch daran halten, was man im Kinogesehen hat. Man weiß ungefähr, wie das auszusehen hat. Aber beim ersten Todist man hilflos. Im Kino wird entweder pathetisch gestorben oder komatös mitvielen Schläuchen und EKGs und Beatmungsmaschine, mit diesen Geräuschen, EKG-Piepen,Beatmungsmaschinenschnaufen. Die Option, erschossen vom Pferd zu fallen, kommtbei meiner Mutter natürlich nicht in Frage. Mutter stirbt im Pflegeheim.Lautlos. In Mutters Zimmer ist es still. Sie atmet flach und schnauft nicht.Keine Schläuche, keine Maschinen. Leichter Kackegeruch. Einige ihrer Möbel ausihrer alten Wohnung. Einige Bilder, einige Bücher, davor was von ihremSchnickschnack. Eine Entchenfamilie aus blauweißem Porzellan. So was. Um es ihrleichter zu machen, was auch immer. Damit sie sich eingewöhnt, damals, als wirnoch dachten, darauf käm's noch an. Kam's nicht. Ich bin es, Mutter, sage ichund nehme sie vorsichtig ein bißchen in den Arm. Ein Säckchen Knorpliges. IhreHaut, die leer um sie herumliegt, ist papieren, sollte rascheln, denke ich.Gnaaa, sagt Mutter und spuckt mich an. Ihr Blick geht panisch ins Leere, dahelfen wohl auch keine Entchen. Auf ihren Augen ist Haut wie auf heißer Milch. Wahrscheinlichhält sie mich für Freddy Kruger. Nightmare an Demenzstreet. Wie soll man etwas trösten, das garnicht mehr da ist? a.) So tun, als ob, b.) So tun, als ob, c.) So tun, als ob,d.) Keines der Vorhergehenden. Im Fernsehen würde ich ihr einen Kuß geben undsie dann mit ihrem Kissen ersticken, es wäre klar, daß es das ist, was siegewollt hätte, ein letzter Liebesdienst des liebenden Sohnes. Im Kino wäre sie einfacherschossen vom Pferd gefallen. In Wirklichkeit habe ich noch nie gewußt, wassie wollte. Ich wiege die Muttermumie ein bißchen und summe die IndianaJones-Melodie. Sie zittert. Offensichtlich stirbt nicht die Hoffnung, sondern dieAngst zuletzt. Eine Pflegerin schaut zur Tür herein, die ich offengelassenhabe, weil ich mich davor fürchte, mit Mutter allein zu sein. Schön, daß Sie dasind, sagt die Pflegerin, es ist eine junge plumpe mit einem ungeschminkten Gesicht,Ihre Mutter hat heute einen ihrer guten Tage, und ich möchte spontan wenigstenssie mit dem Kissen ersticken. Mutter spuckt. Sie hat meine volle Zustimmung.
Das Gefühlbeim Laufen. Dann, wenn es beginnt weh zu tun. Wenn Läufer erzählen, erzählensie vom Runner's High. Der Körper bewegt sich, der Körper rennt, als hätte ernie etwas anderes getan, als müsse er nie wieder aufhören, als wolle er niewieder aufhören. Der Kopf ist ganz klar, alles ist Selbstverständlichkeit,alles ist luzide. Ich aber schätze den Moment davor. Wenn es weh tut, wenn ichmich frage, warum ich mich quäle. Rückmeldung von Nervenenden und Muskelfasern:Laß das. Wenn ich denke, ich könnte das jetzt einfach lassen, es aber nichttue. Weiterrenne, eine Kraftanstrengung, als wäre mein Körper ein schwererWagen, den ich eine 15%-Steigung hinaufschieben müßte. Ein Kampf ich gegenmich. Von dem ich weiß, daß ich ihn gewinne. Wahrscheinlich ist es das, was ichdaran schätze. Ich laufe dreimal die Woche, jeweils zwanzig Kilometer. DreiRunden. Im Park. Nach der zweiten Runde beginnen sich die Dinge aufzulösen. Dashat eine gewisse Richtigkeit.
(...)
© 2004 byVerlag Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Tina Uebel
- 2005, 270 Seiten, Maße: 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462034596
- ISBN-13: 9783462034592
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